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ALFRED BRUNSWIG
Das Vergleichen
und die Relationserkenntnis

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"Wenn ich zwei Farbflecken oder zwei verschieden große Linien unmittelbar vor mir habe, erlebe ich unter bestimmten Bedingungen häufig einen Zustand, den ich nur so bezeichnen kann, daß ich sage: Ich sehe unmittelbar, daß beide Farben ähnlich sind bzw. daß von beiden Linien B größer ist als A; ich erschließe die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit nicht aus etwas anderem, sondern schaue sie selbst an, gleichsam von Angesicht zu Angesicht."

"Verhältnisse überhaupt keine sinnlichen Inhalte wie Farben und Töne. Ähnlichkeit zwischen Blau und Violett ist nicht etwas an Blau oder an Violett sinnlich Greifbares nichts räumlich oder zeitlich zwischen ihnen Empfindbares, sondern eben jene von allen sinnlichen Empfindungsinhalten grundwesentlich verschiedene Beziehung, die zwischen beiden Farben waltet, die ich unmittelbar erfassen und insofern wahrnehmen kann. Ich kann zwar rein sinnlich eine Farbe sehen, die einer neben ihr liegenden ähnlich ist, aber nicht rein sinnlich die Ähnlichkeit sehen, noch dies, daß sie jener ähnlich ist, diesen Sachverhalt. Beziehungen sind weder optische noch akustische usw. Inhalte, sondern, als fundierte Inhalte, Gegenstände eigenartiger Erlebnisakte und, wenn man will, eines neuen Sinnes, der durch alle anderen hindurchgreift."

"Als Wahrnehmung bezeichne auch ich dieses unmittelbare Innewerden einer Beziehung nur insofern, als ich jedes Gegenstandsbewußtsein, in dem der Gegenstand sich als selbst direkt erfaßt und gegenwärtig darstellt, Wahrnehmung nenne."


B. POSITIVER TEIL
Die Relationswahrnehmung als letzte
Grundlage der Vergleichsurteile


10. Das Wesen der unmittelbaren
Relationserkenntnis abstrahiert
am Simultanvergleich.

Wir gingen im Bisherigen von einem speziellen Problem aus, das nur der Sukzessivvergleich uns aufgab: Wie ist es möglich, über das Verhältnis zweier nacheinander erfaßter Objekte ein sicheres und richtiges Urteil zu fällen, wenn im Moment der Urteilsbildung nur mehr das letzte Vergleichsobjekt gegenwärtig ist?

Wir fanden, daß weder die Gedächtnisbildtheorie noch die Lehre von den Nebeneindrücken noch auch die These der Mittelbarkeit all dieser Urteile eine befriedigende Lösung dieser Frage zu geben vermag. Vielmehr setzten alle derartigen Urteilsfaktoren als sekundäre schon eine direkte Relationserkenntnis auch für sukzessive Inhalte voraus. Gegen deren Möglichkeit aber bestanden schwerwiegende Bedenken, da eine direkte Verhältniswahrnehmung simultan wahrgenommene Glieder zu erfordern schien. Eben darum strebte man auch immer, den Sukzessivvergleich irgendwie auf den Simultanvergleich zurückzuführen, wobei letzterer keiner Klärung bedürftig zu sein schien.

Wir werden dagegen, wie ich glaube, ein wirkliches Verständnis der Urteilsbildung auch beim Sukzessivvergleich nur dann gewinnen, wenn wir das Wesen der direkten Verhältniserkenntnis überhaupt untersuchen, und zwar tun wir das am Besten da, wo ihr Vorhandensein unbestritten und bedenkenfrei erscheint, d. h. bei simultan gegebenen Vergleichsobjekten.

Wir fassen daher zunächst den Zustand des unmittelbaren Relationsbewußtseins gegenüber simultanen Inhalten ins Auge, z. B. das unmittelbare Bewußtsein der Ähnlichkeit, bzw. Verschiedenheit, das wir im Anschauen zweier nebeneinander gesehener Farbflecken oder Linien erleben. Mit Recht hebt EBBINGHAUS hervor, daß man über dem Studium der zu diesem Zustand führenden Vergleichstätigkeiten meist verabsäumte, ihn selbst näher zu untersuchen. Mit experimentellen Mitteln ist das freilich nicht zu machen, sondern nur auf dem Weg einer phänomenologischen Analyse.

