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A. E. van VOGT
An meine Leser
(Einleitung zu Welt der Null-A)

van VOGT und die AS
Null-Axiome
"Um keinen Zweifel daran zu lassen, wo ich bei dieser Kontroverse stehe - in Null-A-Erzählungen charakterisiere ich die Identität selbst."

In Ihren Händen halten Sie einen der umstrittensten - und erfolgreichsten - Romane der gesamten Science Fiction-Literatur.

In diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich von einigen der Erfolge berichten und außerdem schildern, wie die wichtigsten Kritiker auf "Welt der Null-A" reagiert haben. Lassen Sie mich Sofort hinzufügen, daß Sie keine verbissene Rechtfertigung lesen werden. Ich habe im Gegenteil beschlossen, die Kritik ernstzunehmen. Dementsprechend habe ich diese Ausgabe überarbeitet und diejenigen Erläuterungen eingefügt, die mir bis jetzt immer unnötig erschienen waren.

Bevor ich mich den Attacken zuwende, möchte ich rasch auf die Erfolge zu sprechen kommen.

"Welt der Null-A" war der erste Science Fiction-Roman, der nach dem 2. Weltkrieg von einem großen Verlagshaus (Simon & Schuster, 1948) in einer gebundenen Ausgabe herausgebracht wurde.

Das Buch wurde vom  Manuscripters Club  ausgezeichnet und vom Bibliotheksverband des Bezirks New York unter die hundert besten Romane des Jahres 1948 aufgenommen.

In Frankreich hat JAQUES SADOUL, Herausgeber der Reihe "Editions OPTA", erklärt, daß die Veröffentlichung von "Welt der Null-A" den französischen Science Fiction-Markt im Alleingang ins Leben gerufen hat. Von der ersten Ausgabe sind über 25.000 Exemplare verkauft worden. SADOUL hat versichert, ich sei 1969 immer noch - was die Zahl abgesetzter Exemplare angehe - der populärste Science Fiction-Autor in Frankreich.

Die Veröffentlichung des Romans steigerte das Interesse für Allgemeine Semantik. Studenten strömten zum Institut für Allgemeine Semantik in Lakewood, Connecticut, um Graf ALFRED KORZYBSKI zu hören - der sich seinerseits bei der Lektüre von "Welt der Null-A" fotografieren ließ. Damals eine Wissenschaft, die noch in den Kinderschuhen steckte, wird Allgemeine Semantik heute an Hunderten von Universitäten gelehrt.

Der verstorbene Graf ALFRED KORZYBSKI hat Allgemeine Semantik in seinem berühmten Buch "Science and Sanity" als übergreifende Bezeichnung für nicht-aristotelische und nicht-newtonische Denkansätze definiert. Lassen Sie sich von den zungenbrecherischen Begriffen nicht ins Bockshorn jagen. Nicht-aristotelisch heißt im Gegensatz zu der Denkweise, der sich die Anhänger des ARISTOTELES fast 2000 Jahre lang verschrieben hatten. Nicht-newtonisch verweist auf die EINSTEINschen Grundzüge unseres Universums, von denen die Wissenschaft heute ausgeht. Non-A oder Null-A stehen als Kürzel für nicht-(non)aristotelisch. Von daher die Titel "World of Null-A" sowie, im Original, "Players of Null-A".

Allgemeine Semantik befaßt sich damit, was Bedeutungen bedeuten. In diesem Sinne handelt es sich um eine Metalinguistik, die die Sprachwissenschaft zugleich einschließt und überschreitet. Der Grundgedanke Allgemeiner Semantik lautet, daß es, um die Bedeutung, die wir Worten geben, zu erfassen, der Berücksichtigung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens bedarf, das als Filter wirkt.

Infolge der Grenzen, die seine nervliche Ausstattung ihm setzt, ist der Mensch lediglich imstande, die Wahrheit teilweise, niemals aber gänzlich zu erkennen. Zur Beschreibung dieser Schranken hat KORZYBSKI den Begriff "Abstraktionsleiter" geprägt. So, wie er den Ausdruck "Abstraktion" verwendet, haftet ihm nichts Überhöhtes oder Symbolisches an. Er bedeutet "abstrahieren von", das heißt, einen Teil vom Ganzen abtrennen. KORZYBSKIs Annahme lautet, daß wir, wenn wir einen Naturvorgang beobachten, lediglich einen Ausschnitt zu abstrahieren - mit anderen Worten, wahrzunehmen - vermögen.

