Ernst CassirerAdolf LassonFriedrich Frederichs | |||
(1837-1890) Drei Grundfragen des Idealismus [ 2 / 2 ]
Zweiter Artikel II. Vom Unterschied zwischen der normalen und der empirischen Natur der Dinge 1. Einleitende Bemerkungen Der Begriff von der normalen Natur der Dinge ist das Grundgesetz und die Norm unseres Denkens, welche in den Sätzen der Identität und des Widerspruchs ihren Ausdruck findet. Derselbe ist darum auch selbstverständlich, unmittelbar gewiß. Aber trotzdem daß dieser Begriff selbstverständlich ist, ist der eigentliche Sinne desselben sehr schwer zu verstehen. Wäre dies nicht der Fall, so würde es auf philosophischem Gebiet keine wesentliche Meinungsverschiedenheit geben können. Dies mag paradox erscheinen, wird aber weiter unten seine natürliche Erklärung finden. Das Grundgesetz unseres Denkens sagt aus, daß ein jeder Gegenstand mit sich selbst identisch sein soll. Nun leugnet zwar niemand, daß sich das von selbst versteht, aber man glaubt, daß damit gar nichts Erhebliches über die Natur der Dinge ausgesagt, daß dieser Satz auf alle Gegenstände ohne Unterschied anwendbar und im Grunde eine bloße Tautologie ist. Darauf bemerke ich zunächst Folgendes: Um mit sich selbst identisch zu sein, dazu gehört eben, daß man ein wahrhaft eigenes Wesen, ein wahres "Selbst" besitzt. Auch das, wird man zugeben, ist etwas Selbstverständliches, und in der Tat besagen die beiden Ausdrücke: ein eigenes Wesen haben und mit sich selbst identisch sein, im Grunde dasselbe. Aber, wird man fragen, wo gibt es denn Gegenstände, welche kein ihnen eigenes Wesen besitzen? Solche Gegenstände sind wir selbst und alles, was uns sonst in der Erfahrung vorkommt. Die hochwichtige und merkwürdige Tatsache ist eben dies, daß kein Gegenstand der Erfahrung ein ihm wahrhaft eigenes Wesen besitzt, und - da das eigene Wesen der Dinge eben das normale Wesen derselben ist - daaß die empirische Natur der Dinge nicht die normale ist. Aber die Gegenstände der Erfahrung sind zugleich so eingerichtet, daß sie uns ein eigenes Wesen zu haben scheinen, daß sie unser Bewußtsein über ihre Beschaffenheit täuschen. Das ist der Grund, warum der eigentliche Sinn unseres Denkgesetzes, trotzdem daß derselbe selbstverständlich, in der Tat so schwer zu verstehen ist. Durch die erwähnte Täuschung wird man verhindert, einzusehen, daß zwischen dem Sinn unseres Denkgesetzes und der gegebenen Beschaffenheit der Dinge ein Gegensatz besteht, und glaubt darum, daß die positive Aussage unseres Denkgesetzes auch von den empirischen Gegenständen gilt. Aber das Bewußtsein dieses Gegensatzes ist trotz der natürlichen ihn derdeckenden Täuschung doch unter den Menschen schon längst vorhanden, ja ist so alt, wie die philosophische Reflexion selbst. Und in der Tat, wie könnte es anders sein? Während die Aussage unseres Denkgesetzes selbstverständlich ist, ist die empirische Beschaffenheit der Dinge so weit entfernt, selbstverständlich zu sein, daß sie vielmehr von jeher für den Menschen ein Rätsel bildet. Darum ist auch, wie PLATON und ARISTOTELES treffend bemerkt haben, die Verwunderung über die gegebene Beschaffenheit der Dinge der Anfang aller Philosophie. Diese Verwunderung ist eben nichts anderes, als das dämmernde Bewußtsein davon, daß die gegebene Beschaffenheit der Dinge mit der Norm, die wir in unserem Denken tragen, nicht übereinstimmt. Allein wie weit ist es noch von diesem dämmerndem Bewußtsein bis zu klaren Einsicht in die Sache! Von jeher hat man das Richtige geahnt, aber dasselbe stets in Formeln ausgesprochen, welche den eigentlichen Sinn der Sache nicht zum Ausdruck bringen. So sind auch in unserer vom Empirismus beherrschten Zeit unter den Empiristen selbst die besonneneren bereit, zuzugeben, daß wir die eigentliche "Essenz" der Dinge, oder wie man auch sagt, das Wesen der Dinge ansich nicht erkennen. Allein wie könnte man die Dinge von ihrer eigenen Essenz unterscheiden? Was sind die Dinge ohne ihre Essenz? Indem man zugibt, daß wir die Essenz der Dinge nicht erkennen, sagt man damit aus, - freilich ohne es zu wissen - daß wir wirkliche Dinge, im Sinne unseres Begriffs von einem Ding, gar keine erkennen. So ist es auch schon längst ausgesprochen worden, daß die Gegenstände der Erfahrung bloße "Erscheinungen" sind. Ja, einige Philosophen des Altertums haben sogar die ganze empirische Welt für einen bloßen Schein erklärt. Die wahre Tatsache ist die, daß die Gegenstände der Erfahrung kein wahrhaft eigenes Wesen besitzen, mit anderen Worten, abnorm sind, und eben infolge ihrer Abnormität ohne den Schein nicht bestehen können, welcher sie der Vorstellung oder dem Bewußtsein als normal geartete Dinge vorspiegelt. Wegen dieser innewohnenden Notwendigkeit, einem Bewußtsein zu erscheinen, kann man in der Tat die Objekte der Erfahrung mit Recht "Erscheinungen" nennen. Es