Diese Analyse ergibt zunächst zweierlei:
    1. Die im Urteil behaupteten Verhältnisse sind in diesem Zustand selbst und direkt wahrgenommen.

    2. Die wahrgenommenen Verhältnisse sind keine sinnlichen Inhalte derart, wie meist ihre Fundamente, und nicht in einem solchen schlicht sinnlichen Akt wahrgenommen, wie jedes der letzteren.
1. Wenn ich zwei Farbflecken oder zwei verschieden große Linien unmittelbar vor mir habe, erlebe ich unter bestimmten Bedingungen häufig einen Zustand, den ich nur so bezeichnen kann, daß ich sage: Ich sehe unmittelbar, daß beide Farben ähnlich sind bzw. daß von beiden Linien B größer ist als A; ich erschließe die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit nicht aus etwas anderem, sondern schaue sie selbst an, gleichsam von Angesicht zu Angesicht. Die behauptete Beziehung ist hier als Selbstgegebenes erfaßt, die Meinung des Urteils findet im Gehalt dieser Wahrnehmung ihre volle Erfüllung, soweit das Urteil nicht etwas Transzendentes mit meint. In solchen Erlebnissen liegt die letzte Grundlage für solche Begriffe wie: ähnlich, größer an Länge, heller usw.

Wir müssen also diesen Zustand unmittelbarer Relationserkenntnis als "Wahrnehmung" bezeichnen, indem wir - mit HUSSERL - als Wesen des Wahrnehmungserlebnisse im erweiterten Sinn betrachten, daß sich in ihnen etwas als selbst gegenwärtig darstellt. Es findet also in diesem Zustand eine Relationswahrnehmung, eine Wahrnehmung von Ähnlichkeit dieser Farben, des Größerseins dieser Linie usw. statt.

Insofern ihm eine direkte Wahrnehmung zugrunde liegt, bildet daher auch die Gewißheit des Urteils, das ihr Ausdruck gibt, hier kein Problem.

2. Verhältnisse sind in diesem Zustand zwar selbst wahrgenommen, aber doch nicht mit denselben Sinnen, wie ihre Fundamente, sondern in neuen und eigenartigen Akten. Damit treten wir in Gegensatz zu einer verbreiteten z. B. von EBBINGHAUS vertretenen Ansicht, nach der wir es nicht nur selbst und direkt "sehen", daß z. B. Rot und Grün verschieden sind, sondern nach der wir dies auch mit demselben Sinn sinnlich sehen, der uns Rot und Grün zeigt.

Aber einmal sind Verhältnisse überhaupt keine sinnlichen Inhalte wie Farben und Töne. Ähnlichkeit zwischen Blau und Violett ist nicht etwas an Blau oder an Violett sinnlich Greifbares nichts räumlich oder zeitlich zwischen ihnen Empfindbares, sondern eben jene von allen sinnlichen Empfindungsinhalten grundwesentlich verschiedene Beziehung, die "zwischen" beiden Farben waltet, die ich unmittelbar erfassen und insofern wahrnehmen kann. Ich kann zwar rein sinnlich eine Farbe sehen, die einer neben ihr liegenden ähnlich ist, aber nicht rein sinnlich die Ähnlichkeit sehen, noch dies, daß sie jener ähnlich ist, diesen Sachverhalt. Beziehungen sind weder optische noch akustische usw. Inhalte, sondern, als "fundierte" Inhalte, Gegenstände eigenartiger Erlebnisakte und, wenn man will, eines neuen Sinnes, der durch alle anderen hindurchgreift. Kann ich doch, wie ja schon PLATO und ARISTOTELES betonen, auch Beziehungen zwischen Inhalten verschiedener Sinne wahrnehmen, z. B. daß Süß und Weiß verschieden, eventuell daß tiefe Töne und dunkle Farben ähnlich sind. Der Sinn, der dies erkennt, ist ihnen nicht einer der Spezialsinne, sondern der sensus communis [gesunder Menschenverstand - wp], das Bewußtsein.