Wäre ich ein Schriftsteller, der nur die Überlegungen eines anderen wiedergegeben hätte, dann wären mir daraus wahrscheinlich keine Probleme mit meinen Lesern erwachsen. Und ich denke auch, daß ich in meinen Null-A-Romanen das Gedankengut der Allgemeinen Semantik so geschickt präsentiert habe, daß die meisten Leser mir die Darstellung abgenommen und darin weiter kein Problem gesehen haben. Ich muß aber zugeben, daß es mir als Verfasser darüber hinaus um ein Paradoxon ging, das mir tiefgründiger schien.

Seit EINSTEINs Relativitätstheorie sind wir mit dem Konzept des Beobachters vertraut, der - so heißt es - bei allen Aussagen berücksichtigt werden muß. Sooft ich dieses Konzept mit Leuten erörtert habe, konnte ich beobachten, daß sie nicht fähig waren, seine Tragweite zu erfassen. Sie schienen sich den Beobachter als eine Art algebraischer Einheit vorzustellen. Wer er war, spielte keine Rolle.

In den Naturwissenschaften wie Chemie oder Physik waren die Methoden so genau, daß die Person des Beobachters scheinbar tatsächlich nicht ins Gewicht fiel. Japaner, Deutsche, Russen, Katholiken, Protestanten, Hindus und Engländer gelangten zu denselben unfehlbaren Schlußfolgerungen, unter anscheinender Überwindung persönlicher, ethnischer oder religiöser Vorurteile. Jeder, mit dem ich sprach, war sich aber klar darüber, daß in dem Augenblick, in dem Angehörige dieser verschiedenen Nationalitäten oder Konfessionen sich auf Geschichtsschreibung verlegen würden, bei jedem einzelnen eine andere "Geschichte" herauskäme.

Wenn ich oben davon gesprochen habe, daß dies "scheinbar" in den Natur-, den "exakten" Wissenschaften, wie sie häufig genannt werden, nicht zu Buche schlägt, dann sieht es in Wahrheit auch dort anders aus. Die Fähigkeit jedes einzelnen Wissenschaftlers, Vorgänge von der Natur zu abstrahieren, wird durch die Gehirnwäsche eingeschränkt, die er im Elternhaus und bei seiner Ausbildung erhalten hat. "Er schleppt seine eigene Geschichte mit", würde der Semantiker sagen - und zwar in jedes Forschungsvorhaben. Ein von der Schule her oder von Hause aus flexiblerer Physiker löst deshalb ein Problem, das die Fähigkeiten eines anderen Physikers (zu abstrahieren) übersteigt.

Kurz gesagt, der Beobachter ist immer und muß immer "Ich" sein - eine bestimmte Person.

Folglich erfährt am Beginn von "Welt der Null-A" der Held des Romans, GILBERT GOSSEYN, daß er nicht der ist, der er zu sein meint. Er besitzt ein Selbstverständnis, das nicht zutrifft.

Nun überlegen Sie bitte - analog gilt das für uns alle. Nur sind wir der Unrichtigkeit so weit erlegen, haben uns mit unserer begrenzten Rolle so sehr abgefunden, daß wir sie überhaupt nicht mehr in Zweifel ziehen.

... Um mit der Handlung von "Welt der Null-A" fortzufahren: Obwohl er nicht weiß, wer er ist, wird mein Protagonist allmählich mit seiner "Identität" vertraut. Was im Grunde heißt, daß er von den Geschehnissen, die sich zutragen, einen bestimmten Sinn abstrahiert und zuläßt, daß die Ereignisse Macht über ihn gewinnen. Und alsbald will ihm scheinen, der Teil seiner Identität, den er abstrahiert habe, sei das Ganze.

