![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
|||
Die Willensfreiheit, Zurechnung und Strafe in ihren Grundlehren [2/2]
§ 7. Von der psychischen Freiheit. Nachdem wir uns in den vorigen Abschnitten davon überzeugt haben, daß das menschliche Wollen nicht frei vom Kausalzusammenhang, vielmehr mit innerer Notwendigkeit begründet ist, wenden wir uns zu einer weiteren Betrachtung, indem wir die Frage erörtern,
Der Mensch, wie schon früher hervorgehoben worden ist, kommt nicht mit angeborenen Neigungen usw. auf die Welt, sondern lediglich mit objektiv unbestimmt strebenden Kräften, welche im Leben, namentlich während des Schlafes, sich stets erneuern. Durch die Verbindung dieser Kräfte mit den durch die Sinne zugeführten Reizen und durch die vielfachen Verschmelzungen und Aneinanderreihungen der auf diese Weise entstehenden Produkte wird nach und nach jener Reichtum der Begriffe und Gedanken, der Neigungen, des Fühlens usw. erzeugt, wie wir ihn im ausgebildeten Menschen mit Recht bewundern. Was insbesondere die Willenskräfte und namentlich die denselben zugrunde liegenden Neigungen anbelangt, so haben wir bereits deren Genesis kennen gelernt, haben namentlich auch darauf aufmerksam gemacht, daß dieselben durch jede Befriedigung wachsen und neue Stärke gewinnen. So oft eine Neigung bewußt wird und im Genuß den Gegenstand ihres Strebens erreicht, ebenso oft werden ihr ja neue Reize und, da zur Aufnahme derselben immer frisch strebende Kräfte erforderlich sind, neue Kräfte zugeführt. Die Verbindungen des Neuen und des Alten erhalten sich aber auch im Unbewußten fort, und so ist es dann erklärbar, daß im Allgemeinen die verschiedenen Neigungen des Menschen mit seinen übrigen Seelenkräften nach und nach mit immer mehr innerer Stärke begründet werden, und das umso mehr, je mehr sie einem Bereich angehören, auf welchen das Leben aller Menschen oder zumindest des betreffenden Menschen vornehmlich Bezug hat; desto öfter eben gelangen sie natürlich zur Anregung und Befriedigung, desto mehr demgemäß zur Ausbildung. Das Anwachsen aller übrigen Seelenkräfte beruth übrigens wesentlich auf denselben Gesetzen. Hierbei kann ich es nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, daß das Gebiet der Neigungen in der Seele eine sehr mannigfaltiges ist, daß namentlich ihre Erfüllung nicht immer, ja nicht einmal gewöhnlich unmittelbar und allein von Außen, sondern auch von Innen erfolgt, - es sei nur an die Ruhmsucht, die Eitelkeit, die Neigung zur Schwärmerei erinnert -, und daß die Abstufungen in der Heftigkeit des Strebens unendliche sind, sich endlich bis zur Ruhe des gehaltenen Vorstellens verlierend. Welche Verschiedenheit ist nicht zwischen einer einfachen Gewohnheit des Lebens und den auf einen äußeren Genuß gerichteten Suchten, zwischen den Neigungen zu höheren Beschäftigungen und den sinnlichen Begierden! Im Übrigen kann ein und dieselbe Kraft zugleich Neigung, Vorstellung usw. sein und ist es, insofern wir uns im Streben zugleich das, was erstrebt wird, vorstellen. Überhaupt liegen die verschiedenen Gebiete, in die man die Seele zu teilen geneigt ist, nicht in der Wirklichkeit, sondern nur für unsere logische Zusammenfassung auseinander; wir trennen im Begriff die Eigenschaften der Seelenkräfte, die im verschiedensten Mischungsverhältnis an ein und derselben zugleich gegeben sein können. Je mehr die Seelenkräfte - um auf die uns zunächst vorliegende Frage zurückzukommen - an innerlicher Stärke namentlich durch die verschiedenen Zusammenschmelzungen des Gleichartigen wachsen, desto mehr Selbständigkeit erlangen sie den augenblicklichen Anregungen gegenüber, welche ihnen - sei es von Innen, sei es von Außen - werden. Die anregenden Elemente sind im gesunden Zustand der Seele im Verhältnis zu den angeregten inneren Kräften, welche vielleicht aus Tausenden von Verschmelzungen hervorgegangen sind, nur von sehr geringem Gewicht. Dies gilt insbesondere auch von den Willenskräften. Schon in der nur einigermaßen ausgebildeten Seele, ja schon zum Teil in derjenigen, welche auf den ersten Stufen der Entwicklung steht, ist die durch die Reizung erfolgende Erregung der Neigungen nur etwas Sekundäres, und wenn auch diese Erregung an und für sich zum Bewußtwerden und dadurch zur Betätigung der Willenskräfte erforderlich ist, so erfolgt doch die Betätigung selbst, also der Akt des Wollens und des Handelns aufgrund der Willenskräfte, wie sich selbige im Menschen durch mannigfache Prozesse herangebildet haben. So stammt das Wollen seiner tiefsten Grundlage nach aus dem Innern des Menschen und in dieser Beziehung ist dasselbe ein durchaus freies, durch nichts Fremdartiges außerhalb der Willenskräfte selbst begründetes. Es wird uns vielleich eingeworfen werden, daß dieser oder jener Mensch irgendetwas nicht gewollt und getan haben würde, wenn er nicht vielleicht in den gelegentlichen äußeren Umständen eine Veranlassung gefunden hätte. Wie Mancher würde sich nicht einer Ausschweifung hingegeben haben, wenn ihm nicht gerade eine Gelegenheit