handelt sich also darum, den klaren Nachweis zu führen, daß die Objekte der Erfahrung kein wahrhaft eigenes Wesen besitzen, und zu zeigen, wie das wahrhaft eigene Wesen der Dinge im Unterschied dazu beschaffen ist. Eine Farbe, ein Ton, ein Geschmack sind etwas Wirkliches, aber man nennt dieselben nicht Dinge, sondern Qualitäten. Was ist damit eigentlich gemeint und gesagt? Man meint, daß diese nicht sich selber, sondern einem anderen Ding angehören; eine Qualität ist die Qualität von etwas anderen als sie selbst. Aber was nicht sich selbst, sondern einem anderen Ding eigen ist, das hat eben kein wahrhaft eigenes Wesen, das ist mit sich selbst nicht wahrhaft identisch. Somit ist die Tatsache konstatiert, daß es überhaupt etwas Wirkliches gibt, was kein wahrhaft eigenes Wesen besitzt. Wenn nun gefragt wird, warum die Empfindungsqualitäten, wie ein Ton, eine Farbe und andere, nicht selbst für Dinge gehalten werden, oder mit anderen Worten, warum denselben wahre Identität abgesprochen wird, so zeigt sich als Grund dafür Folgendes: Die Empfindungen sind 1) flüchtig und 2) von Bedingungen abhängig. Sie kommen und gehen, entstehen und vergehen fortwährend und sowohl ihr Entstehen wie ihr Verschwinden ist durch Bedingungen bewirkt, welche nicht in ihnen selbst, sondern außer ihnen liegen. Denn was durch Bedingungen bewirkt oder erzeugt wird, was ein bloßes Produkt ist, dessen Wesen ist eben ein erborgtes, entlehntes, also ihm nicht wahrhaft eigen. Ein Produkt ist in jedem Augenblick nur das, wozu es gemacht wird; wechseln die Bedingungen, so wechselt auch ihr Produkt oder es tritt an die Stelle desselben ein anderes ein. Wie hätte also ein Produkt ein ihm wahrhaft eigenes Wesen, ein wahres "Selbst" aufzuweisen? Nur dann kann gesagt werden, daß etwas ein ihm wahrhaft eigenes, ein ureigenes Wesen besitzt oder mit sich selbst identisch ist, wenn dessen Wesen unabhängig von allem anderen außer ihm selbst und also auch unentstanden ist. Das wahrhaft eigene Wesen eines Dings ist aber nicht bloß unentstanden, sondern auch unveränderlich. Denn wenn etwas seine Beschaffenheit ändert, so beweist es eben dadurch faktisch, daß dieselbe von ihm trennbar, also ihm nicht wahrhaft eigen gewesen ist. Was sich ändert, das bleibt eben sich selbst nicht gleich, besitzt also keine wahre Identität mit sich. (1) Die Existenzweise eines wirklichen, der Norm in unserem Denken entsprechenden Gegenstandes, oder mit anderen Worten, die normale Existenzweise der Dinge ist also ein beharrliches, unveränderliches Sein, im Gegensatz zu allem bloßen Geschehen. Ein wirkliches Ding geschieht nicht, sondern ist. Dagegen ist die Existenzweise all desjenigen, was nicht ist, sondern nur geschieht, eine abnorme. (2) Nun glauben wir in der Erfahrung Dinge zu erkennen, welche eben diese normale Existenzweise haben, welche unentstanden, unvergänglich und in ihrem Kern unveränderlich sind, nämlich zumindest die Körper oder die ursprünglichen Bestandteile der Körper, egal ob man dieselben als Atome oder sonst als Monaden denkt. Aber auch unser Ich oder Selbst erscheint uns im Selbstbewußtsein als ein solches normal geartetetes Ding. Uns selbst können wir zwar nicht wohl für unentstanden und unvergänglich halten, aber wir glauben doch ein eigenes Wesen, eben ein Selbst zu besitzen, - wir sind ja dieses Selbst - ein Gegenstand zu sein, der nicht fließt, sondern in seinem Kern beharrlich und zu verschiedenen Zeiten numerisch derselbe ist. Tatsache ist dagegen, - und an dieser Einsicht hängt alles - daß es in dieser Welt gar keine im oben erörterten Sinn beharrlichen Dinge gibt; die Existenzweise der Objekte der Erfahrung ist vielmehr durchgängig ein bloßes Schweben und Geschehen. Was uns in denselben als ein beharrliches, unveränderliches Sein erscheint, ist in Wahrheit ein fortwährendes Neuerstehen. Dies gilt ebensowohl von den Objekten der äußeren wie der inneren Erfahrung, ebensowohl von den Körpern wie von unserem ich. Was die Körpter anbetrifft, so habe ich schon in meinem früheren Artikel bewiesen, daß dasjenige, was wir als Körper wahrnehmen (sehen, betasten usw.), in Wahrheit nichts anderes als der Inhalt unserer Sinnesempfindungen ist, welche stets kommen und gehen. Das wird durch Tatsachen erhärtet, welche schlechterdings keinen Zweifel an der Sache zulassen. Wenn es auch wirkliche äußere Dinge gäbe, so würden dieselben bei unserer Frage gar nicht in Betracht kommen. Denn wirkliche äußere Dinge können kein Gegenstand unserer Wahrnehmung und Erfahrung sein; was wir wahrnehmen und erfahren, ist allein der Inhalt unserer Empfindungen, und eben dieser erscheint uns als eine Welt von Körpern im Raum (3). Dieses Erscheinen ist, wie schon früher hervorgehoben wurde, nur dadurch möglich, daß die Empfindungen von Natur dementsprechend eingerichtet sind, in einer