Demonstriert wird das im zweiten Roman: "Die kosmischen Schachspieler". in dieser Fortsetzung weist Gilbert Gosseyn alle Versuche zurück, jemand anderer zu sein. Weil er jedoch in diesem Bereich (der Identität) nicht bewußt abstrahiert, bleibt er bloß ein Bauer auf dem Schachbrett. Für jemanden, der sich dadurch enge Grenzen setzt, indem er sich mit dem identifiziert, was man den Geräuschpegel des Universums nennen könnte, ist zwar die Welt reich und bunt, nicht aber er selbst. Seine Identität scheint überhaupt nur von Belang, weil sie eine enorme Zahl von Einwirkungen registriert, die der Umwelt entstammen.

Die Summe aller Abstraktionen Gosseyns von seiner Umwelt - einschließlich der Selbstwahrnehmung seines eigenen Körpers macht seine Erinnerung aus. Ich habe also in diesen Erzählungen die Überlegung thematisiert, daß Erinnerung gleichzusetzen ist mit Identität. Ich habe das aber nicht ausgesprochen. Ich habe es in eine dramatische Handlung umgesetzt.

Zum Beispiel: Am Ende des ersten Drittels von "Welt der Null-A" findet Gosseyn einen gewaltsamen Tod. Am Anfang des nächsten Kapitels steht er wieder vor uns, anscheinend dieselbe Person, aber in einem anderen Körper. Weil er über die Erinnerungen des vorangehenden Körpers verfügt, akzeptiert er die Identität.

Ein umgekehrtes Exempel: Am Ende der Fortsetzung "Die kosmischen Schachspieler" tötet der Hauptwidersacher, der an eine bestimmte Religion glaubt, seinen Gott. Diese Tatsache ist zu unerträglich für ihn, als daß er ihr gegenübertreten könnte; darum muß er sie vergessen. Um aber ein so fundamentales Geschehnis aus seinem Bewußtsein verdrängen zu können, darf er sich an nichts von dem, was er jemals gewußt hat, noch erinnern. Er vergißt, wer er ist.

Kurz gesagt: Erinnerungsfortfall bedeutet Identitätsverlust.

Wenn Sie "Welt" und "Schachspieler" lesen, werden Sie feststellen, wie konsequent diese Vorstellung zugrundegelegt und - nun, da Ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist - wie präzis sie entwickelt wird.

Ich wüßte im Augenblick keinen Science Fiction-Roman zu nennen, der vor "Welt der Null-A" erschienen wäre und eine tiefere Bedeutung besessen hätte als jene, die für alle ersichtlich zutage lag. Science Fiction-Erzählungen wirken oft schon dann, wenn sie ohne versteckte Anspielungen oder subtile Hinweise auf mehr als einer Ebene verfaßt sind, derart kompliziert, daß es geradezu herzlos anmutet, wenn ein Autor noch eine weitere, verborgene Dimension hinzufügt. Ein neueres Beispiel für einen solchen, auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelten Roman bildet die erste Science Fiction-Erzählung, die der britische Existenzphilosoph COLIN WILSON unter dem Titel "The Mind Parasites" verfaßt hat und deren Protagonist einer der  neuen  Menschen - eben ein Existentialist - ist.

"Welt der Null-A" haben wir den Null-A- (nicht-aristotelischen) Menschen, der abgestuft denkt anstatt in Schwarz-Weiß Klischees - ohne deswegen zum Rebellen, zum Zyniker oder zum Verschwörer in irgendeiner gängigen Auffassung dieser Begriffe zu werden. Nur einige Schritte weiter auf diesem Weg in den kommunistischen Hierarchien, in Asien und Afrika überhaupt, in Wall Street und im tiefen Süden der USA - und wir hätten in absehbarer Zeit einen fortschrittlichen Planeten.

In jüngster Zeit hat die Streitfrage der Charakterzeichnung Science Fiction-Schriftsteller erheblich beschäftigt. Einige Autoren haben sogar den Eindruck vermittelt, nur ihre Science Fiction besäße diese unbezahlbare Eigenschaft.

Um keinen Zweifel daran zu lassen, wo ich bei dieser Kontroverse stehe - in Null-A-Erzählungen charakterisiere ich die Identität selbst.