Der Zustand der Verhältniswahrnehmung ist ferner offenbar ein neues Erlebnis gegenüber der Wahrnehmung des Simultankomplexes ihrer Glieder. Zwei Inhalte zusammen wahrnehmen, die in einer Beziehung stehen, heißt noch lange nicht, diese Beziehung wahrnehmen. Aufgrund desselben Komplexes sind noch ganz verschiedene Relationswahrnehmungen möglich; ich kann z. B. ebensogut wie ich "sehe", daß Linie B länger ist als A, sehen, daß sie rechts von ihr liegt, d. h. eine Raumrelation statt eines Steigerungsverhältnisse wahrnehmen. Und auch die reziproke Wahrnehmung, daß A kürzer ist als B werden wir als eine von den ersten verschiedene Beziehungswahrnehmung erkennen.

In diesem letzteren Fall ist es, wie ich meine, klar, daß die Verschiedenheit der beiden demselben anschaulichen Komplex gegenüber möglichen Beziehungswahrnehmungen auf einer Verschiedenheit gewisser geistiger Aufmerksamkeitsakte beruth, durch die in einem Fall die größere, im anderen die kleinere der beiden Strecken bevorzugt wird.

Das bedeutet darauf hin, daß das Erlebnis der Beziehungswahrnehmung überhaupt ein von geistigen Akten wesentlich mit abhängiger Zustand ist.

Jedenfalls aber ist es ein eigenartiges und dem schlichten Zusammenwahrnehmen sinnlicher Inhalte gegenüber ursprüngliches Erlebnis. Wir verstehen daher auch, warum eine rein sensualistische, nur nach sinnlich greifbaren Inhalten ausspähende Psychologie bei ihrer Beobachtung immer nur sinnliche Nebeneindrücke, nie aber so etwas wie eine wahrgenommene Beziehung als Urteilsgrundlage vorzufinden weiß. Mit einer solchen Einstellung könnte man bis zum jüngsten Tag im Bewußtsein herumsuchen, ohne eine unmittelbare sukzessive Unterschiedswahrnehmung zu entdecken. Für simultane Glieder gibt man sie dann nur deshalb zu, weil man sie mit deren sinnlichem Zusammenwahrnehmen verwechselt, obwohl auch hier das Erfassen des Unterschieds zu diesem Zusammenwahrnehmen des Verschiedenen als ein neuer Akt hinzutritt.

Beziehungen kann man also zwar nicht mit dem rein sinnlichen Auge sehen, aber doch sich ihres Vorhandenseins so unmittelbar bewußt sein, daß wir in Betonung dieser Unmittelbarkeit mit Recht von Beziehungswahrnehmungen reden dürfen, vorausgesetzt, daß wir Wahrnehmung nicht bloß als sinnliches Erfassen sinnlicher Objekte verstehen, sondern in einem weiteren Sinn als unmittelbares Erfassen von Objekten überhaupt.

Ein solches unmittelbares Erfassen gibt es aber eben für die Gegenstände "höherer Ordnung", die wir Beziehungen nennen, zumindest wenn beide Glieder wahrgenommen sind.

3. Wir kommen nun in unserer Analyse des Zustands des unmittelbaren, wahrnehmungsartigen Bewußtseins einer Relation zwischen simultan gegebenen Gliedern zu einer weiteren wichtigen Frage. Wie verhält sich hier das Bewußtsein der Beziehung zur Wahrnehmung der Glieder dieser Beziehung, und zwar im Erlebnis der Beziehungswahrnehmung selbst?

Schließt hier dieses Bewußtsein der Beziehung die streng gleichzeitigen Wahrnehmungen ihrer Glieder in sich ein als notwendiges Bestandsstück?