solchen Ordnung und nach solchen Gesetzen auftreten, welche ihre Flüchtigkeit vor dem Bewußtsein verbergen, in den wechselnden Empfindungen den Schein einer Welt beharrlicher Außendinge vorspiegeln. Jetzt will ich noch näher zeigen, daß was uns als ein ruhiges, beharrliches Sein der Dinge erscheint, in der Tat ein fortwährendes Neuentstehen ist. Stellen wir uns vorerst auf den Standpunkt der Erfahrung oder des gewöhnlichen Bewußtseins. Alle Körper, die wir erkennen, sind teilbar, alle Körper, die wir erkennen, sind also bloße Zusammensetzungen von Bestandteilen. Aber Bestandteile, welche nicht ursprünglich, ihrem eigenen Wesen nach eins sind oder einen Gegenstand ausmachen, können nur durch Ursachen zusammengeführt und beisammen erhalten werden. Das Bestehen einer Zusammensetzung ist darum ein beständiges Neuentstehen. Denn die Wirksamkeit einer Ursache ist ein Vorgang, welcher stets erneuert werden muß; eine ruhende Ursache ist nicht denkbar, das Ruhende kann keine Wirkungen hervorbringen. So sehen wir dann, daß der Zustand jedes Körpers, egal ob derselbe hart, flüssig oder gasförmig ist, durch Einflüsse bedingt ist, welche stets erneuert werden müssen, um denselben unverändert zu erhalten, deren Nachlassen sofort eine Veränderung des von ihnen bewirkten Zustandes zur Folge hat. Um einen harten Körper unverändert zu erhalten, muß die stets wirkende Kohäsion [Zusammenhang - wp] seiner Teile unverändert bleiben. Sobald die Kohäsion durch Erwärmung oder andere Ursachen modifiziert wird, ist auch der Zustand des Körpers nicht mehr derselbe. Um einen gasförmigen Körper unverändert zu erhalten, muß das Gleichgewicht zwischen der inneren Expansion und dem äußeren Widerstand erhalten bleiben, und so in allen Fällen. was uns als ein ruhiges Beharren erscheint, ist also in der Tat ein beständiges Neuentstehen, das Sein der Körper ist in Wahrheit ein bloßes Geschehen.
Wenn ich einen ruhenden Gegenstand unverwandt ansehe, so nehme ich keine Veränderung an demselben wahr. Lange Zeit hindurch kann es mir scheinen, daß ich etwas Ruhendes, Beharrendes vor mir in der Wahrnehmung habe. Die Wissenschaft lehrt jedoch, daß, um diesen scheinbar ruhigen Anblick zu ermöglichen, fortwährend Lichtstrahlen auf den Gegenstand fallen und von demselben in mein Auge zurückgeworfen werden müssen, daß also das scheinbar ruhige Sein in Wahrheit ein bloßes Geschehen ist. Und in der Tat ist dasjenige, was ich faktisch (als einen Körper außer mir) sehe, wie es experimentell bewiesen worden ist, mein eigener Gesichtseindruck, und dieser muß stets erneuert werden, entsteht jeden Augenblick von Neuem. Da aber in diesem Fall die Wiederkehr der gleichen sukzessiven Eindrücke eine ununterbrochene ist, so scheint es mir, daß ich etwas Ruhendes, Beharrendes sehe. Nun ist unsere ganze äußere Erfahrung so eingerichtet, daß wir unter gleichen Umständen und Bedingungen stets die gleichen Sinneseindrücke haben. Dadurch wird es möglich gemacht, daß der flüchtige Inhalt unserer Sinneseindrücke uns als eine Welt beharrlicher Substanzen im Raum erscheint. Außer den Körpern sind keine anderen Gegenstände in der Erfahrhung anzutreffen als wir, die erkennenden Subjekte, selbst. In einem späteren Artikel werde ich nun zeigen, daß von uns selbst im Hinblick auf den verhandelten Punkt das Gleiche wie von den Körpern gilt, daß auch unsere Existenzweise kein wahres Sein, sondern ein bloßes Geschehen ist. Denn nicht allein wechseln unsere Zustände beständig, sondern unser ganzes Ich oder Selbst besteht und dauert nur dadurch, daß es jeden Augenblick neu entsteht. Merkwürdigerweise wird die im Hinblick auf unser Ich viel eher und allgemeiner begriffen, als im Hinblick auf die Körper. Denn hier hat man das Zeugnis der physiologischen Erfahrung, daß unser Ich vom Gehirn abhängig ist, was sogar zu der Annahme geführt hat, daß das psychische Leben eine bloße Funktion des Gehirns ist. (4) In Wahrheit verhält es sich damit so: Eben weil wir selbst, weil unser Ich ein wirklicher Gegenstand (wenn auch kein normales Ding, keine wahre Substanz) ist, kann der natürliche Schein in ihm viel eher durch die Tatsachen widerlegt und darum auch von uns durchschaut werden, als bei den Körpern, welche eine allgemeine, stets gegenwärtige und sich nie verleugnende Erscheinungsweise des gesamten Inhalts unserer Sinneseindrücke sind. Eine Kugel aus Wachs kann man leicht durch bloßen Druck zu einem Würfel umgestalten; dann verschwindet ihre frühere runde Figur gänzlich. Niemand wird behaupten, daß die runde Figur selbst etwas Wirkliches ist, ein ihr eigenes Wesen besitzt. Denn hier ist es zu klar, daß die Figur ein bloßes Verhältnis der materiellen Teile im Raum ist; kommen die Teile in eine andere Lage einander gegenüber, so verschwindet sie ohne Spur und Rest. Aber was von der runden Figur gilt, gilt