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LEO HIRSCHLAFF
Suggestion und Erziehung

"Nach Brunnbergs Auffassung kann das ganze Leben des Einzelnen, seine Handlungen, Gedanken und Vorstellungen als eine zusammenhängende Reihe natürlicher Suggestionen betrachtet werden, Suggestionen in wachem Zustand, die direkt dort auf Umwegen, bewußt oder unbewußt in die Seele eindringen und der Persönlichkeit den individuellen Stempel aufdrücken, unter dem sie auftritt und sich geltend macht. Wenn die Mutter zu ihrem einschlafenden Kind spricht, so hypnotisiert sie ihr Kind und suggeriert ihm im hypnotischen Schlaf. Die ganze Erziehung kann nach Brunnberg als eine zusammenhängende Reihe zweckmäßig angeordneter und auf Vernunftgründe gebauter Suggestionen angesehen werden. Alle Pädagogik ist suggestive Pädagogik, und alle Suggestionen haben die gleiche Aufgabe, nämlich durch verständige und für das Kind faßliche Gründe für und wider es zu überzeugen."


Vorwort

Als im Frühjahr vorigen Jahres der Begründer der "Grenzfragen der Pädagogik und Medizin" mit der Bitte an mich herantrat, zum dem von ihm geplanten Unternehmen einen Beitrag über das Thema: "Suggestion und Erziehung" beizusteuern, bin ich gern dieser ehrenvollen Aufforderung gefolgt, obwohl ich zu diesem Thema bereits mehre Male das Wort ergriffen haben.

Zu dieser Bereitwilligkeit bewog mich in erster Linie der Umstand, daß trotz aller Abweisungen, die die Lehre von der Suggestiv-Pädagogik auch von anderer Seite erfuhr, in der neueren medizinischen, psychologischen und pädagogischen Literatur immer wieder Vorstöße nach dieser Richtung unternommen werden, die geeignet erscheinen, die Meinungen derer zu verwirren, die dem Sondergebiet des Hypnotismus und der Suggestionslehre von Haus aus fernstehen und die infolgedessen auf die in der Literatur niedergelegten Erfahrungen als Erkenntnisquelle angewiesen sind. Zugleich lockte mich die Gelegenheit, nachdem ich diesem Spezialgebiet meine praktische und literarische Tätigkeit nunmehr seit bald zwei Dezennien gewidmet habe, meine ausschließlich aus eigener Erfahrung gewonnenen und von den herrschenden Ansichten vielfache abweichenden Anschauungen über die engeren Fachkreise hinaus einem größeren, wissenschaftlich interessierten Publikum zugänglich zu machen.

Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit habe ich versucht, eine möglichst vollständige Übersicht über das gesamte Material zu liefern, das bisher zum Thema der suggestiven Erziehung von den verschiedensten Stellen beigetragen worden ist. Ich habe es für geboten erachtet, so ausführlich über die Tatsachen und Erwägungen zu berichten, auf die die einzelnen Autoren ihre Stellungnahme zugunsten einer suggestiven Pädagogik gründen, daß sich jeder Leser selbst ein Urteil über deren Wert oder Unwert bilden kann. Die genauen Quellenangaben erleichtern die Nachprüfung der gegebenen Darstellung. Auf die Charakteristik der einzelnen Persönlichkeiten mußte deswegen Wert gelegt werden, weil auf dem Gebiet des Hypnotismus das Vertrauen zur Persönlichkeit der Autoren eine weit größere Rolle spielt als auf jedem anderen Gebiet.

Im zweiten Teil der Arbeit habe ich mich zunächst bemüht, eine kritische Darstellung und Erklärung der Tatsachen der Suggestionslehre zu geben. Wenn die Ergebnisse dieser Ausführungen im Vergleich zu der überall ausgiebigg herangezogenen Literatur sehr viel sachlicher, nüchterner, vorsichtiger und kritischer anmuten als bei der Mehrzahl der engeren Fachgenossen, so bitte ich betonen zu dürfen, daß meine Anschauungen lediglich auf eigenen Beobachtungen basieren, die an einem überreichen, alle Möglichkeiten erschöpfenden Material gesammelt sich mir bisher noch in jedem Fall als ausreichend erwiesen haben, die vielfach rätselhaften Erscheinungen dieses Gebiets mit den anerkannten Tatsachen und Gesetzen der exakten Erfahrungswissenschaften in Einklang zu bringen. Durch die Vertiefung in die psychologische Analyse der hypnotisch-suggestiven Erscheinungen hoffe ich der Gefahr entronnen zu sein, in menschlich verständlicher Begeisterung den Wert und die Bedeutung dieses Forschungsgebietes zu überschätzen. Bei dem ungeheuren Umfang, den die hypnotische Literatur angenommen hat, mußte ich mich auf die Wiedergabe des Wesentlichen beschränken und auf eine genaue Quellenangabe in diesem Teil vielfach verzichten. Ich durfte das umso eher tun, als sich eine erschöpfende Darstellung des gesamten hypnotischen Wissensgebietes mit allen erforderlichen Nachweisen und Belegen in einem größeren, demnächst aus meiner Feder erscheinenden Werk findet.

In den abschließenden Betrachtungen des zweiten Teils glaube ich den Nachweis erbracht zu haben, daß die These von der erzieherischen Bedeutung der Suggestion und Hypnose mit der wissenschaftlichen Erkenntnis dieser beiden Faktoren in einem unlösbaren Widerspruch steht. Wenn es mir gelungen ist, diesen inneren Gegensatz zwischen dem Wesen der Suggestion und dem Wesen der Erziehung klar aufzuzeigen und dadurch die Legende von der Möglichkeit einer suggestiven Erziehung endgültig zu zerstören, so ist der Zweck meiner Arbeit erreicht.

Herrn Sanitätsrat Dr. MOLL schulde ich verbindlichsten Dank für die freundliche Erlaubnis, seine reichhaltige hypnotische Spezialbibliothek unbeschränkt benutzen zu dürfen.



A. Pragmatisch-geschichtliche Übersicht des
Problems der suggestiven Erziehung.

Das Problem der Anwendung der Suggestion und Hypnose auf die Pädagogik ist verhältnismäßig jungen Datums.

