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THEODOR LIPPS
Die Apperzeption

"In keinem Fall wissen wir, wie es gemacht wird, daß Inhalte da sind, dann Gegenstände gedacht werden, dann Gegenstände im Blickpunkt des geistigen Auges sind. Und schließlich müssen wir sagen: das ganze Reden von  Vorgängen  und  verschiedene Stufen  derselben ist nichts anderes als eine gedankliche  Substruktion  für die entsprechenden Bewußtseinserlebnisse. Es ist nur eben eine solche, die wir vollziehen  müssen,  wenn wir einmal alle diese verschiedenen Bewußtseinserlebnisse: Haben eines Inhaltes, Denken eines Gegenstandes, Apperzeption eines solchen, als an einer Stelle der Wirklichkeit, oder in einer  Seele  vorkommende, denken. Auch der  Vorgang  schon ist ja nichts anderes als das - notwendig als  Vorgang  zu denkende - an sich unbekannte Geschehen, das dem Dasein einer Empfindung oder Vorstellung, dieser  Bewußtseinserlebnisse  in einem individuellen Ich, denkend zugrunde gelegt werden muß."

Kapitel I
Apperzeption überhaupt.
Ordnende Apperzeption.


Die "Auffassungstätigkeit"

Die Aufmerksamkeit war uns gleichbedeutend mit der psychischen Kraft oder der Zuwendung derselben zu einem Vorgang. Diese betrachteten wir zunächst von einem bestimmten Gesichtspunkt aus. Indem dieselbe einem  Vorgang  zuteil wird, vermag derselbe die  "Bewußtseinsschwelle zu überschreiten, d. h. seinen zugehörigen Bewußtseinsinhalt ins Dasein zu rufen. Neben diese Wirkung der Aufmerksamkeit tritt die "Auffassungstätigkeit". Ich sehe vielleicht allerlei mit dem sinnlichenAuge, d. h. ich habe diese oder jene optischen Eindrücke oder "Inhalte", aber ich wende mein geistiges Auge nicht den dadurch repräsentierten Gegenständen zu und mache sie nicht  mir  zu Gegenständen oder bringe sie nicht in das Sehfeld meines geistigen Auges, kurz ich "denke" sie nicht. Die Tätigkeit der Zuwendung nun, oder die Hinwendung des geistigen Auges in eine Region, wodurch es geschieht, daß ein in einem Inhalt implizit für mich liegender oder dadurch repräsentierter Gegenstand in das Sehfeld desselben tritt, also  gedacht  ist, bezeichnen wir als  Auffassungstätigkeit.  Im Bewußtsein derselben liegt, wie in jedem Erlebnis einer Tätigkeit die Richtung oder das Zielen auf etwas. Das Ziel ist das  Dasein des Gegenstandes für mich. 

Auch das  diesem  Tätigkeitserlebnis zugrunde liegende "reale" psychische Geschehen können wir aber wiederum nur als "Aneignung psychischer Kraft" bezeichnen. Durch dieselbe wird der Vorstellungsvorgang zum "Denkvorgang", d. h. zu einem solchen, in welchem ein Gegenstand gedacht ist oder wird er zur "Vorstellung" eines  Gegenstandes.  Damit ist die "Auffassungstätigkeit" der Tätigkeit der Aufmerksamkeit jener  niedrigsten  Stufe deutlich entgegengestellt. Zugleich erscheint sie doch im Vergleich zu der sogleich zu erwähnenden "apperzeptiven" Tätigkeit auch noch als eine niedrigere Stufe der Aufmerksamkeitstätigkeit. Im übrigen ist ein prinzipieller Gegensatz zwischen dem Begriff der Zuwendung der psychischen Kraft überhaupt, welcher Stufe auch sie angehören mag einerseits, und dem  Begriff  der Auffassungstätigkeit andererseits. Die psychische Kraft nämlich wird dem  Vorgang  "zugewendet"; aber der Vorgang ist nicht das  "Aufgefaßte"  und demgemäß Gedachte, sondern "aufgefaßt" wird nur der  Gegenstand.  Der Gegensatz beider Begriffe ist also, abgesehen davon, daß die "Auffassungstätigkeit" eine höhere Stufe der Aufmerksamkeit bezeichnet, ein Gegensatz der  Betrachtungsweisen.  Das heißt der Begriff der  Aufmerksamkeit  gehört dem Gebiet des realen psychischen  Geschehens  an; der der Auffassungstätigkeit dagegen bezieht sich auf die  Gegenstände,  deren Dasein für  mich  wir jene höhere Stufe der Kraftzuwendung in der kausal erklärenden Psychologie denkend zugrunde legen. Allgemeiner gesagt, jener Begriff bezieht sich auf die  Seele,  dieser auf das  Bewußtsein,  insbesondere das Bewußtsein, soweit es  Denken  ist.