ähnlich, wenn auch nicht genau gleich, von einer jeden Zusammensetzung oder Form. Von keiner Zusammensetzung, also auch von keinem zusammengesetzten Gegenstand kann gesagt werden, daß derselbe ein eigenes Wesen besitzt, ein wirkliches Ding im Sinne unseres Begriffs eines Dings ist. Jede individuelle Zusammensetzung wird durch Ursachen und Bedingungen erzeugt. Von diesen hängt es ab, ob sie beharrt oder sich ändert. In jedem Augenblick ist sie nur das, wozu sie gemacht wird, etwas Eigenes, Ursprüngliches kann sie also nicht besitzen. Es gibt jedoch Zusammensetzungen, welche den Anschein haben, ein eigentümliches, von dem ihrer Bestandteile unterschiedenes und gewissermaßen unabhängiges Wesen zu besitzen. So ist, um das familiärste Beispiel anzuführen, das Wasser eine bloße Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff. Man kann das Wasser mit Hilfe der Elektrizität in seine Bestandteile zerlegen und dann verschwindet es mitsamt allen seinen Eigenschaften ohne Spur und Rest, wie die oben erwähnte runde Figur der umgeformten Wachskugel. Das Wasser ist also selbst kein Ding, ist nichts Wirkliches; das Wirkliche in demselben - hier rede ich im Sinne des gewöhnlichen Bewußtseins - sind seine Bestandteile, der Sauerstoff und der Wasserstoff. Nichtsdestoweniger scheint uns das Wasser ein wirklicher, mit einer eigenen Natur begabter Gegenstand zu sein. Wir trinken Wasser, baden uns im Wasser, löschen mit Wasser Feuer aus und bemerken von seinen Bestandteilen, dem Sauerstoff und Wasserstoff, im Wasser selbst nicht das Mindeste. Ein anderes Beispiel der Unabhängigkeit einer bloßen Zusammensetzung oder einer bloßen Form bieten die organischen Gebilde. Ein Organismus besteht nur durch das beständige Zusammenwirken seiner Bestandteile. Aber die Bestandteile eines Organismus wechseln fortwährend, die einen werden ausgeschieden, andere dafür neu assimiliert, während seine Form, seine Zusammensetzung unverändert bleibt. Ja, so groß ist die Unabhängigkeit der Form im Organismus, daß von derselben eigentlich alle organischen Wirkungen ausgehen. Im Keim eines Organismus, also in der anfänglichen Zusammensetzung seiner Bestandteile sind schon alle die plastischen Bedingungen enthalten, welche sein künftiges Wesen und Leben bestimmen, seine ganze so komplizierte und trotz des beständigen Wechsels der Bestandteile sich erhaltende Form und alle die Phasen ihres Wachstums und ihrer nachfolgenden Verkümmerung. Aus dem einen Keim kann nur eine Eiche, aus dem anderen nur eine Buche, aus diesem nur ein Hund, aus jenem nur ein Mensch hervorgehen, und so in allen Fällen. Stets ist in einem Keim der ganze künftige Organismus, wie man sagt, potentiell enthalten; und doch ist der Organismus in jedem Augenblick ein bloßes Produkt des Zusammenwirkens seiner Bestandteile. Hierin haben wir nun ein treffendes Bild der wirklichen Beschaffenheit aller empirischen Gegenstände. Alle (scheinbar) beharrlichen Dinge, die wir in der Erfahrung antreffen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als eine bloße Form, welche sich beim fortwährenden Wechsel des Inhalts bleibend erhält. Darum ist das scheinbar beharrliche Wesen der empirischen Gegenstände ein durch und durch bedingtes. Alle individuellen Gegenstände (oder Zusammensetzungen) in der Erfahrung entstehen und vergehen; unbedingt beharrlich, unveränderlich ist nur der allgemeine Zusammenhang, die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen. Aber obgleich die empirischen Gegenstände bloße Zusammensetzungen sind und alle entstehen und vergehen, so sind sie doch nicht so flüchtig wie die einzelnen Erscheinungen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Durch die Wiederkehr gleicher Erscheinungen in gleichen Komplexen wird eben eine relative Dauer dieser Komplexe oder wenigstens der Schein einer Beharrlichkeit derselben erzeugt. Darum erkennen wir nicht die einzelnen gegebenen Erscheinungen, sondern die Komplexe, die Zusammensetzungen derselben als Gegenstände, als Dinge in der Erfahrung. Eben solche Komplexe sind sowohl die Körper unserer Erfahrungen als auch unser Ich oder Selbst. Auch diese sind eine bloße Form, aber eine Form, welche ihren Inhalt gewissermaßen beherrscht und von demselben relativ unabhängig ist in der Art, wie es die Organismen zeigen. Als ein solcher beherrschender Faktor macht sich in erster Linie unser Bewußtsein geltend. Nur im Bewußtsein und für das Bewußtsein kann das Flüchtige den Schein der Beharrlichkeit erzeugen; auf ihr Erscheinen im Bewußtsein ist darum die ganze Gesetzmäßigkeit der Dinge in der Erfahrung eingerichtet, worüber ich hier nur einige Andeutungen geben kann. Um in unseren flüchtigen Empfindungen und durch dieselben den Schein einer beharrlichen Körperwelt zu erzeugen, ist es offenbar einerseits, wie schon erwähnt, nötig, daß