Ich meine, es ergibt sich hier Folgendes: Das Beziehungsbewußtsein hat die Beziehung z. B. der Ähnlichkeit, und zwar nicht der Ähnlichkeit überhaupt, sondern eben dieser zwei wahrgenommenen Farben hier zum Gegenstand. Als Ähnlichkeit dieser zwei Farben ist mir die erfaßte Ähnlichkeit im Erfassen selbst unmittelbar charakterisiert, und es gilt offenbar für jedes Relationsbewußtsein von Wahrnehmungscharakter, daß in ihm selbst die Relation als eine zweier bestimmter Objekte unmittelbar charakterisiert ist. - Aber auch als eine zweier im Moment des Relationsbewußtseins streng gleichzeitig wahrgenommener Objekte?

Nein! Im bloßen Gehalt des Relationsbewußtseins liegt das jedenfalls noch nicht. Unmittelbar erfaßt ist in ihm nur die als Beziehung bestimmter Objekte charakterisierte Beziehung, nicht notwendig sind es auch diese Objekte selbst, zumindest nicht, falls es möglich ist, daß uns eine Beziehung als wahrgenommen und als Beziehung zweier bestimmter Objekte charakterisiert sein kann ohne Mitwahrnehmung dieser zwei Objekte. Die Relationswahrnehmung enthält also zwar notwendig eine "Richtung" auf beide Relationsglieder, es ist aber noch nicht selbstverständlich, daß in diesem Erlebnis selbst auch die Wahrnehmung beider Glieder gleichzeitig mitgegeben sein muß. Wir werden vielmehr sehen,, daß schon bei der Wahrnehmung nur des einen Relationsgliedes ein Relationsbewußtsein von vollem Wahrnehmungscharakter eintreten kann, während das andere Glied nur als Zielpunkt eines "Richtungsbewußtseins" gegeben ist.

Um diesen schwierigen Zusammenhang zu klären, betrachten wir den feineren phänomenologischen Bau der Relationswahrnehmung gegenüber simultanen Gliedern.

Sehen wir etwa die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zweier auf einer Fläche aneinandergrenzenden Farben, so gehört zum Beziehungsbewußtsein nicht bloß die rein sinnliche Gegenwart dieses zweifarbigen Stückchens meines Gesichtsfeldes, sondern zugleich richten sich im Beziehungsbewußtsein geistige Akte auf beide Farben, welche eben die erfaßte Beziehung als die dieser zwei aus dem sinnlichen Komplex herausgehobenen Elemente charakterisieren. Im Zustand der Relationswahrnehmung liegt nicht bloß ein blödes Empfinden eines Gemenges sinnlicher Inhalte vor, sondern Akte der Aufmerksamkeit sind in die schlichte sinnliche Wahrnehmung eingeflochten, Akte, welche aus jenem Gemenge die zwei Elemente heraussondern, die durch die Beziehung vereinigt erscheinen. Diese Akte scheinen gleichsam von der erfaßten Beziehung nach zwei Richtungen auf die wahrgenommenen Beziehungsglieder hin auszustrahlen.

Man darf solche Bewußtseinsakte freilich nicht schon deshalb leugnen, weil geistige "Akte" der sensualistischen Psychologie widerstreiten. Mit der Pinzette herauslösen läßt sich dergleichen allerdings nicht.

Es ist also im Moment der Beziehungswahrnehmung zumindest bereits der Anfang einer analysierenden Zersetzung des sinnlichen Wahrnehmungsfeldes durch geistige Akte gegeben, wie sie nachher das aus der Beziehungswahrnehmung resultierende Urteil: "Diese zwei Farben (die ih da und dort sehe) sind ähnlich" deutlich zum Ausdruck bringt. In diesem Urteil richten sich ja klar gedankliche Meinensakte auf die zwei sinnlich wahrgenommenen Farben, die das Urteil somit gleich geistig sondert, auseinanderhält und durch die Beziehung verknüpft. Im Keim aber liegt, wie gesagt, dies schon in der Beziehungswahrnehmung vor. In gewissem Sinn ist also allerdings auch die Wahrnehmung von Gegenständen höherer Ordnung selbst "höherer" Ordnung. HUSSERL spricht daher auch bei fundierten Inhalten, wie es Relationen sind, von "kategorialer" Anschauung.