Wir sprachen bereits von der Vereinheitlichung von psychischen  Vorgängen  zu einem  Gesamtvorgang,  etwa von der Vereinheitlichung des "Erlebnisses", das, d. h. des Vorganges, der sich in mir vollzieht, indem ich in den Besitz eines Gegenstandes gelange und davon weiß, und den "Erlebnissen", d. h. Vorgängen, die sich in mir vollziehen, indem ich mehrere gleichartige Gegenstände gewinne und wiederum davon weiß. In allen diesen Vorgängen nun werden  Gegenstände  gedacht, nämlich eben die in meinen Besitz gelangten Gegenstände; sie sind also nicht nur "Vorstellungsvorgänge", sondern "Denkvorgänge". Und indem sich nun die Vorgänge zu einem Gesamtvorgang vereinheitlichen, vereinheitlichen sich zugleich für mein Bewußtsein die  Gegenstände.  Sie werden zu einem  Gesamtgegenstand,  den wir vielleicht als eine "Sammlung von gleichen Gegenständen" bezeichnen.

Und nun kann ich einerseits sagen, jedes neue dieser  "Erlebnisse"  d. h. jeder neue dieser  Vorgänge,  verliere im Gesamterlebnis oder Gesamtvorgang einen Teil seiner  psychischen Energie.  Andererseits aber auch ebensowohl: In der Sammlung aus gleichen Gegenständen verliere der einzelne  Gegenstand  seine Fähigkeit meine  Auffassungstätigkeit  in Anspruch zu nehmen.

Und analog verhält es sich in den übrigen Fällen. Wie man sich errinnert habe ich mich gelegentlich so ausgedrückt, daß ich statt von "Erlebnissen" oder "Vorgängen", von Gegenständen oder "Objekten" redete. Nun, diese Wendungen lagen unmittelbar nahe, da ja für das  Bewußtsein  unmittelbar nur die  Gegenstände  bestehen, der Begriff der  Vorgänge  oder der "Erlebnisse" - im Sinne von Erlebnissen des  "realen Ich",  - sich dagegen erst aus der Reflexion ergibt. So weit aber in den Vorgängen Gegenstände gedacht sind und ihre Vereinheitlichung die Vereinheitlichung von Gegenständen für das Bewußtsein in sich schließt, tritt, wie gesagt, der Begriff der  Auffassungstätigkeit  in sein Recht. Die Gegenstände werden "aufgefaßt" und  zusammen  aufgefaßt.

So etwa werden die Gegenstände jener Sammlung  zusammen  "aufgefaßt" und gedacht. Die Vereinheitlichung von einezelnen "Vorgängen" zu einem Gesamtvorgang wird auch hier  eo ipso  [schlechterdings - wp] zur Vereinheitlichun des in ihnen Aufgefaßten, also zum Zusammenschluß von  Gegenständen  zu  Gesamtgegenständen. 


Apperzeption und Aufmerksamkeit

Indem ich nun aber hier von einem Zusammenschluß von Gegenständen zu einem Gesamtgegenstand spreche, scheine ich auch über die einfache  "Auffassung"  von Gegenständen bereits hinausgegangen. In einem solchen  Zusammenschluß  von Gegenständen, so scheint es,  nehme  ich mit den schon  gedachten,  also für den  "für mich"  vorhandenen, kurz den "aufgefaßten", Gegenständen etwas vor: Ich fasse gewisse Gegenstände und nehme diese Gegenstände mit Ausschluß anderer innerlich  zusammen.  Dabei nun scheint  vorausgesetzt,  daß die Gegenstände bereits für mich da, oder daß sie bereits für mich Gegenstände sind. Erst diesen für mich oder im Sehfeld des geistigen Auges schon  vorhanden  Gegenständen kann ich mich auswählend und zusammenfassend zuwenden.