Wichtiger als jeder Streit zwischen einem Schriftsteller und seinen Kritikern aber scheint mir, daß die Allgemeine Semantik auch heute noch eine sinnvolle Botschaft für die Welt bereithält.

Haben Sie vielleicht in den Zeitungen gelesen, wie S.I. HAYAKAWA 1968/69 mit den Unruhen am San Francisco State College fertiggeworden ist? Es handelte sich um eine der frühesten und ernstesten Hochschulrevolten - außer Kontrolle geraten und gefährlich. Der Collegepräsident trat zurück. HAYAKAWA wurde zu seinem Interimsnachfolger ernannt. Was tat er? Nun, Professor HAYAKAWA ist gegenwärtig niemand anderer als "Mr. Null-A", der gewählte Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Allgemeine Semantik. Er ging den Tumult in der sicheren Erkenntnis an, daß das Schlüsselwort unter solchen Umständen "Kommunikation" heißt. Kommunikation aber muß die Regeln einkalkulieren, nach denen sich die andere Seite richtet.

Die begründeten Forderungen derer, die echte Beschwerden vortrugen, wurden von jemandem, der auf Besseres sann, unverzüglich übererfüllt. Die Verschwörer dagegen wissen heute noch nicht, was ihnen widerfuhr und weshalb sie ihren Auftrieb einbüßten.

Nichts anderes trägt sich in "Welt der Null-A" zu, der Fabel von GILBERT GOSANE.

Zusatzbemerkung (1974)
In der voranstehenden Fortsetzung meines Romans "Welt der Null-A" findet sich eine Idee, auf die der Leser vielleicht nicht so sehr achten mag, wie ich mir wünschen würde.

Ich meine damit die Gesellschaft, die ohne Staat auskommt, wie sie auf der nicht-aristotelischen Venus existiert. Davon war schon in "Welt der Null-A" die Rede, aber dort galt sie mehr als fernes, höchstes Ziel, ein Traum, ein Preis, um den Männer und Frauen rangen, die sich entsprechend vorbereiteten und ihre Ausbildung unter Beweis stellen mußten, bevor sie dorthin gelangten.

Worauf will er damit hinaus? Mag man sich fragen. Für nicht wenige Völker war im Laufe dieses halben Jahrhunderts der Welt grandiosester Traum, an den heute Russen und Chinesen millionenfach glauben und den zu verwirklichen sie hoffen, das kommunistische Ideal des Absterbens jedweder Regierungstätigkeit. Mit anderen Worten: eine Gesellschaft ohne Staat.

Als ich mir in den Erzählungen von der Welt der Null-A die entlegene Utopie der Venus ausgedacht habe, schwebte mir vor, diese faszinierende Möglichkeit unauffällig auszuloten. Vor allem interessierte mich dabei, was unter solchen Umständen aus Ihnen und mir werden würde, was für Menschen wir wären, falls dieser Traum sich verwirklichen sollte.

Ich war bereits zweimal achtzehn Jahre alt, als der voranstehende Roman zum erstenmal erschien, und seine Veröffentlichung bedeutete für mich den Abschluß meiner Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Semantik, einem nicht-aristotelischen nicht-euklidischen, nicht-newtonschen Gedankengebäude. Im selben Jahr trat ich der International Society for General Semantics bei, deren Sitz sich damals in San Francisco befand. Ich gehöre ihr immer noch an, aber zu meinen Schlüssen bin ich 1948 gelangt, und ich habe sie in diesem zweiten Null-A-Roman zu Beginn jedes Kapitels zusammengefaßt.

Mit Erlaubnis meiner Leser möchte ich unterstellen, daß der jeweilige Kapitelvorspann ihnen noch nicht gereicht hat, um sich eine Meinung über meine Gesellschaft ohne Staat zu bilden. Deshalb will ich versuchen, mich verständlicher zu machen. Um einen solchen Traum - das Verschwinden jeglicher Regierung -zu begreifen, müssen wir vor allem die Menschen prüfen, die uns umgeben, und erforschen, wie sie sich heute in eine Welt ohne Staaten einzufügen vermöchten.