dazu geboten worden wäre; wie Viele hätten die Begehung eines Verbrechens unter anderen äußeren Umständen unterlassen! Folgt hieraus nicht, daß die Gelegenheit und die Umstände die betreffenden Menschen zu Wüstlingen und Verbrechern gemacht haben? Wir müssen dies verneinen. Es hätten Jene nicht das Unrechte begangen, wenn sie nicht die Anlagen in sich gehabt, wenn sie nicht die unmoralische Neigung zu dem, was sie getan haben, in sich getraten hätten. Die Gelegenheit und die Umstände haben weiter Nichts bewirkt, als jene Neigung erregt und sie zur Betätigung gerufen zu haben. In dem, der die Lust nicht schon in sich trägt, wird keine Lust durch die bloße Gelegenheit geschaffen. So zwingt die Gunst oder Ungunst der Gelegenheit und der äußeren Umstände Niemanden zu einem Wollen und Handeln; der Mensch ist frei von ihrer Macht und nur in ihm selbst liegt die Ursache seines Tuns. Auf diese Weise müssen wir dem Menschen ganz entschieden Willensfreiheit zusprechen. Es erhellt sich, daß er dieselbe nicht fertig mit auf die Welt bringt, sondern daß er erst zu derselben nach und nach herangebildet wird in demselben Verhältnis, in welchem die Willenskräfte in allmählicher Entwicklung sich zu größerer innerer Macht und Selbständigkeit gestalten. Es ist uns keine Freiheit angeboren, wir sind aber zur Freiheit unserer tiefsten Seeleneigentümlichkeit nach organisiert. Diese Willensfreiheit kann nun allerdings durch gewisse Seeleneigentümlichkeiten und Seelenzustände ganz oder teilweise aufgehoben werden. Auf die Ursachen und einzelnen Fälle näher einzugehen, behalten wir uns für die folgenden Abschnitte vor, in welchen von der Zurechnung und dem, was damit zusammenhängt, die Rede sein wird. § 8. Von der sittlichen und seelendiätetischen Willensfreiheit. Es ist zweckmäßig, vorher noch auf einige Willensfreiheiten aufmerksam zu machen, welche im Menschen gebildet werden sollen. Es soll zunächst nach der sittlichen Anforderung frei sein vom Unmoralischen, oder, mit anderen Worten: seine Willenskräfte und insbesondere seine Neigungen sollen ihren Verhältnissen und ihrer Stärke nach der sittlichen Norm gemäß gebildet sein. Für unseren Zweck ist es nicht erforderlich, hierauf weitläufig einzugehen. Nur zwei Punkte seien hervorgehoben, hinsichtlich deren unrichtige Auffassungen gewöhnlich sind. Zuerst nämlich ist der innere Kampf, selbst wenn er mit dem Sieg des Sittlichen endet, kein Zeichen für eine allseitige Freiheit in obiger Bedeutung. Zeigt er doch deutlich, daß neben den moralischen Strebungen unmoralische vorhanden sind, welche sich geltend zu machen suchen und den ersteren Hemmungen in den Weg legen. Nur wer ohne allen Kampf, ohne alles Hinüber- und Herübergeworfenwerden vom Rechten zum Unrechten und umgekehrt das Sittliche will und tut, nur der ist wahrhaft frei von der Macht des Unsittlichen. Wir sehen, was der öfters aufgestellten Behauptung, daß ohne Kampf keine Sittlichkeit ist oder daß sie wenigstens ohne denselben keinen hohen Wert hat, gehalten werden muß. Sodann aber ist es ein Irrtum, wenn man behauptet, daß nur der sittlich frei handelt, welcher mit dem Bewußtsein der moralischen Berechtigung und Notwendigkeit seines Tuns, mit dem Bewußtsein der Pflicht und aus Pflichtgefühl handelt. So schätzenswert auch eine klare Einsicht in die sittlichen Verhältnisse sein mag, so ist dieselbe doch nur etwas Sekundäres, und bei einer Beurteilung der Sittlichkeit einer Handlung kommt es lediglich auf die Willenskräfte und darauf an, ob diese der moralischen Norm gemäß entwickelt sind oder nicht, nicht darauf, ob der Mensch zugleich sein Wollen und Tun begriffsmäßig beurteilt. Zudem kann man auch nicht nachdrücklich genug darauf hinweisen, wie die große Einsicht, das bloße Vorstellen kein Wollen und Tun hervorbringt, wozu ja immer eine strebende Neigung erforderlich ist. Wünschenswert ist es allerdings für alle und notwendig für viele Menschen, daß sich ihre sittlichen Neigungen zu starken Grundsätzen vereinigen. Diese Grundsätze dürfen aber nie abgetrennte logische Zusammenfassungen sein, sondern müssen als mit ihnen eng zusammenhängende Grundlagen eben jene Neigungen sich bewahren. Hiernächst aber stellt außerdem die Seelendiätetik [Vorbeugung vor Erkrankungen - wp] eine sehr wichtige Anforderung an die Bildung der menschlichen Willenskräfte. Eine jede Neigung trägt in sich das Bedürfnis und wenn dasselbe nicht befriedigt wird, so stellt sich der Schmerz des Entbehrens, damit aber Mißbehagen, ja inneres Unglück ein. Daher muß der Mensch, wenn er dauernd glücklich sein will, sich in seinen Wünschen und Neigungen möglichst unabhängig von den äußeren Verhältnissen machen, die dem Wechsel unterworfen sind und deren Regulierung nicht in seine Hände gegeben ist; sein Streben darf nicht oder doch nur in einem untergeordneten Grad auf das gerichtet sein, was ihm jeder Augenblick entziehen kann. Er muß in seinen Willenskräften Freiheit erlangen vom äußeren Geschick. Nur dann und nicht anders wird des Menschen Frieden gesichert und damit sein