Diese jenseits der geistigen Schwelle beginnende Tätigkeit aber haben wir nun bereits früher mit dem besonderen Namen der  "apperzeptiven"  Tätigkeit bezeichnet und vom bloßen "Auffassen" und Denken unterschieden. Dazu also scheinen wir hier bereits, ohne doch besonders darauf hinzuweisen, den Übergang gemacht zu haben.

Indessen man beachte wohl den Gegensatz folgender Tatsachen. Die eine ist diese: Gegenstände sind in meinem geistigen Sehfeld da und irgendwie miteinander verbudnen; oder, umgekehrt gesagt: Gegenstände bestehen für mich tatsächlich, und in ihnen  könnten  zugleich diese oder jene Teile unterschieden werden; sie sind also tatsächlich Gesamtgegenstände, aber ohne daß ich sie von anderen bewußt  sonderte,  und  in ihnen  die Teile bewußt  unterschiede,  ohne daß also die Gegenstände auch  "für mich" eigene  oder gesonderte wären, und zugleich  für mich  eine Mehrheit  verschiedener Gegenstände  darstellten, ohne daß mit anderen Worten die Teile auch  für mich  unterschiedene  Teile  eines in sich abgegrenzten  Gesamtgegenstandes  wären. Die andere Tatsache dagegen ist diese: Gegenstände sinc auch für  mich als selbständige  und  abgegrenzte  Gegenstände da, und zugleich sind diese Gegenstände auch wiederum, bewußterweise, in ein Ganzes zusammengeschlossen; oder, was dasselbe sagt, es wird ein Gesamtgegenstand als  solcher,  d. h. als Ganzes aus zunächst für sich gedachten Einzelgegenständen, oder als dieses bestimmte aus voneinander  verschiedenen Teilen  bestehende Ganze,  für sich herausgehoben  und  für sich  bewußt dahin gestellt. Die letztere Tatsache nun kommt allerdings erst durch mein apperzeptives Tun zustande.

Reden wir aber genauer: Gegenstände und insbesondere Gesamtgegenstände und nicht minder ihre Teile sind für mich zunächst da im Ganzen dessen, was überhaut von mir jetzt gedacht ist, oder als unterscheidbare, aber von mir noch nicht unterschieene "Stücke" des Gesamtinhalts meines gegenwärtigen geistigen Sehfeldes. Oder: sie sind für mich zunächst  implizit  da oder werden in diesem geistig  mit gesehen.  Sollen sie aber nicht implizit, sondern explizit für mich das sein, nicht "mitgesehen, sondern  für sich  "gesehen" werden, so muß dieses neue "Explizieren" stattfinden: das  Heraussehen  der Gegenstände überhaupt, und insbesondere auch der Gesamtgegenstände und ebenso ihrer Teile aus dem unterschiedslosen Gesamtinhalt des geistigen Sehfeldes. So ist, wenn ich eine Fläche mit Figuren nicht nur mit dem sinnlichen, sondern auch mit dem geistigen Auge "sehe", d. h. auffasse, und denkend darauf bezogen bin, kurz wenn die Fläche für mich  Gegenstand  ist, gewiß jede der Figuren der Fläche und die Weise ihres Zusammen geistig  mitgesehen.  Damit aber die einzelnen Figuren als diese bestimmten, von ihrer Umgebung losgelösten, und damit weiterhin auch die Weisen, wie sie sich zu Figurenkomplexen oder Gesamtfiguren zusammenordnen, von mir  herauserkannt  werden, dazu bedarf es noch einer besonderen heraushebenden, zusammenfassenden, aufeinanderbeziehenden und abgrenzenden  Tätigkeit.  Und diese Tätigkeit nun nennen wir apperzeptive Tätigkeit oder  Apperzeption. 

In obigem aber ist bereits an die "apperzeptive Tätigkeit" in ihrem vollen Umfang gedacht. Beginnen wir nun hier zunächst mit ihrer niedrigsten Stufe und ihrem allgemeinen Wesen.