Eine mir bekannte Frau ist letztes Jahr von ihrem achtzehnjährigen Sohn geschlagen worden. Das scheint inzwischen nicht mehr außergewöhnlich. Ein anderer jugendlicher desselben Alters beleidigt täglich seine Mutter grob und droht ihr mit Schlägen (er hat seine Drohung noch nicht wahrgemacht). Offenbar ist das gängig. Viele Freunde haben es mir bestätigt.

Das, was sich im Kopf von Heranwachsenden, Jungen oder Mädchen, die erstmals achtzehn werden, abspielt, dürfte sich infolgedessen auf einen erheblichen Teil der Bevölkerung auswirken. Zu Anfang des Jahrhunderts hatte LENIN noch voller Hoffnung darauf hingewiesen, daß eine beträchtliche Zahl von Leuten derart entfremdet - in der Tat ein treffendes Wort! - existierte.

Sofern wir nicht schon über den deprimierenden Beweis des Gegenteils verfügten, könnten wir uns eine künftige kommunistische Gesellschaft als eine Art patriarchalischer Genossenschaft vorstellen, in der jeder für die Allgemeinheit arbeitet. Jeder wird wöchentlich entlohnt, deckt sich in den Geschäften, die Kollektiveigentum sind, mit dem Nötigen ein und kehrt in seine Wohnung zurück, die gleichfalls der Gesellschaft gehört.

Was uns allen Anlaß zur Beunruhigung gibt, ist der Umstand, daß während der 30er Jahre mehrere Millionen Menschen, die in eben dieser  Genossenschaft  lebten und in Verdacht gerieten, nicht für die Allgemeinheit arbeiten zu wollen, in die Verbannung, geschickt, mit einem Wort, getötet wurden.

Dieser selbe sowjetische Staat, der eine unübersehbare Zahl von Menschen ihres Lebens beraubt hat, ist es, der eines Tages verschwinden soll.

Welche Änderungen müßten wohl im menschlichen Verhalten eintreten, damit es dazu kommen könnte?

Neulich wollte ich eines Abends, nachdem ich einen Freund besucht hatte, wieder in meinen Wagen steigen, aber irgend jemand hatte direkt neben mir geparkt, und weil sowohl vor wie auch hinter mir andere Wagen standen, steckte ich völlig fest. Ich mußte eine Stunde warten (die Polizei habe ich nicht gerufen, und in einer Gesellschaft ohne Staat gäbe es ohnehin keine Polizei), bis der Wagen vor mir wegfuhr und ich meinerseits aufbrechen konnte. Vorher hatte ich dem Schuldigen einen Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt und ihn mit freundlichen Worten auf seine Ungeniertheit hingewiesen. Später erzählte nur mein Freund, daß er vom Fenster aus beobachtet hatte, wie der Fahrer, ein noch sehr junger Mann, meinen Zettel hervorgezogen, ihn ohne zu lesen zusammengeknüllt und weggeworfen hatte und gelassen davongefahren war.

Würde dieser junge Mann, oder sein kommunistischer Widerpart, in meiner Gesellschaft ohne Staat mehr Rücksicht an den Tag legen?

Auf diese Frage mit einem einfachen Ja oder Nein zu antworten, wäre sicherlich anmaßend. Ich bezweifle sehr, daß irgend jemand im Hinblick auf einen derart kontroversen, derart mystischen Traum auch nur das geringste  beweisen , kann. Dennoch hat ein Aktivist mir vor kurzem wortwörtlich geschrieben: "Die Welt muß befreit werden, die Anarchie zur Macht gelangen ... und wenn Sie der Lösung nicht zustimmen, sagt HUEY NEWTON, dann sind Sie selbst ein Teil des Problems ... "

Der Traum existiert also weiter in den Vorstellungen dieser jungen, zu jeder Gewalttat bereiten Leute als Rechtfertigung für die bis zum äußersten getriebene Vehemenz, mit der sie jede Gesellschaft attackieren und bekämpfen, die noch nicht den einfachen genossenschaftlichen Aufbau aufweist, wie sie ihn herbeisehnen ... sie attackieren und bekämpfen, bis alles zusammenbricht.