In anderer Hinsicht möchte ich jedoch für diese durchaus einfachen, oft von selbst eintretenden, passiven Erlebnisse derartige Ausdrücke ablehnen, zumal sie leicht zu später zu untersuchenden Irrtümern verleiten. Die einfache "Gleichheits"wahrnehmung steht jedenfalls noch auf niederer Stufe, als die komplizierte Wahrnehmung eines "Sachverhalts", der dem gegliederten, auch prädikative Beziehungen enthaltenden Urteil darüber Erfüllung bietet, also als die Wahrnehmung "dessen, daß zwei Objekte gleich sind", und analog bei den anderen Beziehungen. Wir müssen wohl zwischen der einfachen Wahrnehmung einer Relation, die dem Relationsurteil zugrunde liegt, und der "kategorialen Anschauung", welche dem formulierten Urteil Erfüllung geben würde, überall noch unterscheiden. Es sind demnach hier zwei Extreme zu vermeiden, sowohl die Ansicht, welche die Relationswahrnehmung mit der schlicht sinnlichen Wahrnehmung des Komplexes verwechselt, zwischen dessen Gliedern die Relation besteht, als auch jene Theorie, welche aus den einfachen Relationswahrnehmungen bereits etwas ganz Hohes und Kompliziertes macht. Die erstere Ansicht übersieht, daß die Wahrnehmung, welche einem Relationsurteil zugrunde liegt, auch eine Erkenntnis der Relation enthält; die letztere Theorie verwechselt die dem Urteil zugrunde liegende Relationswahrnehmung mit einer dem vollendeten Urteil als Erfüllung entsprechenden Wahrnehmung. Die einfache Wahrnehmung der Ähnlichkeit zweier Farben steht doch der schlichten Wahrnehmung etwa eines Rots noch näher als der gegliederten Wahrnehmung dessen, daß ein Gegenstand rot ist, dieses Sachverhalts, die wirklich eine kategoriale Anschauung im Sinne HUSSERLs ist.

4. Betrachten wir nun des Näheren das Verhältnis der in der Relationswahrnehmung auf die simultanen Glieder gerichteten Akte.

Wir müssen hier zwei wesentlich verschiedene Typen des unmittelbaren Relationsbewußtseins unterscheiden.

Man kann nämlich z. B. die Ähnlichkeit zweier gleichzeitig gesehener Farben erfassen
    1. als Beziehung, die gleichsam mitten zwischen beiden Farben schwebt und waltet;

    2. als etwas, das nur der einen Farbe zukommt, freilich sofern sie mit beziehender Rücksich auf die andere betrachtet wird.
Im ersten Fall spricht man einfach von der zwischen den Farben A und B bestehenden Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, im zweiten Fall dagegen von Bs Ähnlichkeit mit A, wie von etwas nur diesem B Eigentümlichen und Zukommenden. Das sind Redeweisen, in denen sich wesentlich verschieden gebaute Relationswahrnehmungen bekunden. Ich kann eine Relation sowohl als "schwebend" zwischen beiden Glieder erfassen, wie auch als etwas dem einen Glied vorzugsweise Anhaftendes.

Wir erkennen leicht den Zusammenhang dieser zwei verschiedenen Typen der Relationswahrnehmung mit der Verschiedenartigkeit der auf die Relationsglieder gerichteten Akte.

Obwohl nämlich im gedachten Fall beide Relationsfundamente, z. B. beide Farben, sinnlich dem Bewußtsein gleichzeitig gegenwärtig sind, sind sie doch bei beiden Typen in ganz verschiedenem Grad geistig gegenwärtig und nahe.