die Empfindungen in einer solchen Ordnung und nach solchen Gesetzen in uns auftreten, welche ihrer Auffassung als Körper außer uns faktisch angepaßt und konform sind. Nur durch diese Anpassun des gegebenen Inhalts an seine Auffassung im Bewußtsein ist der ihn begleitende Schein möglich gemacht. Nur dadurch kann das Bewußtsein über die Beschaffenheit seiner Objekte so getäuscht werden, daß es in der Regel gar nicht vermutet, bloße Empfindungen, bloße Sinneseindrücke in der Wahrnehmung vor sich zu haben, sondern darin äußere Gegenstände wahrzunehmen glaubt. Allein diese Täuschung würde trotzt jener Einrichtung oder Anpassung der Empfindungen dennoch nicht zustande kommen können, wenn nicht das Bewußtsein seinerseits von Haus aus genötigt wäre, die gegebenen Objekte nicht als bloße Erscheinungen, sondern als beharrliche Dinge aufzufassen, - und eine solche Nötigung ist in der Tat durch das Grundgesetz unseres Denkens gegeben. Dem Grundgesetz unseres Denkens gemäß können wir nämlich nur solche Gegenstände begreifen, welche normal geartet sind, ein ihnen eigenes, beharrliches und unbedingtes Wesen besitzen. Daß es Objekte gibt, welche kein wahrhaft eigenes Wesen besitzen, keine beharrlichen und unbedingte Dinge, sondern bloß flüchtige, durch Ursachen erzeugte Erscheinungen oder Zusammensetzungen solcher sind, davon können wir a priori gar nicht die Möglichkeit einsehen, also auch nicht vermuten, daß die Objekte der Erfahrung eben diese abnorme Beschaffenheit haben. Darum sind wir von Natur aus genötigt, auch die Objekte der Erfahrung als unbedingte, beharrliche Dinge (als Substanzen) aufzufassen, und da diese Objekte ihrerseits so eingerichtet sind, um jener Auffassung zu entsprechen, um trotz ihrer Flüchtigkeit den Schein der Beharrlichkeit zu erzeugen, - so entsteht dadurch eine so innige Verbindung zwischen unserer Auffassung und deren Objekten, daß man dieselb als eine Art mentaler chemischer Verbindung bezeichnen kann. Große Anstrengungen der Reflexion waren nötig, um diese Verbindung aufzulösen, und zwar lediglich in der Abstraktion. Denn was unsere Wahrnehmung selbst anbetrifft, so können wir es auf keine Weise verhindertn, daß unsere Sinneseindrücke uns nicht als Körper erscheinen. Trotz aller abstrakten Einsicht können wir den Schein nicht los werden, daß unsere Gesichts- und Tastempfindungen etwas außer uns, im Raum (erstere oft in einer großen Entfernung von uns) Liegendes sind. Aus eben denselben Gründen erkennen wir auch unser Ich oder Selbst als einen normalen, unbedingten und in seinem Kern unveränderlichen Gegenständen (5), als eine Substanz, und auch das Wesen unseres Ich ist so eingerichtet, daß trotzdem aller faktische Inhalt in ihm (d. h. die inneren Zustände, Gefühle, Gedanken, Wünsche usw.) wechselt, die Form doch beharrlich bleibt und den erwähnten natürlichen Schein erzeugt. Doch davon in einem späteren Artikel mehr. Wir sehen also, daß die Objekte sowohl der inneren wie der äußeren Erfahrung bloße Zusammensetzungen sind. Als solche sind sie durch Ursachen bedingt, sind entstanden, vergänglich und in einem beständigen Wechsel begriffen, - sie besitzen mithin kein wahrhaft eigenes Wesen. Dem entgegen ist ein normales, der in unserem Denken gegebenen Norm wahrhaft entsprechendes Ding (eine wahre Substanz) nicht allein unentstanden, unvergänglich und unveränderlich, sondern auch nicht zusammengesetzt, also einfach. Dies ist der Unterschied in der Konstitution der beiden Arten der Gegenstände. Obgleich man nun leicht begreift, daß das Unentstandene, Unerzeugte und Unbedingte nicht zusammengesetzt, weil nicht zusammengetragen sein kann, so wirkt doch die Gewohnheit, die zusammengesetzten Gegenstände der Erfahrung als unbedingte und normale Dinge zu denken, so stark, daß man den Gedanken, das Normale, das Unbedingte sei einfach, nur schwer fassen kann, trotzdem daß dieser Gedanke selbstverständlich, unmittelbar gewiß ist. Man hat sich vielmehr mit der Annaheme ganz familiarisiert, daß auch ein unbedingter Gegenstand mehrere Seiten und mehrere Eigenschaften besitzen kann. Allein diese Annahme impliziert einfach einen logischen Widerspruch und es liegt viel daran, daß man die einsieht. Daß ein Gegenstand in seinem wahrhaft eignen, ursprünglichen Wesen etwas Verschiedenes, Mannigfaltiges, also nicht eins, oder - was dasselbe bedeutet - daß ein Verschiedenes, Mannigfaltiges seinem eigenen Wesen nach ein und derselbe Gegenstand, also nicht verschieden ist, - das ist schlechthin undenkbar, ja ist das einzige schlechthin Undenkbare, das es überhaupt gibt. Man lasse sich doch durch den natürlichen Schein, der uns bloße Zusammensetzungen als normale und unbedingte Gegenstände vorspiegelt, nicht verhindern, dies einzusehen. Die Gegenstände der Erfahrung haben allerdings mehrere Seiten und Qualitäten, aber sie