Falls es Ihnen gelingen sollte, sich von HUEY NEWTON, dem Anführer der Black Panther, und seinem Verhalten in der Gesellschaft ohne Staat ein vorteilhaftes Bild zu machen, dann sind Sie ein harmloserer und vertrauensvollerer Mensch als ich. Von HUEY heißt es, sein Naturell vertrage sich schon heute mit einer repressionsfreien Gesellschaft. Für einen Anhänger der Allgemeinen Semantik verrät er sich jedoch durch sein  Schwarz-Weiß-Denken , das in dem Satz zum Ausdruck kommt: "Wenn Sie der Lösung nicht zustimmen, dann sind Sie selbst Teil des Problems." In der Semantik nennt man das eine Aussage vom  entweder-oder -Typ. Abgestuftes Denken kommt für NEWTON nicht in Frage. Er weiß - ohne daß es in seinen Augen eines Beweises bedürfte.

Menschen, die in  entweder-oder -Kategorien denken (entweder du tust dies, oder ... ), haben seit grauer Vorzeit ihresgleichen gefoltert. Am schlimmsten finde ich, daß die Zeitgenossen weder die Vernunft noch das Urteilsvermögen eines STALIN, HITLER oder MAO TSE TUNG in Frage stellen, während diese zwischen 30 und 60 Millionen Menschen umbringen. Selbst heute, nachdem an ihren Untaten nicht der geringste Zweifel bestehen kann, werden immer noch Rechtfertigungen für diese Massenmörder feilgeboten.

Bei meinen Gesprächen mit politischen Aktivisten habe ich festgestellt, daß sie - läßt man alle großen Worte und alle zur Schau getragenen Leidenschaften beiseite - letztlich nur eine einzige Idee haben: das tun zu können, was sie wollen.

Davon ausgehend, möchte ich nur ein oder zwei verstiegene Vermutungen erlauben:

Bei einem entfremdeten Menschen ist das Ausleben des Genußtriebs niemals durch die Lebenserfahrung eingeschränkt worden. Er verspürt ein unwiderstehliches Verlangen nach sofortiger Befriedigung seiner Bedürfnisse. Bei den Männern erfährt die  Macho-Haltung  eine anomale Ausprägung; Frauen verkaufen sich ihrerseits an vermögende Männer, um im Luxus zu leben und ihr Ego zu befriedigen.

Wenn ich diese knappe Analyse skizziere, geschieht das nicht, um dem Leser einzureden, ich verfügte bereits über eine Lösung, sondern nur, um darauf hinzuweisen, daß die Beseitigung der Entfremdung und mit ihr der Welt, die zu schaffen sie uns gezwungen hat, die Erkenntnis des zugrundeliegenden Problems voraussetzt. Das ist eine Überlegung, zu der die Allgemeine Semantik anregt.

Man kann die begründete Ansicht vertreten, daß bis zum heutigen Tage Regierungen existieren, weil die Menschen eben so und nicht anders beschaffen sind. Niemand hat eines schönen Morgens beschlossen, eine Polizeitruppe aufzustellen oder Gesetzen zur Geltung zu verhelfen. Vielmehr führt das Stadium der menschlichen Geschichte, dank der Neugier, die Anthropologen und andere Wissenschaftler an den Tag gelegt haben, zu dem betrüblichen Resultat, daß jede ethnische Gruppe sich schon vor Zeiten gegen ihre entfremdeten Angehörigen geschützt hat, um zu vermeiden, daß die wertvollsten Männer umgebracht und die Frauen geschändet wurden. Nach und nach wurde diese Aufgabe Einheiten zugewiesen, die besonders dafür ausgebildet waren und die am Ende zu der Hydra beitrugen, der wir uns inzwischen gegenübersehen.