inneres Lebensglück begründet werden. Nur wer diese Willensfreiheit, diese innerliche Selbständigkeit erworben hat, kann mit Ruhe der Zukunft entgegensehen. § 9. Von der Zurechnung. Wir wenden uns nun zur Untersuchung über die moralische Zurechnung und die Zurechnungsfähigkeit. Wenn Jemandem moralisch etwas zugerechnet wird, so wird irgendein äußeres oder inneres Geschehen als eine freie Offenbarung der Willenskräfte des Menschen zugleich mit Rücksicht auf die allgemeinen sittlichen Normen, nach denen das moralische Gewicht jener Willenskräfte selbst beurteilt wird, hingestellt. Jede moralische Zurechnung ist die Zurückführung eines Erfolgs auf das wahre Innere des Menschen. Darin liegt, daß dieses Geschehen das Innere des Menschen rein, wie es ist, widerspiegeln muß. Diese Zurückführung ist öfters eine mehr vermittelte und indirekte, wie bei den sogenannten Unterlassungssünden, bei welchen ein Geschehen dem Menschen zugerechnet wird, nicht weil er es unmittelbar gewollt und herbeigeführt hat, sondern weil es nicht erfolgt sein würde, wenn er gewisse moralische Willenskräfte in der erforderlichen Stärke in sich getragen, bzw. gewisse unsittliche Interessen, ein unsittliches Wollen nicht in sich gehabt hätte. Die Zurechnungsfähigkeit steht offenbar mit der Freiheit des menschlichen Willens in einem unmittelbaren Zusammenhang. Nur wer mit Willensfreiheit d. h. rein aus seinen inneren Kräften heraus handelt bzw. Etwas unterläßt, nur der kann moralisch zurechnungsfähig sein; er ist es nicht, insofern dies nicht geschieht. Insofern ist ja von einer freien Offenbarung des Innern, von einer Äußerung der Willenskräfte ohne Hinzutreten eines Fremdartigen und Sekundären nicht die Rede. Da nun der einigermaßen seelisch ausgebildete Mensch in der Regel willensfrei ist, so ist er auch in der Regel zurechnungsfähig und für sein Tun moralisch verantwortlich. Dies muß stets präsumiert [angenommen - wp] werden. So bedingt dann diejenige Freiheit, welche wir dem Menschen zugesprochen haben, die Zurechnungsfähigkeit und umgekehrt diese jene; beide sind gewissermaßen nur verschiedene Seite desselben. Auch leuchtet ein, daß der Mensch nicht zurechnungsfähig sein könnte, wenn ihm eine absolute Willensfreiheit zueigen wäre. Denn wenn er ohne innere Notwendigkeit, ohne innere Ursachen aus einem Nichts heraus zu wollen und zu handeln vermöchte, so würde offenbar kein Subjekt vorhanden sein, auf welches irgendein Geschehen als Ursache zurückzuführen wäre; es wäre kein Etwas da, dem Etwas zugerechnet werden könnte. So fällt auch von dieser Seite jene vermeintliche absolute Willensfreiheit in ein Nichts zusammen. § 10. Momente, durch welche die Zurechnung nicht aufgehoben wird. Es ist eine sehr verbreitete Ansicht, daß demjenigen, dem durch die ihm gewordene Erziehung unmoralische Neigungen usw. angebildet wurden, ebensowenig die aus diesen hervorgehenden unmoralischen Handlungen zuzurechnen, wie jene Neigungen selbst zur Last zu legen sind. Oft genug hört man, wie aufgrund dieser Ansicht selbst die schwersten Vergehen wenn nicht gerechtfertigt, so doch zumindest vollständig entschuldigt werden. Dieser Ansicht setzt man in der Regel weiter Nichts, als ihre Gemeingefährlichkeit entgegen, und hätte man nicht mit Recht eine strenge Hinsicht auf diese letztere zu nehmen, so würde sich jedenfalls die oben angegebene Anschauung als maßgebend in manche Kriminalgesetzgebung eingeschlichen haben. Nun kommt es aber, wenn Jemandem irgendeine Handlung oder Unterlassung moralisch zugerechnet werden soll, lediglich darauf an, daß dieselbe aus ihm, wie er ist, hervorging. Dies liegt schon im Begriff der Zurechnung, des Zurückführens eines Erfolgs auf das Innere des Menschen. Diese Zurückführung auf das Sein des Menschen und die Beurteilung desselben nach der allgemeinen moralischen Norm steht unstrittig an und für sich nicht in der geringsten Beziehung zu der für sich bestehenden Frage, wie der Mensch das, was er ist, geworden ist. Oder hängt vielleicht das Urteil, daß Jemand körperlich verunstaltet ist, von der Frage ab, auf welche Weise er es geworden ist? So hebt dann die Art der Erziehung, welche ein Mensch genossen hat, dessen Zurechnungsfähigkeit in keinem Fall weder ganz, noch teilweise auf. Weshalb sollten auch die Erziehungsverhältnisse vor allen anderen Lebensverhältnissen, durch welche der Mensch allmählich, sei es nun absichtlich, sei es ohne Absicht, gebildet und verbildet wird, Etwas voraus haben? Legt man der Erziehung jenen die Zurechnungsfähigkeit absorbierenden Einfluß bei, so kann man denselben keinem einzigen Lebensumstand, welcher auf die Entwicklung des Mneschen von Einfluß ist, weder dem äußeren Glück, noch dem äußeren Mißgeschick usw. absprechen. Man müßte alle Zurechnungsfähigkeit und zwar sowohl hinsichtlich guter wie schlechter Handlungen ableugnen, und Schuld und Verschuldung wären aus der Welt verschwunden. Nach einer anderen Seite hin ist allerdings die Kenntnis der Erziehung von großer Wichtigkeit für die moralische Beurteilung