Die allgemeine Kenntnis des Hypnotismus und der Suggestionslehre gehört bekanntlich mit zum ältesten geistigen Besitzstand der Menschheit. Schon die ältesten Urkunden, die wir über die Entwicklung der Anfänge der Kultur aus China, Indien und Ägypten besitzen, erwähnen hypnotische und suggestive Erscheinungen und deren bewußte und zweckgemäße Anwendung in psycho- und physiotherapeutischer Absicht. Von den alten Naturvölkern haben BASTIAN und STOLL das gleiche nachgewiesen. Die Geschichte des griechischen und römischen Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit zeigen, daß es zu keiner Zeit, in keinem Land und fast auf keinem Gebiet gegenseitiger Beeinflussung an Bestrebungen gefehlt hat, die Kenntnis der Suggestion und Hypnose fruchtbringend zu verwerten. Eine einzige Ausnahme in dieser Richtung bildet die Lehre von der Erziehung. Denn selbst nachdem die wissenschaftliche Forschung die mystischen, religiösen und physiologischen Irrtümer, von denen die ältere Geschichte des Hypnotismus durchsetzt ist, abzustreifen und das Wesen der hypnotischen und suggestiven Erscheinungen immer richtiger einzuschätzen begann, dauerte es noch geraume Zeit, bis der Gedanke aufdämmerte, diese Kräfte und Methoden der menschlichen Beeinflussung auf das Kind und seine Erziehung zu übertragen. JAMES BRAID, der als Vater des wissenschaftlichen Hypnotismus angesehen werden muß und der seine gesamte Lebensarbeit von 1843 an bis zu seinem Tod im Jahr 1860 dem Studium des Hypnotismus und allen Möglichkeiten seiner Anwendung widmete, erwähnt in seinen zahlreichen Werken von einer pädagogischen Anwendung der Hypnose und Suggestion noch so gut wie nichts.

Erst kurz vor seinem Tod, zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beginnen die Versuche, auch dieses, man kann wohl sagen wichtigste und umfassendste Gebiet menschlicher Einwirkungen für den Hypnotismus zu gewinnen. Nachdem die Kenntnis des Hypnotismus in immer weitere Kreise der Ärzte und des Laienpublikums gedrungen waren, mehrten sich allmählich die Stimmen, die die Anwendung der Hypnose und Suggestion in der Kindererziehung gebieterisch forderten, um eindlich das lange vergebens erstrebte Ideal der menschlichen Erziehung zu erreichen. Wenn man den Stimmen Glauben schenkt, die sich gerade in neuester Zeit wieder für die Einführung der Suggestion und Hypnose in die Pädagogik eingesetzt haben, so ist das gelobte Zeitalter auf diesem Gebiet nicht mehr allzufern.

Ist diese Hoffnung berechtigt? Geht die Erfindung des Nürnberger Trichters, nach dem Rezept des deutschen Gelehrten und Dichters GEORG PHILIPP HARSDÖRFFER (1648) "die Teutsche Dicht- und Reimkunst in VI Stunden einzugießen", jetzt endlich für die allgemeine geistige und sittliche Erziehung des Menschengeschlechts in Erfüllung?

Wer diese Frage anhand der neuzeitlichen Literatur der suggestiven Pädagogik und "Orthopädie" zu entscheiden versucht, dürfte leicht in Verlegenheit geraten. Man muß durch eiggene jahrelange praktische und theoretische Arbeit auf dem Gebiet des Hypnotismus geschult sein, um nicht in den Untiefen der Begeisterung und Kritiklosigkeit, die die Literatur dieses Gebietes vor allen anderen auszeichnet, rettungslos zu versinken.

Ich habe mir für die folgenden Ausführungen die Aufgabe gestellt, das Problem der Beziehungen zwischen Suggestion und Erziehung aufgrund der wissenschaftlich feststehenden und kontrollierbaren Tatsachen zu einer klaren Darstellung und kritischen Entscheidung zu bringen. Zu diesem Zweck beginne ich mit einer geschichtlichen Übersicht der bisherigen Literatur dieses Problems. Um aber eine gerechte und kritische Beurteilung dieser Literatur zu ermöglichen, ist es unbedingt erforderlich, die verschiedenartigen Quellen, aus denen diese Literatur gespeist wird, einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Viele Irrtümer, die sich z. B. bei Pädagogen und Psychologen in Bezug auf die Wirkungen des Hypnotismus festgesetzt haben, beruhen, wie sich zeigen wird, auf einer unterschiedslosen Gleichsetzung der ärztlich-wissenschaftlichen mit der Laien- und Kurpfuscher-Literatur des Hypnotismus. Auf der anderen Seite gründen sich manche ärztliche Hinweise betreffs einer möglichen pädagogischen Bedeutung des Hypnotismus auf eine unzulässige Verallgemeinerung vereinzelter, therapeutischer und experimenteller Ergebnisse, die gegenüber der Gesamtheit der gesicherten ärztlichen Erfahrungen schon rein zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen können. Endlich können die Versuche, die einzelne Pädagogen auf eigene Faust ohne medizinische Vorbildung an wenigen Schülern vorzunehmen Gelegenheit hatten, kaum beanspruchen, als vollgültige Beweise auf diesem Gebiet ärztlicher Forschung hingenommen zu werden.

Aus diesen Gründen werde ich in den folgenden Darlegungen die Stellung der Ärzte, der Laienpraktiker, der Psychologen und der Pädagogen zum Problem der suggestiven Erziehung einer gesonderten Betrachtung unterwerfen. Es wird dabei mein Bestreben sein, Tatsachen und Annahmen, Erfahrungen und Hoffnungen, Beweise und Behauptungen möglichst streng voneinander zu trennen.


I. Die Stellung der Ärzte zum Problem
der suggestiven Erziehung

Um eine richtige Einschätzung der Stellung der Ärzte zum Problem der suggestiven und hypnotischen Erziehung zu gewährleisten, muß man sich zwei Tatsachen vor Augen halten.

Die erste dieser Tatsachen ist bereits oben erwähnt worden. Es handelt sich um die auffallende Erscheinung, daß die allgemeine Geschichte des Hypnotismus mehrere Jahrtausende alt ist und zu jeder Zeit das Interesse der Forschung und der Laienwelt wach gehalten hat. Ohne den geschichtlichen Tatsachen irgendeinen Zwang anzutun, läßt sich der Nachweis führen, daß der Hypnotismus schon in frühester Zeit seine Fangarme auf fast jedes Gebiet der menschlichen Betätigung erstreckt hat, von der Religion angefangen bis zur Dressur, Psychologie und Therapie der Tiere. Dagegen hat die Geschichte der suggestiven Pädagogik ein Alter von 50 Jahren kaum überschritten. Sollte hieran wirklich nur eine mangelnde Findigkeit des menschlichen Geistes schuld sein?

Die zweite Tatsache, die für die Beurteilung des Wertes und der Aussichten einer hypnotisch-suggestiven Pädagogik nicht weniger wichtig ist, besteht in der Feststellung, daß es immer nur ein verschwinden kleiner Teil der Ärzte, speziell der wissenschaftlich tätigen Ärzte war, deren Interesse sich den Problemen des Hypnotismus zuwandte. Man mag diese Tatsache bedauern und tadeln: aber leugnen läßt es sich nicht, daß sich auch heute nur ein überaus geringer Teil der Ärzte mit den Problemen des Hypnotismus praktisch und theoretisch vertraut gemacht hat; während das Gros der medizinischen Forscher und Praktier dem Hypnotismus heute wie früher mit wenig Verständnis und großer Feindseligkeit gegenüber steht.