Erfasse ich eine Ähnlichkeit als schwebend zwischen zwei Farben, so ist mir die Beziehung eigentlich und direkt geistig gegenwärtig, die Farben dagegen als Endpunkte, Fundamente dieser Beziehung, und als solche stehen beide in ganz gleichem Maß der geistigen Beachtung nah und fern. Kein Glied ist vorzugsweise beachtet; die erfaßte Beziehung scheint auf beiden Fundamenten mit gleichem Gewicht zu ruhen.

Ganz anders dagegen, wenn ich die Wahrnehmung mache, daß Farbe B ähnlich ist der Farbe A. Hier weilt im Moment der Relationswahrnehmung die geistige Aufmerksamkeit mit Vorzug auf B; nur auf B richtet sich ein selbständiger Akt der Beachtung; A, obwohl sinnlich noch gegenwärtig, fällt außerhalb des Feldes selbständiger Beachtung; nur mittelbar, von der erfaßten Relation aus, richtet sich ein Akt auf A, der die bei B erfaßte Relation eben als eine Ähnlichkeit Bs mit A charakterisiert. Das Bewußtsein der Beziehung aber baut sich auf auf den Akt der Betrachtung des B; die Beziehung scheint ausschließlich auf dem einen Fundament B zu ruhen, nur auf B sich zu stützen, während auf A hin nur ein "Richtungsbewußtsein" besteht. Daß A auch noch sinnlich gegenwärtig ist, erscheint im fertigen Zustand dieses Relationsbewußtseins ziemlich bedeutungslos, und nur den phänomenologischen Bau des fertigen Zustands, noch nicht seinen genetischen Aufbau, wollen wir einstweilen betrachten.

Wir erkennen nun weiter, daß der zweite Typus der Relationswahrnehmung, bei dem ein Glied vorzugsweise beachtet ist, für gewisse Relationsarten sogar der einzig mögliche ist.

Ähnlichkeit wie Verschiedenheit kann ich auch als schwebend zwischen zwei Objekten erfassen; Steigerung (als Relation) dagegen offenbar nicht; gegenüber zwei simultan gesehenen verschiedenen hellen Farben gewinne ich nur dann das Bewußtsein "heller", wenn ich mit der geistigen Aufmerksamkeit auf der helleren B verweile; betrachte ich dagegen vorzugsweise A, so mache ich die Wahrnehmung: "dunkler"; beiden Farben zusammen kommt gleichmäßig jedoch nur zu, daß sie Glieder einer Verschiedenheitsrelation sind.

Steigerungswahrnehmungen enthalten also wesentlich und notwendig eine einseitige Bevorzugung des einen Gliedes durch die geistige Aufmerksamkeit. Nur einem von zwei Relationsgliedern gegenüber kann ich das Bewußtsein: größer, heller, schwerer usw. haben; beiden zugleich gegenüber nur das: verschieden, ähnlich, gleich. Insofern in ihnen nur das eine Glied selbständig geistig beachtet ist, sind es "eingliedrige" Relationswahrnehmungen. Auf das andere Glied besteht eine Richtung, insofern es eben das andere Beziehungsglied der an dem einen erfaßten Relation ist.

Es ist also nicht bloß ein anderer Ausdruck derselben Sachlage, wenn man von zwei verschieden großen Strecken A und B einmal urteilt: B ist größer als A; das andere Mal: A ist die kleinere Strecke, sondern diesen verschiedenen Urteilsausdrücken liegen verschiedene Relationswahrnehmungen zugrunde, die mit der vorzugsweisen Beachtung der einen oder der anderen Strecke in Zusammenhang stehen.

5. Wir lenken nun unseren Blick auf den genetischen Aufbau des Relationsbewußtseins bei simultanen Objekten, mit dem wir die Beschaffenheit des fertigen Zustands nicht verwechseln dürfen.

Den fertigen Zustand der Relationswahrnehmung müssen wir als ein passives Erlebnis bezeichnen, in dem uns die Relation selbst gegenwärtig ist, und zwar entweder als gleichmäßig auf beiden Gliedern fundierte oder als dem vorzugsweise beachteten Hauptglied anhängend.

Diese Relationswahrnehmung kann nun aus einer zeitlich früheren Vergleichstätigkeit hervorgehen oder aber ohne solche "von selbst" als erstes eintreten.