eines Menschen. Kennen wir die erstere, so vermögen wir leichter, als sonst, eine Folgerung für das aufzustellen, was der Mensch wirklich ist; wir sind dann im Besitz eines Schlüssels, welcher uns das verborgene Innere zum Teil öffnet. Denselben Schlüssel gibt uns jedoch auch die Kenntnis der sonstigen Lebensumstände eines Menschen, welche für seine geistige Entwicklung von Wichtigkeit gewesen sind. Wer die zusammenwirkenden Faktoren kennt, vermag auf die Beschaffenheit des Produktes einen Schluß zu ziehen. Noch weniger kann man die Vergehen eines Menschen damit rechtfertigen, daß man sich auf angeborene oder vererbte unmoralische Neigungen desselben bezieht. Denn auch dann würde das zugrunde liegende "Unmoralischsein", das "Schuldigsein" nicht aufgehoben oder beschränkt werden. Hiernächst aber haben wir oben hervorgehoben, daß von einem Angeborensein irgendwelcher ausgebildeter Neigungen und von einer Vererbung durch die Zeugung überhaupt nicht gesprochen werden kann. Wenn sich in gewissen Familien, wie allerdings die Erfahrung öfters zeigt, gewisse verbrecherische Willensrichtungen fortpflanzen, so ist die Ursache hiervor vornehmlich in der Erziehung, im Beispiel usw. zu suchen, durch welche nach und nach das Unmoralische vom einen Familienglied auf das andere übertragen wird. Endlich hebt auch die günstige Gelegenheit, die vielleicht den nächsten Anstoß zu einer Handlung gegeben hat, die Zurechnung hinsichtlich derselben nicht auf. Wie wir bereits früher gesehen haben, verlockt die günstige Gelegenheit nur denjenigen, welcher die unmoralische Neigung für sie, also die eigentliche Ursache des Unrechts in sich trägt. Die Gelegenheit erregt nur diese Neigung, sie schafft sie aber nicht, und somit bleibt immer die betreffende Handlung ein Produkt des inneren Menschen, wie er ist. § 11. Von den Ursachen, welche die Zurechnungsfähigkeit aufheben oder beschränken. Während wir im vorigen Abschnitt auf Einiges aufmerksam gemacht haben, wodurch die moralische Zurechnung nach Vieler Meinung aufgehoben werden soll, aber in der Tat nicht aufgehoben wird, wenden wir uns im zunächst Folgenden zur Betrachtung derjenigen Fälle, in welchen der Mensch nicht oder zumindest nur in einem beschränkten Grad zurechnungsfähig ist. Die Betrachtung dieser Fälle, welche wir für unseren Zweck nur im Allgemeinen charakterisieren können, bietet allerdings mannigfache Schwierigkeiten. Vor allen Dingen muß man hierbei stets im Auge behalten, daß die Grenzlinien, welche man zwischen den verschiedenen Graden der Zurechnungsfähigkeit aufzustellen versucht, in der Wirklichkeit durchaus nicht scharf und getrennt auseinander treten, vielmehr stetig ineinander übergehen, wie die Grenzlinien zwischen körperlicher oder geistiger Gesundheit und Krankheit. Sodann aber darf man nicht außer Acht lassen, daß ein Mensch, welcher in der einen Beziehung mehr oder weniger unzurechnungsfähig ist, in anderer Beziehung vielleicht in höherem Grad, ja vollständig zurechnungsfähig sein kann, je nachdem sich die verschiedenen Ursachen, welche die Unzurechnungsfähigkeit begründen, über dieses oder jenes Reich der Seele in dieser oder jener Intensität und Ausdehnung erstrecken. Es kann ja überhaupt in der menschlichen Seele, welche eine Fülle von Produkten in den mannigfaltigsten Zusammenstellungen und Verbindungen zu besitzen pflegt, wie wir diese Fülle wohl vergeblich in irgendeinem Reich der äußeren Natur finden, das Verschiedenste, ja oft geradezu das Entgegengesetzte zugleich und übereinander gegeben sein. Lehrt doch z. B. die tägliche Erfahrung, daß ein und derselbe Mensch in einer Beziehung sehr heftig, in der anderen überaus gelassen und sanft ist, daß er hier sehr verständig zu unterscheiden weiß, dort vielleicht gar nicht oder nur höchst unvollkommen unterscheiden kann. Jedenfalls ist es unter diesen Verhältnissen nicht leicht, über die Zurechnungsfähigkeit eines Menschen sei es nun für einen einzelnen Fall, sei es mehr im Allgemeinen ein bestimmtes und allseitig klares Urteil abzugeben. Sodann aber vermögen wir die Seelen Anderer nur unvollkommen zu erkennen. Wenn wir schon über uns selbst trotz allen Selbststudiums oft genug im Unklaren sind, wiewohl wir uns unmittelbar wahrnehmen, um wieviel weniger werden wir darauf rechnen können, die Seele eines Anderen immer allseitig aufzufassen und richtig zu beurteilen, da wir sie doch nur vermittelt und dadurch zu erkennen vermögen, daß wir gewissen wahrnehmbaren Äußerungen eines Menschen ein denselben nach unserer Ansicht entsprechendes Inneres zugrunde legen. § 12. Fortsetzung. Zunächst ist der Mensch insofern moralisch unzurechnungsfähig, als sich ein freier Wille, bzw. die moralische Norm gar nicht oder noch nicht in ihm bilden konnte. Hier heben wir den Zustand des Blödsinns und das Alter der Kindheit hervor. Der Blödsinn, der in den verschiedensten Abstufungen gegeben sein kann und bei dessen niedrigsten Graden der Mensch zum Tier, ja noch unter dassselbe herabsinkend vom Menschen weiter Nichts hat, als die äußere