Nach Feststellung dieser beiden, wenn ich so sagen darf, negativen Tatsachen der Geschichte des Hypnotismus gehe ich zu den positiven Tatsachen der Entwicklung einer suggestiven Pädagogik ein.


1. Die ältere Geschichte bis zum Auftreten
von Joseph-Pierre Durand de Gros

a) Eine allererste Andeutung des pädagogischen Gebrauchs der hypnotischen Suggestion findet sich als Kuriosität erwähnt bei MIALLE, "Exposé des cures opérées en France par le Magnétisme dupuis Mesmer jusqu' á nos jours" (1774-18269). MIALLE berichtet (1) in diesem Werk, das eine große Zahl von Heilberichten, zum Teil abenteuerlichster Art, enthält, daß de BRUGHAT (Phénomenology du Mesmérisme) seine Somnambule in 10 Sitzungen eine fremde Sprache lehrte; ferner daß ein Arzt ein kleines somnambules Mädchen im Lesen unterrichtete; daß verschiedene Somnambulen vollständig richtig sangen, die im Wachen höchst unmusikalisch waren; schließlich, daß de LATOUR sein Objekt zu einem sehr guten Billiardspieler ausbildete.

Ähnliche Hinweise finden sich bei TESTE, du POTET, BEAUX und BRAID.

Die günstigen Erfahrungen von TESTE (2) beschränken sich allerdings auf Erwachsene. Es gelang ihm u. a., einem Hamburger Maler durch Somnambulismus die fremdländische Aussprache abzugewöhnen. Er ist deshalb geneigt, den Magnetismus für ein wichtiges Mittel für die intellektuelle und moralische Erziehung zu halten. Dagegen glückte es ihm bei Kindern niemals, einen Erfolg zu erzielen, mit Ausnahme einiger elender und kränklicher Individuen, obwohl er eine große Anzahl Kinder im Alter von 6 Monaten bis 5 Jahren magnetisierte. Als Ursache dieses Mißlingens gibt TESTE an, daß die Kinder zu zerstreut, unaufmerksam und ungeduldig sind, abgesehen von den organischen Verhältnissen ihrer Konstitution, die einer erfolgreichen Magnetisierung entgegen stehen. Er erwähnt, daß diese Erfahrung auch von anderen, z. B. von HUSSON 1827 bestätigt wurde.

In du POTETs "Journal du Magnétisme" (Paris 1847) finden sich mehrere Beobachtungen über eine weittragende pädagogische Wirkung des Somnambulismus oder "Puységurisme". So wird z. B. in der siebten Beobachtung ausgeführt, daß im Seelenleben aller Menschen verborgene Fähigkeiten schlummern und daß der Magnetismus diese schlummernden körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen zum Leben erweckt. Besonders ausführlich wird diese These auf dem Gebiet der poetischen Begabung exemplifiziert. Es werden Beispiele von Somnambulen zitiert, die im Schlafzustand fähig waren, vollendete Gedichte zu machen, während sie im Wachzustand keine Spur einer derartigen Begabung aufweisen. So wird von mehreren Somnambulen berichtet, daß sie alle Antworten in zierliche Verse kleideten und imstande waren, jedem Zuhörer ein derartiges Kompliment oder eine Bosheit in Versen zu sagen, je nachdem sie ihm zugetan oder abgeneigt waren. du POTET erzählt sogar von einer Somnambulen, daß sie russische Verse im Trancezustand verfaßt hat. Interessant ist auch die Angabe, daß auf dem Theater in Barcelona 1844 ein Theaterstück aufgeführt wurde, das im magnetischen Schlaf verfaßt worden war und großen Erfolg hatte.

Auch BEAUX (De l'influence de la Magnétisation sur le développement de la voix et du gout en musique, Paris 1855) glaubt (3), der Magnetismus werden noch eine große Rolle in der Erziehung spielen, da man dadurch Talente entfalten kann, welche durch die gewöhnlichen Mittel hervorzurufen schwierig ist.

JAMES BRAID erwähnt unter seinen zahlreichen Beobachtern auch einige, die in dieses Gebiet fallen, ohne freilich allzu überschwengliche Hoffnungen daran zu knüpfen. So zeigte er z. B. bei einer Sitzung mehr im Scherz, wie man aus einer Jenny Lind deren drei machen kann. Es handelte sich um zwei junge Mädchen, von denen die eine eine 19-jährige Verkäuferin war, und die beide im Wachzustand keine Fähigkeit zur phonetischen Nachahmung besaßen. Im Somnambulzustand dagegen konnten die Mädchen die schwierigsten fremdsprachlichen Gesänge sofort und in höchster Vollkommenheit nachahmen, z. B. deutsch, schwedisch, italienisch. Dies geschah in Gegenwart und unter Mitwirkung von JENNY LIND, der weltberühmten Sängerin, die gerade damals in einem Stück: "la Somnambula" auf der Bühne mit großem Erfolg eine Somnambule dargestellt hatte. Auch alle schwierigen Koloraturen und chromatischen Figuren, die JENNY LIND zum Besten gab, um die Fähigkeiten der somnambulen Mädchen zu prüfen, wurden von diesen fehlerlos nachgemacht. Dabei verstanden die jungen Mädchen nichts von den fremdsprachlichen Ausdrücken, die sie perfekt wiederholten. BRAID führt diese Leistung zurück auf eine außerordentliche Sinnesschärfe und Konzentration der Aufmerksamkeit der Somnambulen, verbunden mit einem vollen Vertrauen auf ihre Fähigkeiten (4).

Derartige Beweise für die "wunderbare Steigerung der natürlichen Fähigkeiten in der Hypnose" führt BRAID noch mehrfach an. So fand er z. B. eine Steigerung des Geruchssinnes in der Hypnose, so daß von einer Somnambulen aus einer zahlreichen Gesellschaft eine ihr näher bekannte Person durch den Geruch herausgefunden werden konnte; ferner war eine Somnambule imstande, durch den Geruch den Besitzer eines Handschuhs zu erkennen. Ebenso zeigte sich der Tastsinn und der Muskelsinn der Somnambulen verstärkt, so daß die Personen während des Schlafes deutlich schreiben konnten, obwohl sich zwischen ihnen und dem Papier sich ein dickes breites Buch befand, das BRAID für zuverlässiger erachtet als die sorgfältigste Augenbinde. Dabei wurden die Striche beim A und die Punkte bei i richtig gesetzt, auch Korrekturen richtig vollzogen usw. (5)

Soviel über die Andeutungen, die sich in der älteren hypnotischen Literatur über die "pädagogische" Wirksamkeit der hypnotischen Suggestion finden.

b) Der erste Arzt aber, und zugleich unbestritten der erste Forscher, der den erhabenen Gedanken einer systematischen hypnotisch-suggestiven Erziehung ernsthaft ins Auge gefaßt und zu realisieren versucht hat, ist der französische Arzt JOSEPH-PIERRE DURAND de GROS, der im Jahr 1860 unter dem Pseudonym J. P. PHILIPS ein Werk herausgab, betitelt ,,Cours théorique et pratique de Braidisme ou hypnotisme nerveux, considéré dans ses rapports avec la psychologie, la physiologie et la pathologie et dans ses applications á la médecine, á la Chirurgie, á la physiologie expérimentale, á la médecine legale et á l'education. (Paris 1860, 180 Seiten).