besitzen eben darum kein wahrhaft eigenes Wesen. Ein Körper z. B. kann allerdings zugleich rot, süß und wohlriechend sein, aber in Wahrheit sind das eben Qualitäten unserer Empfindung, welche soweit entfernt sind, ein und denselben Gegenstand auszumachen, daß sie vielmehr gar nichts Gemeinsames miteinander haben, außer dem Umstand, daß sie, durch ein Gesetz verbunden, stets zusammen oder zugleich wahrgenommen werden können. Man denke sich dagegen, daß ein Gegenstand in seinem wahrhaft eigenen, also ursprünglichen, unentstandenen Wesen zugleich rot, süß und wohlriechend ist (6), so müßte in demselben das Rot ansich, als solches süß und das Süße als solches wohlriechend, überhaupt das Verschiedene als solches nicht verschieden, sondern identisch (derselbe identische Gegenstand) sein - und dies ist schlechthin widersprüchlich und undenkbar. Kurz, eine bedingte, erzeugte Vereinigung des Verschiedenen, eine bloße Zusammensetzung desselben, wie wir sie in den empirischen Objekten antreffen, ist zwar etwas Abnormes (dem normalen Wesen der Dinge Fremdes), aber nichts logisch Widersprechendes, Undenkbares und Unmögliches. Dagegen ist die Annahme einer unbedingten und ursprünglichen Einheit des Verschiedenen logisch widersprüchlich und undenkbar. Also kann ein normaler, unbedingter Gegenstand in seinem Wesen keine Unterschiede enthalten, kann nicht mannigfaltig, sondern nur einfach sein. Allein gegen diese Einsicht wirkt nicht bloß der natürliche Schein, sondern auch die Neigung, das Einfache für dürftige und bedeutungslos zu halten. Darauf ist nur Folgendes zu bemerken: das wahrhaft Einfache kennen wir nicht aus Erfahrung, das Einzige, was wir von ihm wissen, ist eben dies, daß es das Normale, also das höchste Denkbare und über alle Vergleichung und Analogie mit empirischen Gegenständen weit erhaben ist. Durch das Vorhergehende sind folgende Punkte festgesetzt:
Die normale Existenzweise der Dinge ist ein ruhiges, beharrendes Sein, im Gegensatz zu und mit Ausschluß von allem Geschehen. Ein normaler, einfacher, mit sich selbst identischer Gegenstand ist unentstanden, unvergänglich und unveränderlich, liegt überhaupt außerhalb der Zeit. (7) 2) Die empirischen Gegenstände dagegen sind bloße Zusammensetzungen (von Erscheinungen) und durchweg von Bedingungen abhängig, jeden Augenblick durch Ursachen neu erzeugt. Die Existenzweise der empirischen Objekte ist kein Sein, sondern bloßes Geschehen. Diese Objekte sind insgesamt entstanden, vergänglich und in einem fortwährenden Fluß oder Wechsel begriffen. Deren scheinbar beharrliches Bestehen ist in Wahrheit ein fortwährendes Neuentstehen. 3) Der Inhalt sowohl der inneren wie der äußeren Erfahrung ist so eingerichtet, daß er den Schein beharrlicher, seiender Dinge - nämlich eines ansich unveränderlichen, mit sich selbst zu verschiedenen Zeiten identischen Ich in uns und einer Welt unwandelbarer Körper außer uns - erzeugt. Da die Gegenstände der Erfahrung bloße Zusammensetzungen sind, also kein wahrhaft eigenes Wesen besitzen und durch Schein oder Täuschung bedingt sind, so ist die Beschaffenheit derselben eine abnorme. Das Gegebene, in welchem alles von Bedingungen abhängt, und das man darum schlechthin das Bedingte nennt, ist also nichts anderes als das Abnorme. Das Unbedingte dagegen, welches man sich stets wie in einem Nebel vorzustellen gewohnt ist, ist nichts anderes als die Norm und das wahre Sein der Dinge, d. h. eben die normale Natur derselben. Der Begriff des Unbedingten ist so weit entfernt, eine bloß nebelige Vermutung zu sein, daß er vielmehr das Grundgesetz unseres Denkens bildet und das einzige Selbstverständliche ist, welches eben in den Sätzen der Identität und des Widerspruchs zum Ausdruck kommt (8). Die Hauptsache ist nun, einzusehen, daß es unmöglich ist, einen inneren beiderseitigen Zusammenhang zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten, zwischen dem Sein und dem Geschehen zu denken. Dies ist gerade der Punkt, wo der natürliche Schein die Menschen am unwiderstehlichsten irreleitet. Die Erfahrung zeigt scheinbar überall Sein und Geschehen in Verbindung miteinander, nämlich seiende (unbedingte) Gegenstände, welche sich verändern und aufeinander einwirken. Da die Gegenstände der Erfahrung bloße Zusammensetzungen sind, so können sie zum Teil verändert und zum Teil unverändert erhalten werden, und dies erzeugt den Schein von Dingen, welche sich zugleich verändern und dennoch dieselben bleiben. Da die Gegenstände der Erfahrung ferner durchweg bedingt sind und untereinander in einem durchgängigen allgemeinen Zusammenhang nach Gesetzen stehen, so ist der Zustand eines Gegenstandes stets das unveränderliche Antezendens [Vorausgehende - wp] oder die unveränderliche Folge von Zuständen anderer Gegenstände, - und dies erzeugt den Schein von Dingen, welche aufeinander