Gestalt, beruth auf einer abnormen Schwäche der primitiven Seelenkräfte, die gewöhnlich angeboren ist, jedoch zuweilen auch im späteren Leben erst entsteht. Diese Schwäche hindert den Menschen zwar nicht, die ihm durch die Sinne zugeführten Eindrücke aufzunehmen, ist aber die Ursache, daß selbige nicht festgehalten werden kann, sondern alsbald wieder sich verflüchtigt und zwar in demselben Grad, in welchem die Schwäche eben vorhanden ist. Infolgedessen aber bleibt die Ausbildung des Menschen zurück und die Seele mehr oder weniger leer. Es können sich namentlich auch keine Willenskräfte bilden, zumindest nur im niederen Bereich der Seele und nur schattenähnlich. Die Entwicklung des Höheren und die Ausbildung der moralischen Norm muß unterbleiben. Insofern nun dieser Zustand des Menschen sich erstreckt, insofern ist er moralisch nicht zurechnungsfähig. Sein Tun geht ja nicht aus selbständigen freien Willenskräften, die eben nicht vorhanden sind, hervor, sondern wird überwiegend durch die das schwache Innere überwältigenden Eindrücke der Außenwelt oder durch sonstige sekundäre Erregungen bestimmt. Und selbst wenn das Handeln oder Unterlassen des Blödsinnigen hin und wieder ein ganz freies Produkt des Inneren, wie es ist, sein sollte, so kann man doch bei der moralischen Beurteilung dieses Innern die allgemeine moralische Norm nur insofern zum Maßstab nehmen, als sie und die ihr entsprechende Ausbildung des Menschen sich nach den ursprünglichen Kräften desselben überhaupt entwickeln konnte. Selbst also dann, wenn eine Zurechnung stattfindet, kann diese doch keine moralische sein oder doch nur in beschränktem Grad. So wird einem im höchsten Grad blödsinnigen Menschen eine Entwendung als Verbrechen nicht anzurechnen sein usw. Während der Blödsinnige nach dem Grad seines Blödsinns überhaupt nur in beschränktem Grad zurechnungsfähig ist, ist der in seiner Uranlage gesunde Mensch im Zustand der Kindheit noch nicht zurechnungsfähig oder zumindest noch nicht allseitig zurechnungsfähig. Je nachdem sich im Menschen selbständige Willenskräfte nach dem natürlichen Gang der seelischen Entwicklung noch nicht ausbilden konnten, ist auch sein Tun und Lassen kein freies Produkt seines Innern und, insofern das moralisch Höhere nach eben diesem Gang noch nicht aus dem Niedern emporsteigen konnte, vermag man dem Menschen eine moralische Verschuldung nicht beizumessen. Es versteht sich von selbst, daß die Entscheidung darüber, inwiefern einem Kind ein Tun moralisch zugerechnet werden darf oder nicht, sich stets nach dem konkreten Fall richten muß. Es kommt hierbei nicht nur auf das Tun und Wollen selbst, sondern auch auf die Altersverhältnisse usw. an. Jedenfalls ist es bei unserer beschränkten Einsicht zuweilen geradezu unmöglich, diese Entscheidung bestimmt zu geben. Die Kriminalgesetzgebungen gehen von einer richtigen Voraussetzung aus, wenn sie die Zurechnungsfähigkeit des Menschen erst von einem bestimmten Alter an statuieren und auch später noch die Jugend als einen Milderungsgrund gelten lassen. Richtig ist hierbei auch der Satz: malitia supplet aetatem [Bosheit ersetzt fehlende Jahre der Reife - wp]; denn die eigentliche Bosheit, bei welcher die Norm aller menschlichen Empfpindungen geradezu umgekehrt und einem Dritten zugefügtes Übel als ein Gut gefühlt wird, ist auch schon in der Jugend eine wirkliche abnorme Abweichung vom Sittengesetz, die sich nach der moralischen Natur des Menschen nicht hätte bilden sollen. Sie beruth nicht darauf, daß sich das Höhere noch nicht gebildet hat, nicht auf einem natürlichen Mangel, der ergänzt werden kann und nach dem natürlichen Gang der Entwicklung durch diese selbst ergänzt werden soll, sondern auf einem positiv Falschen. § 13. Fortsetzung. Weiter kann durch eine abnorme übermäßige Erregung (Aufregung) des Menschen seine Zurechnungsfähigkeit aufgehoben oder beschränkt werden. Hierher gehören namentlich diejenigen Seelenkrankheiten, deren Wesen eben in einer die Seelenkräfte überwältigenden Erregung, in einer Herrschaft der Reize besteht, mag nun diese Herrschaft durch die krankhafte Macht der letzteren selbst, mag sie durch eine eingetretene Schwächung der Seelenkräfte begründet werden. Während dergleichen Seelenkrankheiten findet oft ein aufwallendes Wollen und Handeln statt, welches weniger in den Willenskräften ansich, als in den übermächtigen erregenden Elementen seine Ursache hat und welches in dieser Weise nicht erfolgt sein würde, wenn die Erregung eine normale gewesen wäre. Das Tun des Menschen erfolgt dann eben nicht rein aus seinem Inneren oder, wie man vielleicht sagen könnte: aus seiner Substanz, sondern aus etwas Sekundärem heraus, welches dem eigentlichen Sein des Menschen fremd ist. Wenn Jemand mit Vorbedacht und in einem ruhigen Zustand einen Anderen tötet, so trifft ihn die volle Verschuldung und er ist ein Mörder. Wenn aber ein von der Manie Befallener im Zustand der Tobsucht einem anderen Menschen das Leben raubt, so können wir ihm die Tötung nicht als Mord, überhaupt nicht als