In diesem Werk versucht DURAND eine Übersicht über alle Erscheinungen und Anwendungen des Hypnotismus zu geben, um die Ärzte und speziell die Académie de Médecine de Paris von der Bedeutung dieser vielfach diskreditierten Wissenschaft zu überzeugen. Seinen Ausgangspunkt bildet die in einem früheren Werk über den "Électrodynamisme vital" von ihm begründete Hypothese, daß das Seelenleben nicht nur eine Eigentümlichkeit des Gehirns ist, sondern daß auch dem Rückenmark und den Spinalganglien eine Art von Seelenleben, die Fähigkeit der Empfindung, der motorischen Reaktion und ein Rudiment des Denkens, zukommt. Daher sind auch diese Teile des Nervensystems für eine Gewöhnung und Erziehung empfänglich, wie die Koordination der Bewegungen u. a. beweist. So sind Krampfkrankheiten z. B. als eine wahrhafte Verrücktheit der Zentren des Reflexsystems aufzufassen, d. h. als eine Störung der Empfindung und des Gedächtnisses des Rhythmus dieser nervösen Funktionen; ebenso gewisse Fieberzustände. Zur Unterstützung seiner Anschauungen beruft sich DURAND u. a. auf die Schädellehre GALLs, obwohl diese Lehre von der Wissenschaft der damaligen Zeit bereits als irrtümlich abgelehnt worden war.

Der Hypnotismus verfügt nach DURAND über zwei therapeutische Faktoren: die Hypotaxie und die Ideoplastie. Die Hypotaxie hat eine beruhigende und schlafbringende Wirkung, ähnlich wie antispasmodische Medikamente und das Chloroform. Die Ideoplastie bewirkt eine Anhäufung der Nervenkraft in einem bestimmten Innervationszentrum durch eine suggerierte Idee. Diese ideoplastische Wirkung der Hypnose erstreckt sich direkt auf die nervösen Zentren, und zwar nicht nur des Gehirns, sondern auch des Rückenmarks und der Spinalganglien und bildet deshalb "un spécifique héroïque" gegen die Erkrankungen des Nervensystems. Zur Unterstützung dieser ideoplastischen Wirkung der Hypnose empfiehlt DURAND allerdings trotz ihres heroisch-spezifischen Charakters eine "ideoplastische" Medikation, die bestimmt ist, die heilende Einwirkung der Einbildungskraft während der Pausen der ideoplastischen Anwendungen zu unterhalten. Zu diesem Zweck befürwortet er z. B. die Anwendung des destillierten Wassers, des Milchzuckers oder irgendeiner anderen harmlosen Substanz, die dem Kranken unter dem Etikett eines starken Heilmittels zu verabreichen ist.

Aufgrund derartiger Erkenntnisse und Theorien konstatiert DURAND schließlich, daß die Erziehung und die Seelenheilkunde im Hypnotismus Einwirkungen von einer unerhörten Gewalt fänden, die allein schon genügen, die Entdeckung BRAIDs zum Rang der glorreichsten Eroberungen des menschlichen Geistes zu erheben. Allerdings begnügt er sich im Text mit dieser Behauptung, ohne weitere Ausführungen über diese "edlen Anwendungen" des Hypnotismus zu machen. Vielmehr genügt es ihm, in der Zusammenfassung der Wirkungen des Hypnotismus den lapidaren Satz zu prägen:
    "Der Braidismus liefert uns eine intellektuell-moralische Orthopädie, die eines Tages sicherlich in unsere Bildungs- und Strafvollzugsanstalten Einzug halten wird."
Es ist nicht ohne Interesse, die Beobachtungen kennenzulernen, die DURAND dem Text seines Werkes hinzufügt, um seine Theorien zu beglaubigen. Was speziell die Anwendung des Hypnotismus bei Kindern anbelangt, so beschreibt DURAND unter seinen zahlreichen eigenen Experimenten auch solche, die an Kindern angestellt wurden, z. B. an einem Mädchen von 11 Jahren, 2 Mädchen von 14 Jahren, 1 Knabe von 12 Jahren, 1 Knabe von 15 Jahren. Die an diesen Kindern ausgeführten Experimente sind die gewöhnlichen hypnotischen Spielereien, wie das Nicht-öffnen-können der geschlossenen Augenlider, kataleptische Muskelzustände und einfache Befehle lächerlichen Inhalts. Unter den Beobachtungen, die DURAND aus der zeitgenössischen Literatur zitiert, findet sich ferner die Beschreibung der Hypnotisierung eines 14-jährigen Mädchens durch GIGOT-SUARD (aus Levroux), der gegenüber sich der Arzt als "Zauberer" ausgeben mußte, um Schlaf, Unempfindlichkeit und Katalepsie hervorzubringen; die gewöhnlichen Methoden des Hypnotismus hatten bei diesem Mädchen versagt. Beim Erwachen erklärte zwar GIGOT-SUARD dem Mädchen das Geheimnis seiner Zauberei. Aber er fügt hinzu: "Das Mädchen ist noch nicht überzeugt, daß ich kein Zauberer bin."

Die bemerkenswertesten unter diesen von DURAND zitierten Beobachtungen sind aber zweifellos die Beobachtungen, die einer seiner Schüler, der Leiter eines privaten Erziehungsinstitues, A. J. BRETON, angestellt und in mehreren Briefen an DURAND und anderen beschrieben hat. In seinem Pensionat in Brüssel erzielte BRETON neben zahlreichen Heilungen Erwachsener, die an Rheumatismus, Lähmungen, Taubheit etc. erkrankt waren, einen wunderbaren Erfolg bei einigen seiner Schüler, die an Kurzsichtigkeit litten. "Nach ein paar Sitzungen konnten sie etwas in einem Abstand von mehreren Metern lesen, das sie vorher nicht einmal in der Entfernung von wenigen Zentimetern lesen konnten." Auch ein Stotterer wurde von ihm so erheblich gebessert, daß man binnen kurzem seine Heilung erhoffen konnte. Diese Berichte datieren aus dem Jahr 1853.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß DURAND mit derselben Begeisterung, mit der er die oben zitierten Erfolge bespricht, auch von einer großen Zahl hellseherischer Experimente an Somnambulen berichtet, unter Anführung genauer Daten und Kontrollen, zum Teil sogar autoptischer [mit Hilfe einer Autopsie - wp] Belege.