einwirken. In Wahrheit kann aber ein normales, unbedingtes Ding nicht selbst wirken, nicht Ursache sein. Die Bedingung eines Bedingten ist selbst stets wiederum bedingt, die Ursache einer Veränderung kann nur eine vorhergehende Veränderung sein, auf welche jene regelmäßig folgt. Die Annahme einer ersten, unbedingten Ursache von Veränderungen widerspricht dem Gesetz der Kausalität selbst, welches doch der einzige Grund ist, Ursachen überhaupt anzunehmen. So habe ich im vorhergehenden Aufsatz gezeigt, daß die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Sinnesempfindungen nicht durch die Ursächlichkeit wirklicher Außendinge erklärt werden kann, und das Gleiche läßt sich im Allgemeinen von allem Bedingten zeigen. Alles Bedingte hat im Einzelnen wohl eine Bedingung, aber das Bedingte überhaupt, im Ganzen genommen - die Gesamtheit oder die Welt des Bedingten - hat keine und kann keine haben. Seine Gesetzmäßigkeit und sein Wechsel hat keinen Grund außer ihm selbst (9). Kurz, zwischen dem Sein und dem Geschehen, dem Unbedingten, d. h. dem Normalen und dem Bedingten oder dem Abnormen, kann kein innerer Zusammenhang gedacht werden. Das letztere kann weder als ein Zustand, noch als eine Wirkung, noch sonst als eine eigene Funktion des ersteren gedacht, überhaupt aus demselben nicht abgeleitet werden. Denn das Normale und das Abnorme stehen in einem inneren Gegensatz zueinander. Das Abnorme ist seinem Wesen selbst nach unbegreiflich und unerklärlich; es liegt in demselben, wie ich anderweitig gezeitigt habe, eine unlösbare Antinomie. Daß die bedingte emipirische Natur der Dinge abnorm ist, bedeutet eben, daß dieselbe Elemente enthält, welche dem normalen, unbedingten Wesen der Dinge fremd sind und folglich aus demselben nicht abgeleitet werden können. Das ist der Grund, warum das Abnorme zugleich einer Erklärung bedarf und keiner fähig ist, und eben darin besteht die im Wesen desselben liegende Antinomie. Hier steht man nun vor der folgenden klaren und unentrinnbaren Alternative: Entweder anerkennt man das Vorhandensein der Abnormität in der Welt der Erfahrung, dann auch die im Wesen des Abnormen liegende Antinomie; oder man will das Abnorme (das Bedingte) selbst als normal, oder was das Gleiche ist, als einen Ausfluß, eine Funktion des Normalen (des Unbedingten) fassen, aus diesem ableiten oder erklären, - und dann bewegt man sich in lauter logischen Widersprüchen, wie es bei sämtlichen metaphysischen Lehren der Fall ist. Der Glaube, daß das Unbedingte (das Metaphysische) den zureichenden Grund des Bedingten (des Physischen) enthält und dieses aus demselben abgeleitet oder erklärt werden kann, verdirbt die Phsyik durch die Metaphysik und die Metaphysik durch die Physik. Durch diesen Glauben wird sowohl die unbefangene Auffassung der Tatsachen erschwert, ja in vielen Fällen unmöglich gemacht, als auch der Begriff des Unbedingten (der Norm) verfälscht. Dieser Glaube ist der Ur- und Grundirrtum des menschlichen Denkens, der Hauptgrund der Verwirrung und Zersplitterung der Meinungen. Das Verhältnis zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten, dem Normalen und dem Abnormen kann füglich mit KANTs Ausdruck als dasjenige von "Ding ansich" (eigenem Wesen der Dinge) und "Erscheinung" bezeichnet werden. Nur darf man nicht etwa glauben, daß jenes in dieser uns erscheine. Dies ist faktisch durchaus nicht der Fall. Was wir vom Unbedingten, vom Ding ansich wissen, ist nicht aus der Erfahrung, als der "Erscheinung" geschöpft, sondern in unserem eigenen Denken und unserem eigenen Gefühl gegeben, bildet die Norm in beiden (die logische und die moralische Norm). Wenn man die gegebene, abnorme Wirklichkeit "Erscheinung" nennt, so ist damit gemeint, daß dieselbe nicht etwas schlechthin Selbständiges, Unbedingtes, sondern bloße eine, freilich unbegreifliche, das Wesen desselben nicht offenbarende, sondern verhüllende Darstellungsweise des Unbedingten ist. Auf das Gesagte muß ich mich beschränken. Es ist mir unmöglich, alle aus dem Vorhergehenden sich ergebenden Folgerungen hier auch nur anzudeuten. Diese Folgerungen habe ich in meinen Schriften ausführlich entwickelt und die meisten derselben auch auf einer Tabelle zusammengestellt (10), aus welcher man mit einem Blick ersehen kann, wie durch die eine Einsicht, daß die Beschaffenheit der Data und Objekte der Erfahrung mit der Norm in unserem Denken nicht übereinstimmt, auf alle Gebiete des Denkens und der Wirklichkeit ein neues Licht verbreitet wird, welches die Tatsachen in einem inneren Zusammenhang untereinander zeigt, den man ohne dies oft nicht vermutet, ja den man, durch den natürlichen Schein und die unter dem Einfluß desselben gebildeten Gedankenassoziationen verleitet, sogar zu leugnen geneigt ist. Ich kann bloß sagen, daß ohne diese Einsicht in die wahre Beschaffenheit der Dinge kein Heil möglich ist. Durch diese Einsicht allein können die Menschen aus der Zersplitterung und dem Chaos der Meinungen zur Übereinstimmung sowohl mit sich selbst als untereinander gebracht und, was noch mehr ist, über den natürlichen Schein erhoben und der wahren Geistesreife teilhaftig werden. Was in Ermangelung dieser Einsicht über die Natur und die letzten Gründe der Dinge vorgebracht wird, klingt für den Wissenenden meistens wie das Lallen kleiner Kinder über Sachen, von denen sie wohl manches gehört, aber das Wenigste verstanden haben.