Verbrechen anrechnen. Den eigentlichen hierher gehörenden Seelenkrankheiten zur Seite steht eine große Anzahl von Zuständen, welche analog beurteilt werden müssen. So z. B. der Zustand der Fieberhitze, welche bei gewissen körperlichen Krankheiten auf den Geist überströmt, oder der der psychischen Aufregung, welche infolge des übermäßigen Genusses geistiger Getränke einzutreten pflegt, weiter die Zustände des Zorns, überhaupt der gesteigerten Affekte. Hier haben wir überall eine ungewöhnliche Erregung und Überregung, eine Anhäufung überströmender Elemente, die, indem sie auf gewisse Willenskräfte usw. bewältigend überfließen, ein Tun hervorbringen, welches dem wahren Sein des Menschen nicht allseitig entspricht und, insofern dies nicht der Fall ist, aber eben nur insofern dem Menschen nicht zugerechnet werden kann. Dieses "insofern" genau festzustellen, ist ungemein schwer, ja, zumindest für uns, oft unmöglich, da wir weder in uns, noch in Anderen die überreizenden Elemente von den überreizten Kräften mit mathematischer Strenge, ja oft kaum nach einem ungefähren Maßstab zu trennen vermögen. Bei den höchsten Graden der Überreizung, namentlich wenn solche gleichzeitig eine andauernde und verbreitete ist, wie in der Regel im Zustand der Manie, springt es allerdings in die Augen, daß die Willenskräfte des Menschen in einem abnormen und dem Zuschauer oft geradezu als regellos erscheinenden Gang der Entwicklung erdrückt, in ihrem gegenseitigen Verhältnis gestört und fast nur zu einer Grundlage gemacht werden, auf welcher der Strom der Erregung, sich nach Außen durch ein wildes Tun usw. Luft machend, fortgeführt wird. Bei den mehr ephemerischen [momentanen - wp] Erscheinungen des Zorns usw. aber kann es sich sehr fragen, ob ein unrechtes Tun erfolgt sein würde, wenn nicht die betreffenden Willenskräfte selbst unmoralisch sich gebildet hätten oder andere Willenskräfte, deren Vorhandensein man nach der sittlichen Norm verlangen muß, in der Seele existiert und sich entgegengestellt hätten. Zwar würde alsdann die unrechte Tat durch die außergewöhnliche Erregung wesentlich mit hervorgebracht worden sein, würde aber doch auf der anderen Seite auch mit auf ein abnormes Inneres zurückgeführt werden müssen, und eben dieses Verhältnis und danach die Verschuldung genau zu bestimmen, ist offenbar keine leichte Aufgabe. Hiernächst aber muß zuweilen die außergewöhnliche Erregung selbst dem Menschen als von ihm verschuldet zugerechnet werden. Er würde vielleicht nicht in Zorn geraten, wenn sein Inneres normal gebildet wäre; er würde in der Trunkenheit nicht Exzesse begangen haben, wenn er nicht eine übergroße Neigung zu geistigen Getränken in sich tragen würde, aufgrund deren er sich in den Zustand der Betrunkenheit versetzt hat. § 14. Fortsetzung. Ich weise weiter auf einige Fälle hin, in denen durch einen übergroßen Mangel der Erregung die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben oder beschränkt wird, und hebe hier sogleich das Beispiel des sogenannten Altersblödsinns hervor. Der Altersblödsinn hat allerdings in seinen äußeren Erscheinungen manches Ähnliche mit dem Blödsinn, welchen ich früher erwähnt habe; er ist seinem Wesen nach vom letzteren vollständig verschieden. Denn während dieser, wie wir gesehen haben, in einer Schwäche der ursprünglichen Kräfte des Menschen wurzelt, hat jener seinen Grund vornehmlich in dem Übergewicht, welches die geistigen Kräfte im Laufe des Lebens durch ihr immer fortschreitendes Wachstum über die körperlichen Kräfte, die im Alter mehr und mehr abnehmen, erlangen. Je mehr die höheren Kräftesysteme des Menschen zunehmen, desto mehr entziehen sie den niedrigeren eben infolge ihrer intensiven Stärke die Kräfte und die Fähigkeit zur Fortbildung und Erhaltung. Der Körper will den Geist nicht mehr tragen und ist insbesonders nicht mehr fähig, ihm die neu belebenden Kräfte zuzuführen, welche zur frischen Erregung der Seele, zumindest bei unserer jetzigen Organisation, unumgänglich erforderlich sind, wie wir ja sehen, wenn wir z. B. die Schwungkraft des Geistes bei frischen, vielleicht durch den Schlaf gestärkten körperlichen Kräften mit der Trägheit der seelischen Entwicklung bei körperlicher Abspannung vergleichen. So pflegt dann im hohen Alter die Erregung immer matter und unzureichender zu werden, kann sogar ziemlich bis auf Null herabsinken. Der Geist, d. h. die innerlichen Kräfte werden durchaus nicht schwächer, aber sie treten nicht mehr im geregelten Gang und so, wie es ihre Stärke und ihr Verhältnis bei gewöhnlicher Erregung mit sich bringen sollte, ins Bewußtsein. Die Erinnerung schwindet, die Überlegung muß fehlen, da die Denkkräfte nicht genügend bewußt werden, die Abwägung der Interessen wird mangelhaft und die Willenskräfte scheinen zum Teil eingeschlafen zu sein. Es bedarf keiner Auseinandersetzung, daß in einem solchen Zustand die Zurechnungsfähigkeit gemindert, ja sogar ganz aufgehoben werden kann. Die Handlungen und Unterlassungen spiegeln nicht mehr das Innere wieder, wie es ist, und