Wenn man das ganze von DURAND beigebrachte Material an Theorien und Tatsachen überblickt, so wird man keinen Augenblick darüber im Zweifel sein können, daß weder er noch seine Schüler als vollgültige wissenschaftliche Zeugen der Möglichkeit einer suggestiv-hypnotischen Pädagogik anzusehen sind.


2. Die Arbeiten Edgar Bérillons.

An zweiter Stelle figuriert unter den Ärzten, die dem Problem der suggestiven Erziehung näher getreten sind, der Pariser Arzt EDGAR BÈRILLON, Herausgeber der Revue de l'hypnotisme und Inspektionsarzt der öffentlichen Irrenanstalten in Paris.

a) Nach seiner Schilderung (6) empfing BÉRILLON die Anregung zur Anwendung der Suggestion in der Pädiatrie von LIÉBEAULT, dem Begründer der Nancyer Schule des Hypnotismus. Er berichtet, daß LIÉBEAULT bereits seit 1861 die Suggestivbehandlung bei Kindern von 10 - 15 Jahren anwandte, die an nervösem Erbrechen, Veitstanz, Schwachsinn litten. Später lenkte LIÉBEAULT die Aufmerksamkeit der Ärzte auf die Möglichkeit, das nächtliche Bettnässen der Kinder durch die Suggestionsmethode zu heilen. In einer im Jahre 1886 veröffentlichten Statistik berichtet LIÉBEAULT über die Erfolge dieser Behandlung, die er mit 84% beziffert. Nebenbei bemerkt hat LIÉBEAULT seine Heilversuche sogar auf die Behandlung kleiner Kinder der jüngsten Altersstufen bis unter einem Jahr ausgedehnt, nachdem er von dem Laienmagnetiseur LONGPRETZ auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war. Um diese Heilungen zu erklären, nahm LIÉBEAULT seine Zuflucht zur alten Lehre des Zoomagnetismus, die er freilich später wieder verwarf.

BÈRILLON setzte die pädiatrischen Bemühungen LIÉBEAULTs in seiner eigenen Praxis fort. Bei 30 Kindern, die an Bettnässen der verschiedensten Form litten, erzielte er 70% Heilungen. Ähnliche Resultate erhielten JULES JANET und BERNHEIM, der z. B. ein aus der Kindheit datierendes Bettnässen mit einem 17-jährigen jungen Mann durch eine einzige Suggestion zur Heilung brachte. Von anderen Krankheitszuständen, die er mit Erfolg behandelt hat, erwähnt BÉRILLON: eine große Zahl von nervösem Tic, Stottern, nächtliches Aufschrecken, rhythmischen Veitstanz, Onanie, Lidkrampf, hysterische Krampfanfälle, funktionelle Störungen des Nervensystems, Idiotie, Kretinismus und Taubstummheit erwiesen sich als ungeeignet.

Neben dieser pädiatrischen Anwendung der hypnotischen Suggestion empfiehlt BÈRILLON deren pädagogischen Gebrauch. Die erste Anregung (7) zu den Versuchen einer moralischen Beeinflussing erhielt BÉRILLON - abgesehen von einem isoliert gebliebenen Fall CHARPIGNONs, der eine Frau von ihren lasterhaften Neigungen durch den Magnetismus geheilt haben soll - durch den berühmten Fall der JOHANNE SCHAFF, über den AUGUSTE VOISIN im Jahr 1884 in der Sitzung der Association francaise pour l'avancement des sciences in Blois mit großer Begeisterung berichtete.

JOHANNE SCHAFF war ein Dienstmädchen in der Familie der VOISINs. Sie war bereits mehrfach vorbestraft und hatte sozusagen alle Fehler: sie war lügenhaft, diebisch, jähzornig, pervers, ausschweifend im höchsten Grad, grob in ihrer Sprache und in ihrem Benehmen; sie verweigerte jede Art von Arbeit, unterwarf sich keiner Disziplin, gehorchte keinem Befehl und, wenn man an sie das Wort richtete, antwortete sie mit den ördinärsten Ausdrücken; auch haßte sie die Mitglieder ihrer eigenen Familie, weigerte sich, sie zu empfangen und drohte sie zu töten. Durch die hypnotische Suggestion heilte AUGUSTE VOISIN das Mädchen von all diesen Fehlern. Er machte sie arbeitsam, ruhig, sanft, gehorsam und zärtlich für ihre Angehörigen. Ihre Gefühle wurden in so hohem Maß verändert, daß sie an einem Krankenhaus angestellt und dort den Krankenschwestern als Muster vorgeführt werden konnte.

b) Durch diesen Erfolg ermutigt, begann BÉRILLON systematische Versuche zur hypnotischen Beeinflussung von diebischen, onanierenden, lasterhaften, lügnerischen und faulen Kindern anzustellen. Er erhielt dabei nach seiner Aussage sehr bemerkenswerte dauerhafte Heilungen, die ihn vom unbestreitbaren Wert der hypnotischen Suggestion als eines moralischen Erziehungsmittels überzeugten. Im Jahr 1886 unterbreitete er (8) dem Kongreß der Association francaise pour l'avancement des sciences in Nancy eine allgemeine Studie über die Suggestion vom pädagogischen Gesichtspunkt, in der er zu folgenden Schlußfolgerungen kam:
    "In Bezug auf unsere Sorge um die Zukunft bösartiger Kinder, die impulsiv, widerspenstig, unfähig zur geringsten Aufmerksamkeit, unfähig, die kleinsten Aufträge ausführen zu können, die eine unwiderstehlich Vorliebe für schlechte Instinkte zeigen, so glauben wir, daß nichts dagegen spricht, den Hypnotismus bei diesen enterbten Kreaturen anzuwenden."

    "Im hypnotischen Schlaf zeigen Verhaltenskorrekturen eine nachhaltigere und tiefgreifendere Wirkung. In vielen Fällen wird es möglich sein, durch Wiederholung die Fähigkeit der Aufmerksamkeit in diesen beisher unvollständigen Wesen zu entwickeln, ihre schlechten Instinkte zu korrigieren und jene wieder in die Gemeinschaft der Guten zurückzuführen, die sonst unfehlbar verloren gewesen wären."
BÉRILLON fügt diesen Thesen hinzu: ebenso unverständig wie die Anwendung des Hypnotismus bei gesunden Individuen von vortrefflichen Charaktereigenschaften, ebenso wertvoll ist die Anwendung des Hypnotismus als eines pädagogischen Mittels bei schlechten, lasterhaften oder kranken Individuen. Als Bedingungen für dieses Vorgehen sei aber festzuhalten, daß alle anderen rationalen Erziehungsmittel vorher erfolglos erschöpft worden sind und daß die Anwendung unter der Leitung eines sachverständigen Arztes vollzogen wird.