Die Frage wird dadurch nicht einfacher, daß heute tatsächlich tiefgreifende Veränderungen vonnöten wären. Die Menschen und die Völker müßten gleichen Anteil an den Schätzen des Planeten erhalten. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

Um Gleichheit unter den Menschen zu verwirklichen, genügt es jedenfalls nicht, daß eine Gruppe zorniger junger Leute auftritt, die letzten Endes doch nur von denen betrogen wird, die größere Erfahrung mit Gerissenheit verbinden. In  Roter Stern über China  berichtet EDGAR SNOW daß MAO TSE TUNGs Rebellenarmee 1934 zu über 70 % aus jugendlichen unter 15 Jahren bestand. Wer will uns glauben machen, daß diese Kinder das Problem gelöst hätten, indem sie ganz logisch zu dem Schluß gelangt wären, die Lösung bestünde darin, sich hinters Licht führen zu lassen?

MAO wußte, was er tat; als Beweis mag der Umstand dienen, daß er später versucht hat, seinen einstigen Erfolg zu wiederholen, indem er in seinem Kampf um die Macht die 13 oder 14 Jahre alten Roten Garden auf seine ehemaligen Genossen losließ. Wir sind über die Einzelheiten der verworrenen Vorgänge nicht im Bilde, aber es sieht so aus, als hätte MAO mit Hilfe dieser Kinder den Sieg davongetragen. Waren sie die Betrogenen? Spätere Nachrichten lassen vermuten, daß die Garden aufgelöst und die jungen Kämpfer in Arbeitslager gesteckt, oder soweit sie Widerstand leisteten, hingerichtet worden sind.

Wie steht es mit den Aussichten dafür, daß Herrschaftsstrukturen verschwinden könnten, die abgebrühte Mörder wie MAO geschaffen haben? Und was vermag die nicht-aristotelische Methode der Allgemeinen Semantik zur Schaffung der vollkommenen Gesellschaft beizutragen, von der alle Menschen, ob jung oder alt, träumen?

Auf die erste Frage möchte ich antworten, daß der Ablauf der Zeit uns eine Informationsquelle an die Hand gibt. Im Falle der sowjetischen Herrschaftsstruktur können wir beobachten, daß ihre Funktionäre und Parteigänger besser speisen, häufiger und bequemer reisen, in angenehmeren Behausungen leben, weniger schwer arbeiten und sich einer beträchtlichen Aufwertung ihres Ichs erfreuen. Wir können außerdem wahrnehmen, daß sie restriktive Vorschriften erlassen und daß der sowjetische Durchschnittsbürger sich hüten wird, gegen ihre Privilegien zu protestieren - andernfalls riskiert er, getreu den Methoden des Zarenregimes oder der 30er Jahre verbannt, das heißt nach Sibirien geschickt zu werden - ein System, das die Kommunisten, bevor sie an die Macht gelangten, heftig angeprangert und als unmenschliche Grausamkeit gebrandmarkt haben. Die chinesischen Machthaber genießen dieselben Privilegien.

Inzwischen zähle ich dreimal achtzehn Jahre, und ich stelle fest, daß seit dem letzten Mal Einsicht und Vernunft kaum Fortschritte gemacht haben.

Der Versuch, die Mängel an Vernunft aufzulisten, wäre müßig und langweilig. Deshalb möchte ich mich auf den schlichten Hinweis beschränken, daß ich mit den "Kosmischen Schachspielern" die unglaubhafteste und weltentrückteste Erzählung im Laufe eines Lebens voller phantastischer Träume geschrieben habe.

Und doch lassen sich hinter der haarsträubenden Spekulation die Konturen einer Gesellschaft ohne Staat erkennen, mitsamt den Erfordernissen, deren es zu ihrer Existenz bedürfte. In erster Linie müßten sich dafür Menschen finden, die von Berufs wegen anstehende Probleme zu lösen verstünden, die sich nicht selbst Genüsse gönnen würden, die sie anderen verweigern, und die im übrigen ganz und gar  unentfremdet  wären.

Ich denke, daß diese Anforderungen allen Aktivisten, die ich kenne, Tür und Tor versperren und die Hierarchien aller kommunistischen Staaten dieser Erde ausschließen würden.

Um welchen Preis wäre eine solche Gesellschaft ohne Staat zu haben? Die Antwort liefert meinen Lesern ein Blick auf die nicht-aristotelische Venus - jedesmal, wenn der Planet am Himmel steht.
LITERATUR, A. E. van Vogt, Welt der Null-A, München 1986