stammen gleichsam nur aus unvollständigen Bruchstücken desselben. Im praktischen Leben, namentlich bei der Kriminalrechtspflege, wird allerdings die Frage, ob Jemand im konkreten Fall wegen sogenannter Altersschwäche unzurechnungsfähig ist, seltener zur Erörterung kommen. Verbrecherische Handlungen werden ja da überhaupt selten sein, wo die Energie für das Handeln abgenommen hat und fortwährend abnimmt. Außerdem finden wir noch in verschiedenen Zuständen des Menschen aufgrund verschiedener, zum Teil noch unerklärter Ursachen einen abnormen Mangel der geistigen Erregung. Es sei hier an den gewöhnlichen regelmäßigen Schlaf des Menschen erinnert. In demselben haben die vegetativen Kräftesysteme, die während des Wachens durch die herrschenden geistigen Kräfte unterdrückt sind, allmählich aber mit Erfolg aufstreben, wenn die erregenden Kräfte, die vom Körper aus dem Geist mitgeteilt werden, sich erschöpft haben und die Tätigkeit desselben abnimmt, über die höheren Systeme die Oberhand gewonnen und ziehen die Erregung auf sich. Je mehr dies geschieht, desto tiefer und fester ist der Schlaf, desto weniger träumen wir auch, da ja desto mehr die Erregung des Seelischen abnehmen muß. Auch gehören - zumindest zum Teil - die Zustände des Nachtwandelns, des Somnambulismus usw. hierher. Daß während derselben die herrschende Erregung auf irgendein System leiblicher Kräfte beschränkt ist, müssen wir annehmen, wenn wir uns auch über die zugrunde liegenden Ursachen vielfach noch unklar sind. Die aufgeführten Beispiele mögen zur Verdeutlichung genügen. § 15. Fortsetzung. Noch haben wir einiger anderer Fälle einer abnormen Erregung zu gedenken, welche mehr oder weniger abnorme psychische Erscheinungen hervorbringt und, insofern sich letztere auf die Willenskräfte beziehen, die Willensfreiheit aufhebt oder beschränkt. Ich erwähne hier zunächst die sogenannte Verrücktheit. Wenn irgendeine Vorstellung, ein Gedanke, eine Idee durch gewisse Ursachen, vielleicht dadurch, daß wir immer auf dieselben durch unsere Lebensverhältnisse hingewiesen worden sind, oder durch irgendwelche andere in oder außerhalb von uns liegende Umstände, nach und nach zu einer übermäßigen, alles Andere beherrschenden Stärke angewachsen und dadurch im Bewußtsein "fix" geworden ist - fixe Idee; es hat sich Jemand, wie man oft sagt, Etwas in den Kopf gesetzt -, so zieht sich die Erregung vornehmlich nach dem betreffenden Seelenprodukt hin und regelt sich nach ihm, so daß nur das mit ihm Gleichstimmige ins Bewußtsein gerufen, das Nichtübereinstimmende aber unterdrückt wird. Hierdurch wird der ganze Gang der Seelenentwicklung einseitig, die Vorstellungen, Urteile, Schlüsse werden nicht in Übereinstimmung mit der objektiven Wahrheit hervorgerufen und gebildet und namentlich gelangen auch die Willenskräfte nur verschroben und in einer Weise zur Betätigung, welche ihrer inneren Bildung, ihrem inneren gegenseitigen Verhältnis, überhaupt der inneren Natur des Menschen, wie solche wirklich ist, nicht entspricht. Insbesondere werden auch die mit den Willenskräften verbundenen Vorstellungen abnorm entwickelt. Die hieraus hervorgehende Störung in den seelischen Entwicklungen ist umso bedeutender, je stärker, ausgebreiteter und eingreifender die störende Vorstellung ist und je mehr sie selbst von der objektiven Wahrheit abweicht. Wir unterscheiden partielle und totale Verrücktheit, eine Unterscheidung, die sich allerdings nur auf Gradverhältnisse bezieht und sich auf bestimmte Grenzen nicht zurückführen läßt, und nehmen dann eine totale Verrücktheit an, wenn das Gesunde neben dem Ungesunden nicht mehr zur Betätigung kommt, wenn also die störende Vorstellung und das, was mir ihr zusammenhängt, ausschließlich das Bewußtsein beherrscht und ihre Wurzeln in die verschiedensten Regionen psychischer Betätigung hinübertreibt. Es bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung, daß, insofern die Störung sich erstrekct, auch insofern die Willensfreiheit und damit die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben wird. Wenn z. B. ein sonst ganz gutmütiger Mensch sich einbildet, er sei ein König und habe als solcher nicht nur das Recht, sondern auch die Verpflichtung, Befehle zu geben und für ihre Ausführung zu sorgen, so wird man etwaige Exzesse, welche er zur Verwirklichung seiner Absicht begeht, nicht Verbrechen nennen können. Sein Wollen ist ja eben in dieser Beziehung durch die fixe Idee "verrückt" und aus dem Zusammenhang und aus dem gehörigen Verhältnis mit der Gesamtheit seiner unterdrückten anderen Willens- und sonstigen Kräfte gebracht worden. Wenn aber derselbe Mensch aus innerer Neigung einmal stehlen sollte und diese Tat mit seiner Einbildung in keinem inneren Zusammenhang steht, so muß ihm dieselbe allerdings voll zugerechnet werden. Wie bei jeder Seelenkrankheit, so läßt sich auch bei der Verrücktheit nicht mit Bestimmtheit der Punkt angeben, wo sie beginnt; das Mehr oder Weniger der Störung kann im verschiedensten Grad gegeben sein. Auch in der sonst gesunden