Die von BÉRILLON empfohlenen Grundsätze fanden die Zustimmung des Kongresses. LIÉGEOIS, LIÉBEAULT, LECLERC, LADAME, NETTER unterstützten seine Vorschläge, während BLUM und DESJARDINS sie vom Standpunkt der moralischen Freiheit aus bekämpften. Der Präsident der pädagogischen Sektion FELIX HÉMENT, inspecteur général der Universität, gab der Hoffnung Ausdruck, daß auf diesem Weg reiche Erfolge erzielt werden würden. Die pädagogische Sektioin nahm die Thesen BÉRILLONs an.

Kurz darauf veröffentlichte BERNHEIM eine Studie (9), in der er alle Einwendungen gegen die pädagogische Anwendung der Suggestion zu widerlegen sucht. Insbesondere bekämpft er die Furcht vor der Hypnose, da diese nichts anderes ist als ein normaler Schlaf. Ebenso verwies LADAME in einer Arbeit über diesen Gegenstand (10) die Einwendungen gegen den pädagogischen Gebrauch des Hypnotismus in den Bereich der Theorie, der Abstraktion, der Metaphysik. BEAUNIS schloß sich dieser Meinung an und erklärte sich überzeugt, daß der Hypnotismus eines Tages ein mächtiges Mittel der Moralisation und Erziehung werden wird.

Auf dem folgenden Kongreß der Association francaise in Toulouse im Jahr 1887 nahm HÉMENT von neuem Gelegenheit, die Anwendung der hypnotischen Suggestion in der Pädagogik gegen die Angriffe von PERROUD und COMPAYRÉ zu verteidigen. Er empfahl für die hypnotische Erziehung ein kombiniertes Vorgehen: in den dazu geeigneten Fällen sollte zuerst der Arzt das zu bessernde Kind in den hypnotischen Zustand versetzen; sodann sollte der Lehrer dem hypnotisierten Kind dieselben Ratschläge erteilen, die er ihm im Wachzustand gegeben hätte. Auf diese Weise erhielten die Ratschläge des Lehrers eine größere Wucht; man könnte die Aufmerksamkeit des Kindes entwickeln, seine sittliche Energie fördern und sogar die materielle Ungmöglichkeit bewirken, daß das Kind seinen schlechten Neigungen weiter nachgibt.

Über seine persönlichen Erlebnisse auf dem Gebiet der hypnotisch-suggestiven Pädagogik berichtet BÉRILLON im Einzelnen folgendes: Der erste Versuch dieser Art sei einem Zufall zu verdanken. In die Klinik LIÉBEAULTs war ein nervenkrankes Kind eingeliefert worden, das sich nicht hypnotisieren lassen wollte. Da erbot sich der begleitende Bruder des kleinen Kranken, ein kräftiger und gesunder Schüler, sich hypnotisieren zu lassen, um zu zeigen, daß er keine Furcht hat. Während des nun eingeleiteten Schlafes des kleinen Knaben erzählte die Mutter LIÉBEAULT, daß ihr Sohn immer der letzte in seiner Klasse ist und sich hartnäckig weigert zu arbeiten. Infolgedessen benutzte LIÉBEAULT die Gelegenheit, um dem schlafenden Knaben zu suggerieren, er solle mehr Fleiß auf seine Schulaufgaben verwenden und mit mehr Eifer arbeiten. Das Resultat dieses Vorgehens war ein vollständiges. Innerhalb von 6 Wochen gab der Knabe ein solches Beispiel an Eifer und ungewöhnlichen Fleiß, daß er zweimal der erste in seiner Klasse wurde.

In einem zweiten Fall handelte es sich um ein sehr zurückgebliebenes Kind, das LIÉBEAULT wegen Bettnässens zugeführt wurde. Dieses Kind war bisher keiner geistigen Kultur zugänglich gewesen; man hatte es weder lesen noch rechnen lehren können. LIÉBEAULT unterwarf das Kind wiederholten Suggerierungen, durch die er sich bemühte, die völlig fehlende Fähigkeit der Aufmerksamkeit bei ihm zu entwickeln. Nach 2 Monaten war der Knabe trotz schwerster erblicher Belastung so weit, daß er die Buchstaben kannte und die 4 Spezies des Rechnens erlernt hatte.

Seitdem hatte LIÉBEAULT (11) häufig Gelegenheit, pädagogische Anwendungen der hypnotischen Suggestion zu machen. Unter 23 Beobachtungen, die er in den Jahren 1885-1888 sammelte, erhielt er 10 Heilungen, 8 Besserungen, 4 Mißerfolge. Er konnte feststellen, daß die Suggestion im gleichen Maß wirksam ist, um das Gefühl der Furcht und des Zornes zu beseitigen, die Gewohnheit des Lügens und gewisse frühreife und lasterhafte Neigungen zum Verschwinden zu bringen, ja sogar, die normalen geistigen Fähigkeiten zu steigern; unlenksame Kinder konnten durch die Suggestion im Zaum gehalten werden.

BÉRILLON selbst erklärt in seiner ersten größeren Mitteilung über diesen Gegenstand auf dem ersten Internationalen Kongreß für den experimentellen und therapeutischen Hypnotismus, der im August 1889 in Paris stattfand, daß er nicht so weit gehen möchte wie LIÉBEAULT, owohl er die Exaktheit seiner Beobachtungen nicht im Geringsten anzweifelt. Er selbst beschränke sich auf die Behandlung der Fehler, der geistigen Störungen, der krankhaften Triebe der Kinder, die das Kind sozial unmöglich machen. Innerhalb dieses enger gezogenen Kreises habe er zahlreiche Heilungen von Kindern durch die hypnotische Suggestion erlebt, die an unausrottbarer Lügenhaftigkeit, Kleptomanie, Grausamkeit, Onanie, unbezwinglicher Faulheit, Unsauberkeit, Unlenksamkeit, Ängstlichkeit litten.

Die Kunst, ein an Kleptomanie leidendes Kind auf hypnotischem Weg von seiner Stehlsucht zu befreien, illustriert BÉRILLON durch folgendes typisches Beispiel:
    "Nachdem das Kind in einen genügenden tiefen Suggestivzustand gebracht ist, lasse ich es einem Tisch nähertreten, auf dem sich ein Geldstück befindet. Du siehst dieses Geldstück, sage ich ihm, du hast Lust es zu nehmen. Also nimm es, wenn du willst, und stecke es in deine Tasche. Er tut dies. Ich füge dann hinzu: So ist das deine Gewohnheit zu handeln; aber dur wirst jetzt das Geldstück zurücklegen, wo du es hergenommen hast, und wirst von nun an immer so handeln. Wenn es dir einfällt, der Versuchung zu erliegen, so wirst du dich schämen gestohlen zu haben, und du wirst die beeilen, den gestohlenen Gegenstand an seinen Platz zurückzulegen. Nach einigen Sitzungen dieser geistigen Gymnastik, ausgeführt unter dem Einfluß der Suggestion, ist das Kind von seiner schlechten Gewohnheit glatt für immer geheilt."
In den Schlußfolgerungen seines Vortrags auf dem  I. Kongreß für Hypnotismus hebt BÉRILLON noch einmal nachdrücklich hervor, daß die pädagogische Anwendung der hypnotischen Suggestion Sache der Ärzte ist und daß sie erst dann in Aktion treten soll, wenn alle üblichen Erziehungsmittel ohne Erfolg angewandt worden sind. Der Kongreß stimmte seinen Schlußfolgerungen einstimmig zu und beschloß, diese Schlußfolgerungen dem Minister des öffentlichen Unterrichts und dem Minister des Innern zu übermitteln.

c) Die Zurückhaltung, die sich BÉRILLON in der ersten Zeit gegenüber der hypnotischen Pädagogik auferlegte, indem er ihre Indikation auf die Kinderfehler und die krankhaften Störungen der Kinder beschränkte, wich allmählich, besonders bei den Anhängern seiner Lehre, einer zunehmenden Begeisterung und Verallgemeinerung.