Die Erfahrung zeigt, daß wir uns häufig in den Zustand einer Relationswahrnehmung hineingeraten finden, ohne uns einer vorangehenden Vergleichstätigkeit bewußt zu sein. Vielmehr ist oft das Bewußtsein einer Ähnlichkeit usw. der erste Eindruck, den wir gegenüber zwei zufällig zusammen gesehenen ähnlichen Objekten erleben, und erst die Ähnlichkeit läßt uns auch selbständig unsere Aufmerksamkeit den ähnlichen Dingen einzeln und nacheinander zuwenden, die uns anfangs nur als Fundamente der erfaßten Relation bewußt waren.

In anderen Fällen gehen wir dagegen umgekehrt von den Gliedern der Relation als selbständigen Einzelobjekten aus, die wir nacheinander gesondert betrachten, und zwar mit oder ohne Absicht, ihre Beziehung zu erfassen, worauf dann eventuell plötzlich die Wahrnehmung ihres Verhältnisses eintritt.

In diesem Fall fundiert also genetisch die Relationswahrnehmung auf den beiden Sonderwahrnehmungen der Glieder; im fertigen Erlebnis aber brauchen diese Sonderwahrnehmungen nicht mehr als solche vorhanden zu sein, vielmehr sind dann wie vorhin entweder beide Objekte als Beziehungspunkte der Relation bewußt, oder nur das eine ist noch direkt beachtet und trägt als Hauptglied die Beziehung. Dies ist dann zumeist das zuletzt wahrgenommene Objekt. Bei ihm verweilt noch die Aufmerksamkeit, und in seiner Betrachtung konstituiert sich die Wahrnehmung seines Verhältnisses zu dem vorher wahrgenommenen Objekt als ein neues, zu dieser schlichten Wahrnehmung hinzutretendes Relationserlebnis.

Hier ist also in der Tat die sukzessive Wahrnehmung beider Objekte Veranlassung des Eintritts eines Relationsbewußtseins und die Richtung in der Abfolge dieser Wahrnehmungsakte von meist entscheidender Bedeutung für die Form der eintretenden Relationswahrnehmung: die Relation erscheint zumeist als eine dem zuletzt erfaßten Objekt mit Rücksicht auf das andere zukommende Eigenschaft.

Wir finden also bezüglich des genetischen Aufbaus der Relationswahrnehmung bei simultanen Objekten Folgendes:

Die Relationswahrnehmung kann hier als erstes eintreten ohne eine vorangehende Sonderwahrnehmung der Glieder. Nur eine atomistisch von getrennten Einzelobjekten ausgehende Psychologie braucht überall erst Sonderakte und eine sie zur Einheit zusammenfassende besondere Vergleichstätigkeit, in Wahrheit aber sind im psychischen Leben vielfach Beziehungswahrnehmungen das Erstgegebene, in denen die Einzelobjekte nur mitgegeben sind. Wir finden also vielfach in Beziehungswahrnehmungen zwei getrennte Objekte als durch die Beziehung schon vereinigt vor, brauchen sie nicht erst durch unsere Tätigkeit zu vereinigen.

Wo aber Sonderwahrnehmungen der Glieder und eine Vergleichstätigkeit dem Beziehungsbewußtsein vorangeht, da sind auch bei sinnlich simultanen Objekten diese Akte getrennt nacheinander erfolgende.