Seele finden wir sehr oft Analogien der fixen Ideen, und eine Jeder wird zugeben, daß er sich in irgendeinem Zeitraum seines Lebens irgendetwas Verkehrtes steif und fest eingebildet hat. Auch außerhalb des eigentlichen Vorstellungsgebietes kann ein übermäßiges Anwachsen einzelner Seelenkräfte oder eines ganzen Bereichs derselben stattfinden. Ja es steht sogar gewöhnlich das Anwachsen in einem Gebiet mit dem in anderen im Zusammenhang, da überhaupt in der menschlichen Seele das Verschiedenste ineinander übergreift. Insbesondere heben wir in dieser Beziehung die Schwermut, Melancholie hervor, welche in einer übermäßigen Stärke und Herrschaft der die Traurigkeit und den Gram begründenden psychischen Kräfte, auf deren Natur hier einzugehen nicht der Ort sein dürfte, beruth. In allen diesen Fällen haben wir dieselben Ursachen der Seelenstörung und damit auch der Aufhebung oder Beschränkung der Zurechnungsfähigkeit, welche wir bei der Betrachtung einer Verrücktheit kennen gelernt haben. Aber, so wird man vielleicht entgegenhalten, beruth das Wesen der Leidenschaft und des Lasters nicht ebenfalls in einer übermäßigen Stärke der zugrunde liegenden Neigungen und wird daher nicht auch hinsichtlich ihrer die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben? Das Erste ist vollkommen begründet, das Zweite aber ist unrichtig. Wir haben gesehen, daß dem Menschen jedes Wollen und Tun, sowie in Bezug auf das Unterlassen zugerechnet werden muß, welches frei aus seinem Innern, wie es eben ist, hervorging. Und das Letztere ist an und für sich durchaus der Fall beim Wollen und Tun, dem eine überstarke Neigung zugrunde liegt; hier spiegelt das Handeln rein das Innere ab. Anders beim Verrückten usw. Das Wollen und Handeln desselben wurzelt durchaus nicht unmittelbar in der zur übermäßigen Stärke angewachsenen Vorstellung, da überhaupt aus einer Vorstellung kein Wollen und Tun hervorgehen kann, sondern nur aus einem Streben, aus einer Neigung, kann also auch nicht auf diese Vorstellung unmittelbar zurückgeführt werden. Es stützt sich vielmehr auf besondere an und für sich vielleicht vollständig gesunde Willenskräfte, welche jedoch, wie wir oben gesehen haben, nur unvollständig verzerrt, und so, wie sie der fixen Idee, nicht aber so, wie sie dem wahren Innern des Menschen entsprechen, ins Bewußtsein und zur Betätigung gerufen werden. Deshalb kann das betreffende Handeln als eben nicht oder nicht rein dem wahren Sein des Menschen entsprechend dem letzteren nicht oder nur beschränkt zugerechnet werden. Krankhaft ist allerdings auch jede Leidenschaft, jedes Laster und insofern können wir auch hinsichtlich ihrer von Seelenkrankheit sprechen; aber hier unterliegt eben das Krankhafte selbst der moralischen Beurteilung, wie überhaupt die Neigungen den Hauptgegenstand der letzteren bilden. Noch gedenken wir desjenigen Handelns, welches nicht oder nicht in der Weise, wie geschehen, erfolgt sein würde, wenn nicht durch künstliche, meist mit Absicht angewendete Mittel die Kräfte, auf welche dieses Handeln zurückgeführt werden muß, in eine sonst nicht in der Seele begründete Zusammenstellung gebracht und dadurch zu einer das Entgegenstehende unterdrückenden momentanen Macht emporgehoben worden wären. Dies haben wir bei der Verführung. Der Verführer sucht durch Zureden, Vorstellungen, Beschwichtigungen in demjenigen, der verleitet werden soll, alle mittelbar oder unmittelbar auf die betreffende Handlung gerichteten Strebungen in der Erregung zu konzentrieren und ihnen dadurch das Übergewicht über das widersprechende Moralische zu geben. Läßt sich nun der Mensch wirklich verleiten, so ist zwar sein Tun auf innere Kräfte zurückzuführen, entspricht aber insofern nicht seinem wahren Innern, als diese momentan in eine Vereinigung gebracht worden sind, in welcher sie ihrer inneren Begründung nach nicht stehen. In diesen Fällen wird das Maß der Verschuldung und der Zurechnung nach dem Verhältnis der verschiedenen wirkenden Faktoren, je nachdem sie im Menschen liegen oder als etwas Sekundäres betrachtet werden müssen, zu bestimmen sein. Von den Fällen, in welchen der Mensch zu einem Tun gezwungen wird, ausführlich zu sprechen, ist nicht erforderlich. Daß bei einem mechanischen Zwang von einer Zurechnung nicht die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Hier hat die Seele am betreffenden Tun gar keinen Anteil. Was weiter den psychischen Zwang durch Androhung eines Übels etc. anlangt, so wird es hierbei vornehmlich auf die Größe und Wahrscheinlichkeit des angedrohten Übels und das Gewicht der Verpflichtung, dasselbe zu vermeiden, ankommen, wenn man ermitteln will, ob ein Tun, welches zur Abwendung vorgenommen wurde und welches sonst jedenfalls ein Unrecht sein würde, dem Menschen als Verschuldung angerechnet werden kann oder nicht. Auch ist die infolge der Drohung im Menschen sehr oft hervorgerufene ungewöhnliche Aufregung zu berücksichtigen, durch welche, wie wir bereits oben gesehen haben, die moralische Zurechnung beschränkt wird. ![]() ![]() |