In den zahlreichen Arbeiten, die BÉRILLON selbst diesem Thema in der Folgezeit widmete, - bis zum Jahr 1898 liegen 27 Veröffentlichungen BÉRILLONs über diesen Gegenstand vor - häuft BÉRILLON immer weitere Beweise und Bestätigungen seiner oben geschilderten Erfahrungen an. In der Julisitzung der "Gesellschaft für Hypnose und Psychologie" in Paris (12) im Jahr 1898 erweitert BÉRILLON den Gebrauch der hypnotischen Suggestion auf die Erziehung der Epileptiker. Er weist darauf hin, daß die Charakterstörungen und die fehlenden Willenshemmungen der Epileptiker keine essentielle Folge der epileptischen Erkrankung, sondern meist das Ergebnis einer unzweckmäßigen Erziehung der epileptischen Kinder ist, denen in der Regel jeder Unterricht und jede Schulerziehung ferngehalten wird. Infolgedessen würden die epileptischen Kinder unsozial, ungehorsam, reizbar, zornig, impulsiv.

Die hypnotische Suggestion soll nun imstande sein, in dem Verhalten der epileptischen Kinder einen durchgreifenden Wandel zu schaffen. Nach einigen Wochen der Behandlung ändert sich der Charakter dieser Kranken in auffallender Weise. Sie lernen, ihren impulsiven Trieben zu widerstehen und ihre krankhaften Gewohnheiten umzuwandeln. Voraussetzung dabei ist, daß eine gewisse Intelligenz vorhanden ist, die ja übrigens nach der Auffassung der Nancyer Schule generell in einem direkten Verhältnis zur Suggeribilität der Individuen steht. Wenn es auch nicht immer gelingt, die Zahl der epileptischen Anfälle zu beeinflussen, so erreicht man doch stets durch eine methodische und ausdauernde Anwendung der hypnotischen Suggestion eine sehr bemerkenswerte Besserung des geistigen Zustands. Der Charakter wandelt sich sehr schnell in einem günstigen Sinn um und man verhilft den Kranken zum Erwachen von Neigungen und Bestrebungen sozialer Art, die man früher bei ihnen niemals vermutet hätte.

Auch der zweite internationale Kongreß für den experimentellen und therapeutischen Hypnotismus, der vom 12. bis 18. August 1900 in Paris stattfand, bestimmte BÉRILLON als Berichterstatter über die Beziehungen des Hypnotismus zur Pädagogik und zur geistigen Orthopädie (13). BÈRILLON besprach wiederum die Anwendung der hypnopädagogischen Methode auf die Kleptomanie, die Onanie, das Nägelknabbern und die moralischen Perversitäten (Charakterstörungen, Bosheit, Faulheit, Unlenksamkeit). Er kommt zu dem Schluß, daß die Aufgabe der Erziehung gegenüber diesen Störungen darin besteht, Hemmungszentren des Willens zu schaffen. Dazu eigne sich allein der Gebrauch der hypnotischen Suggestion.
    "Die Ergebnisse dieser Methode sind extrem auffällig. Sie ermöglicht in kurzer Zeit die Transformation von perversen Gefühlen, automatischen Gewohnheiten, unwiderstehlichen Impulsen. Dies ist sehr bemerkenswert, daß dieselben Kinder in der Regel unbelehrbar und asozial sind. Im Wachzustand werden sie nun form- und erziehbar, sobald sie in den Zustand der Hypnose eingetaucht sind. Die Heilungen sind dauerhaft."
Bezüglich der Durchführung der hypnopädagogischen Methode bleibt BÉRILLON ausdrücklich dabei, daß die Methode in die Hand eines neurologisch oder psychiatrisch ausgebildeten Arztes gehört. Nach seiner Meinung reich die Suggestion im Wachzustand nicht aus, um eine günstige Umwandlun zu bewirken. Die Suggestion gewinnt ihre bemerkenswerte Wirksamkeit erst im Zustand der Hypnose.
    "Wir sind daher der Ansicht, daß bei der Anwendung der hypnopädagogischen Methode nicht die Suggestion, sondern der Hypnotismus die vorherrschende Rolle spielt."
Bleibt die Frage: wieviele der Kinder können hypnotisiert werden? Diese Frage beantwortet BEAUNIS (14) dahin, daß von 100 Kindern im Alter von 7 bis 14 Jahren 55 Kinder in den Zustand der tiefen Somnambulhypnose gebracht werden können, der mit einer Amnesie nach dem Erwachen verbunden ist. BÉRILLON erklärt diese Statistik für weit unter der Wahrheit. Er schließt sich BERNHEIM an, der mit Sicherheit die Behauptung aufstellt: alle Kinder sind suggeribel und fähig, dem Einfluß der hypnotischen Suggestion unterworfen zu werden.

Ob diese Behauptung, die den Beweis für die theoretische Möglichkeit einer hypnotisch-suggestiven Pädagogik in sich schließen würde, zutreffend ist, werden wir später untersuchen.

d) Unter den ärztlichen Stimmen, die sich der Auffassung BÉRILLONs rückhaltlos angeschlossen haben, verdienen BRUNNBERG und BOURDON noch kurz hervorgehoben zu werden.

BRUNNBERG (15), ein schwedischer Arzt, fügt seiner Abhandlung über die Menstruationsstörungen und ihre Behandlung in einem Anhang einige Worte über die Grundsätze für die Anwendung der hypnotischen Suggestion als pädagogisches Hilfsmittel an. Nach seiner Auffassung kann das ganze Leben des Einzelnen, seine Handlungen, Gedanken und Vorstellungen als eine zusammenhängende Reihe natürlicher Suggestionen betrachtet werden, Suggestionen in wachem Zustand, die direkt dort auf Umwegen, bewußt oder unbewußt in die Seele eindringen und der Persönlichkeit den individuellen Stempel aufdrücken, unter dem sie auftritt und sich geltend macht. Es ist selbstverständlich, daß BRUNNBERG aufgrund dieser Auffassung zu dem Ergebnis gelangt, daß jeder Mensch für Suggestionen empfänglich ist und dazu eine Hypnose nicht erforderlich ist. Er fügt hinzu:
    "Je geringer das Urteilsvermögen einer Person nach irgendeiner Seite hin sich geltend macht, umso leichter ist es, dieser Person Vorstellungen in dieser Richtung einzureden, mögen diesn nun wahr sein oder nicht."
Daraus folgt natürlich, daß die Kinder am meisten suggeribel sind.