Die Gleichzeitigkeit der sinnlichen Gegenwart zweier Inhalte wird dann durch den Vergleich in ein Nacheinander für die geistige Beachtung umgewandelt, so daß auch bei simultanen Objekten in Wahrheit der Vergleich immer ein Sukzessivvergleich ist. Eine solche Vergleichstätigkeit führen wir nun besonders bei wenig verschiedenen Objekten aus, um genauer ihr Verhältnis zu erfassen. Wenn wir etwa zugleich in jeder Hand ein Gewicht heben, uns also die Schwereeindrücke gleichzeitig gegenwärtig sind, so gehen wir doch zum Zweck einer genaueren Relationserkenntnis mit der Aufmerksamkeit nacheinander von einem Gewicht zum andern, bis wir endlich einem zuletzt so erfaßten Gewicht gegenüber das bestimmte Bewußtsein haben: "schwerer, bzw. leichter als das andere"; ein Bewußtsein, das wir als Relationswahrnehmung vom zweiten Typus bezeichnen müssen, da es auf die vorzugsweise Beachtung des einen Objekts aufgebaut erscheint. Es ist dabei ein großer Unterschied, ob ich den Eindruck gewinne: "das Gewicht in der rechten Hand ist schwerer", oder den: "das links ist leichter", obwohl natürlich objektiv beides nur zwei Ausdrücke desselben Tatbestandes sind. Subjektiv aber liegen dann zwei verschiedene Relationswahrnehmungen vor. Daher erhellt die Wichtigkeit der Freigabe der Urteilsrichtung bei psychologischen Experimenten, um die Art des zugrundeliegenden Eindrucks zu erkennen.

Letzte unmittelbare Grundlage des Relationsurteils bei simultanen Objekten ist also die Relationswahrnehmung, die von selbst oder infolge gewisser Akte eintritt. Diese Anschauung der Relation zweier simultan gegenwärtigen Objekte ist aber weder identisch mit deren Zusammenwahrnehmen, noch schließt sie ein solches notwendig ein. Der sinnlichen Gleichzeitigkeit zweier Inhalte entspricht keineswegs eine mit der Relation gleichzeitige und bei beiden gleichwertige geistige Präsenz derselben. Beachtet ist vielmehr nur das eine von beiden Objekten, während auf das andere nur im Zustand der Relationswahrnehmung oft nur mehr eine "Richtung" hinzielt. Die These von der strengen Bewußtseinssimultaneität zweier Objekte im Zustand der Relationswahrnehmung ist also schon für simultan gegebene Objekte unrichtig, insofern sie behauptet, daß in jenem Zustand auch beide Relationsglieder gleichzeitig und gleichwertig beachtet werden.

Dieses für uns besonders wichtige Resultat steht im Gegensatz zu Ansichten, die sehr weit verbreitet und mit theoretischen Gründen besonders von MEINONG verfochten worden sind. Man stützt sich hier immer auf die Natur der Relationen als fundierter Inhalte und hält es für evident, daß auch die Wahrnehmung einer Relation nur auf gleichzeitiger Wahrnehmung ihrer Fundamente fundieren kann. Allein das ist eine Scheinevidenz. Daraus, daß eine Relation nur zwischen ihren Gliedern besteht, folgt nur, daß der Relationswahrnehmung die erfaßte Relation sich auch als eine zwischen zwei Gliedern bestehende unmittelbar darstellen muß; mehr aber nicht; nicht, daß sich auch beide Glieder als gleichzeitig wahrgenommen darstellen müssen. Und das ist empirisch, wie gezeigt, selbst dann nicht notwendig der Fall, wenn beide Glieder wirklich der Wahrnehmung gegeben sind. Man darf sich nur nicht durch die sinnliche Gleichzeitigkeit der Inhalte über ihre nicht gleichzeitige und nicht gleichwertige Beachtung täuschen lassen.

Gewissen Relationswahrnehmungen (denen vom 2. Typus) ist es sogar wesentlich, einseitig nur ein Glied zu beachten; dazu gehören alle Steigerungserlebnisse. Gesonderte Akte der Beachtung beider Glieder mögen genetisch fundierend sein, - obwohl sie auch das nicht notwendig sind, - im fertigen Erlebnis haben sie keine notwendige Stelle mehr.

Diese Erkenntnis des phänomenologischen Wesens der Relationswahrnehmung bei simultanen Gliedern wird uns nun auch ein Verständnis der Urteilsgrundlage beim Sukzessivvergleich ermöglichen.

LITERATUR: Alfred Brunswig, Das Vergleichen und die Relationserkenntnis, Leipzig und Berlin 1910