1) "Was sich ändert, dem ist weder seine frühere, noch seine spätere Beschaffenheit wahrhaft eigen, da der Zusprechung der einen sich die andere entgegensetzt. Das Veränderte ist nicht das, was es früher gewesen, weil es eben anders geworden ist. Man kann aber auch nicht sagen, dasselbe sei ausschließlich das, was es jetzt geworden, weil es ja früher anders gewesen ist." (aus meinem Werk Denken und Wirklichkeit, Bd. 1, Seite 255 - 256 der zweiten Auflage) 2) Man wird vielleicht bemerkten, daß beide diese Existenzweisen in der Wirklichkeit vereinigt, daß die Dinge in ihrem Kern zwar beharrlich, aber in ihren Zuständen veränderlich sind. Was es damit in Wahrheit für eine Bewandtnis hat, wird weiter unten gezeigt. 3) Was man durchaus nicht einsehen will, ist der Umstand, daß wir die Körper unserer Erfahrung unmittelbar selbst wahrnehmen, daß dieselben uns nicht etwa bloß im abstrakten Denken, sondern in der Wahrnehmung, in der Anschauung gegenwärtig sind. Denn hat man dies einmal eingesehen, so ist der Schluß ganz unvermeidlich, daß die Körper unserer Erfahrung keine wirklichen äußeren Dinge - denn solche können nicht selbst wahrgenommen werden - sondern in Wahrheit unsere Empfindungen sind. Und dies wird, wie im vorhergehenden Artikel gezeigt worden ist, auch direkt durch Experimente bewiesen. 4) Nichts ist geeigneter, die erstaunliche Befangenheit vieler Menschen zu offenbaren, als diese Annahme. Denn wenn man auch an das wirkliche Dasein der Körper glaubt, so ist es doch von vornherein klar, daß es keine andere Funktion der Körper gibt, als die Bewegung, die Veränderung ihres Ortes im Raum; und daß die Veränderung des Ortes irgendwelcher Körper auch nicht im Traum mit psychischen Vorgängen, wie ein Gefühl, ein Gedanke, ein Wunsch, identifiziert werden kann. Aber nie können sich die Menschen entschließen, einzusehen und zu sagen: "Hier ist ein Tatbestand, den wir nicht zu erklären vermögen." Lieber greift man zu den ungereimtesten Annahmen, wie die verhandelte, um seinem Erklärungsbedürfnis eine, wenn auch nur scheinbare, eingebildete Befriedigung zu gewähren. 5) Könnte ich mich in meinem Kern verändern, so würde ich eben nicht mehr ich bleiben, sondern ein anderer werden, was für uns undenkbar ist. 6) Rot, süß, wohlriechend können freilich nicht als Qualitäten eines Gegenstandes ansich gedacht werden. Allein dieselben sind bloß beispielsweise zur Erläuterung der Sache angeführt. Was von diesen gilt, gilt in gleicher Weise von allen realen Qualitäten. 7) Sollte sich das Einfache verändern, so müßte es ganz verschwinden, um einem Neuen Platz zu machen. Denn teilen läßt es sich nicht. Nur das Zusammengesetzte kann verändert werden, indem nämlich seine Bestandteile in eine andere Beziehung zueinander kommen oder teilweise durch neue ersetzt werden. 8) Nur beiläufig erwähne ich hier, daß die empirischen Data und Objekte gerade dadurch, daß sie mit dem Grundgesetz unseres Denkens nicht übereinstimmen, die objektive Wahrheit und Gültigkeit desselben beweisen und bestätigen. Denn eben sofern die Objekte der Erfahrung mit der Aussage unseres Denkgesetzes nicht übereinstimmen, nämlich zusammengesetzt und veränderlich sind, erweisen sie sich auch als bedingt und abnorm, des wahrhaft eigenen Wesens ermangelnd. 9) Die Einbildung, daß individuelle Dinge (und vor allem wir selbst) ansich Ursachen sein können, ein inneres Vermögen besitzen, Wirkungen, Veränderungen hervorzubringen, ist schon von HUME in ihrer Unhaltbarkeit nachgewiesen worden, fährt aber noch immer in vielen Köpfen fort zu spuken. In Wahrheit wissen wir von unserer eigenen Ursächlichkeit nichts als die nackte Tatsache, daß auf unseren Willensentschluß meistens die gewollten Bewegungen des Leibes folgen, wie uns von Kausalität überhaupt nichts gegeben und bekannt ist, als eine unveränderliche Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Alles Wirken, alle Kausalität ist durch den allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen vermittelt. Die Annahme einer unbedingten Ursache, eines Dings, welches seinem eigenen Wesen nach Ursache wäre, ist sowohl aus apriorischen Gründen verwerflich, als auch mit den Tatsachen unvereinbar. 10) Am Ende meines Werkes "Denken und Wirklichkeit", Leipzig 1873. |