Welchen Begriff BRUNNBERG mit dem Wort "Hypnose" verbindet, erhellt sich aus folgendem Ausspruch: "Wenn die Mutter zu ihrem einschlafenden Kind spricht, so hypnotisiert sie ihr Kind und suggeriert ihm im hypnotischen Schlaf."

Die ganze Erziehung kann nach BRUNNBERG als eine zusammenhängende Reihe zweckmäßig angeordneter und auf Vernunftgründe gebauter Suggestionen angesehen werden, welche von den Kindern je nach ihrer moralischen und intellektuellen Begabung aufgrund gewonnener Einsicht in den nützlichen Inhalt aufgenommen, aufgefaßt und befolgt werden; oder aber auch ohne Unterscheidung und Prüfung zurückgewiesen werden, wenn die Individuen den gegebenen Impulsen unzugänglich sind, oder wenn ihnen Wille oder Kraft fehlt, gegen dieselben zu reagieren. In derartigen Fällen, in denen die erzieherische Suggestion sich als machtlos erweist, ist nach BRUNNBERG die hypnotische Suggestion am Platz, weil sie viel wirksamer ist.
    "Alle Pädagogik ist suggestive Pädagogik, und alle Suggestionen, ob natürlich oder hypnotisch, die dem Kind eingegeben werden, haben die gleiche Aufgabe, nämlich durch verständige und für das Kind faßliche Gründe für und wider es zu überzeugen, daß es recht handeln und dem Einfluß der schlimmen Neigungen widerstehen kann."
BOURDON (16) betont besonders die Bedeutung des Nägelknabberns, das BÉRILLON mit großer Feierlichkeit zum Rang eines selbständigen Krankheitsbildes unter dem Namen der "Onychophagie" erhoben hat. Es sei ein Merkmal der hereditären Degeneration und geistigen Minderwertigkeit und finde sich bei 20 - 50 Prozent aller Kinder, häufig verbunden mit Onanie, Charakterfehlern und geistiger Schwäche. Das einzige Heilmittel dagegen ist nach BOURDON die "opération psychologique, d. h. die Hypnotisation, deren Aufgaben in 3 Teile zerfallen:
    1. Gegen den impulsiven Automatismus reagieren, indem ein anderer Automatismus erzeugt wird, der in die entgegengesetzte Richtung wirkt.

    2. Das Bewußtsein erwecken und durch äußere Erregungen eine unbewußte Wahrnehmung in eine bewußte Wahrnehmung verwandeln.

    3. Den endgültigen Widerstandsimpuls durch das Eingreifen der freiwilligen Energie des Subjekts bestimmen.
BOURDON fügt den 3 Fällen, die er durch die hypnotische Suggestion geheilt hat, den begeisterten Ausruf hinzu:
    "Wieviel Segen könnte gestiftet werden, wenn man diese so heilsame psychologische Operation häufiger in der Pädagogik und in der Pädiatrie [Kinderheilkunde - wp] anwenden wollte!"
Vielleicht findet mancher, daß den abgeknabberten Nägeln mit der psychologischen Operation ein wenig zuviel Ehre angetan wird, zumal die physische Operation in diesen Fällen die gleiche Wirkung erzielen dürfte.
LITERATUR - Leo Hirschlaff, Suggestion und Erziehung, Berlin 1914
    Anmerkungen
    1) zitiert nach J. R. Minde, Über Hypnotismus, Vortrag, München 1891.
    2) vgl. ALPHONSE TESTE, Manuel pratique de magnétisme animal, 4. Éd. J. B. BAILLIÉRE, Paris 1853
    3) zitiert nach MINDE, a. a. O.
    4) vgl. Journal du Magnétisme, Bd. V, Études sur le somnambulisme, § X. - Pyuségurisme. Observation IX, Seite 209f.
    5) vgl. JAMES BRAID, Der Hypnotismus. Ausgewählte Schriften, hg. von WILHELM PREYER, Berlin 1882, Bd. II: Beobachtungen über die Katalepsie und den Winterschlaf beim Menschen, Anm. Seite 72.
    6) EDGAR BÉRILLON, La Suggestion, ses applications á la pédiatrie et á l'education mentale des enfants vicieux ou dégénérés. Congrés international de rhypnotisme expérimental et thérapeutique, 2. Ed. Paris 1890.
    7) vgl. JULES VOISON, Orthopédie mentale et hypnotisme. Société d'hypnologie et de psychologie, séance du 15. Mai 1900, discussion. Rev. de l'hypnot. 15, Juli 1900.
    8) Vgl. EDGAR BÉRILLON, De la suggestion envisagée au point de vue pédagogique. Revue de l'hypnot. Sept. 1886 et C. R. de l'Association francaise pour l'avancement des sciences, Congrés de Nancy, 1886.
    9) Vgl. BERNHEIM, Du la suggestion envisagée au point de vue pédagogique, Revue de l'hypnot. Nov. 1886.
    10) vgl. LADAME, L'hypnotisme et la pédagogie, Revue de l'hypnot., Mai und Juni 1887.
    11) vgl. LIÉBEAULT, Emploi de la suggestion hypnotique dans l'éducation des enfants et des adolescents, Revue de l'hypnot., Jan. 1889
    12) vgl. BÉRILLON, De l'emploi de la suggestion hypnotique dans l'éducation des épileptiques, Revue de l'hypnot, Oct. 1898
    13) vgl. C. R. du deuxiéme congrés internat. de l'hypnot. experim. et therap. (12. bis 18. August 1900), Paris, Revue de l'hypnot., 1902: BÉRILLON, Les application des l'hypnotisme á la pédagogie et á l'orthopédie mentale. Ebenda zahlreiche Literaturangaben.
    14) vgl. BEAUNIS, Le somnambulisme provoqué, zweite Auflage, Paris 1887.
    15) vgl. TYKO BRUNNBERG, Menstruationsstörungen und ihre Behandlung mittels hypnotischer Suggestioin. Die BEdeutung des Hypnotismus als pädagogisches Hilfsmittel (aus dem Schwedischen übersetzt von ROBERT TATZEL, Berlin 1896
    16) vgl. BOURDON, Onychophagie et habitudes automatiques, onanisme etc., chez les enfants vicieux ou dégénérés. Vortrag in der Soc. d'hypnot. et de psychol., Revue de l'hypnot. 1895, Bd. X, Nov. 1895.