Daß ein Gegenstand  "aufgefaßt"  ist, also vor dem geistigen Auge steht, dies besagt noch nicht, daß ich mich mit ihm innerlich "befasse" oder "beschäftige", daß ich mit ihm  geistig operiere.  Dieses Sichbefassen nun ist zunächst, wie früher bereits gesagt, ein unmittelbar erlebtes bewußtes  Ergreifen, Umgreifen,  Umgrenzen un  Heraussondern  aus den mir gegenüber stehenden Gegenständen, ein bewußtes gesondertes Hineinrücken eines Gegenstandes aus dem Sehfeld des geistigen Auges in den  Blickpunkt  desselben, oder setzt dies  voraus.  Ich "befasse" mich etwa innerlich bei der Betrachtung eines Gemäldes jetzt mit dieser, dann mit jener Figur. Das heißt nicht etwa, daß das übrige in keinem Sinn "für mich" existierte, oder daß es von mir gar nicht gedacht würde; ich befasse mich doch in einem solchen Fall nicht mit einer Figur  überhaupt,  oder einer isolierten Figur, sondern mit einer Figur in diesem  Gemälde.  Die spezielle Figur aber ist  herausgegriffen,  oder innerlich in besonderer Weise  fixiert.  Oder ich sage von einem bestimmten, in einer Ecke meines Gartens stehenden Bäume und die Ecke des Gartens und die anderen Bäume. Aber ich "befasse" mich innerlich nur mit  diesem einen  Baum und seinem  Blühen.  Ihn nur und sein  Blühen  habe ich im  Blickpunkt  des geistigen Auges. Und so ist es nicht nur, sondern ich erlebe es unmittelbar, daß es so ist. Ich erlebe dies als ein eigenartiges Tun.

In diesem unmittelbar erlebten Tun nun besteht zunächst alles  Apperzipieren.  Das heißt alles Apperzipieren hat dieses gemeinsame Wesen. Alle spezifisch geistige Tätigkeit ist zunächst ein solches Apperzipieren. Das Apperzipieren ist in jedem Fall ein  "Blicken"  und ein Herausblicken mit dem geistigen Auge. Die bloße Auffassungstätigkeit ist im Vergleich damit ein bloßes  "Sehen".  Jenes verhält sich zu diesem wie der Blickpunkt zum Sehfeld des geistigen Auges.

Mit solchen Blicken und Herausblicken nun, oder mit einen Akt dieser "apperzeptiven Tätigkeit" vollziehe ich eine Scheidung in meinem Bewußtsein, so wie auch in jedem Akt der Auffassungstätigkeit sich eine solche vollzieht. Die Scheidung aber, welche die apperzeptive Tätigkeit vollbringt, ist nicht mehr die Scheidung zwischen dem, was  für mich  da ist, und demjenigen, was nur  in mir  ist, oder zwischen Gegenständen und Inhalten, sondern sie ist eine Scheidung innerhalb der Welt der  Gegenstände: Ich erhebe einen der Gegenstände, die sich über der geistigen Schwelle befinden, in die apperzeptive Sphäre,  d. h. eben, ich rücke ihn in den  Blickpunkt  des geistigen Auges.

Mit diesem Begriff der Apperzeption nun hängt der Begriff der  Aufmerksamkeit  unmittelbar zusammen. Hier aber müssen wir, wie früher, unterscheiden: das unmittelbare Bewußtseinserlebnis und das ihm zugrunde liegende "reale" Geschehen. Das letztere aber bestimmten wir ehemals als Aneignung psychischer Kraft. Diese doppelte Betrachtungsweise nun müssen wir auch anstellen hinsichtlich der apperzeptiven Tätigkeit. Auch diese ist uns einzig gegeben als nicht näher beschreibbares Bewußtseinserlebnis. Aber auch diesem müssen wir, wenn wir es in einem  individuellen  Bewußtsein stattfindend denken, ein "reales" Geschehen in einem "realen Ich" oder einer einezlnen "Seele"  zugrunde  legen.

Fragen wir aber, welches dieses reale Geschehen ist, so müssen wir uns darauf wiederum begnügen zu antworten, es bestehe in  weiterer  psychischer  "Kraftaneignung". 

Ist ein Gegenstand apperzipiert, so übt die Vorstellung desselben oder der "Gedanke", in welchem der Gegenstand gedacht ist, in der Tat eine höhere Wirkung im psychischen Lebenszusammenhang; derselbe bestimmt insbesondere mein geistiges Leben. Höhere psychische Wirksamkeit aber ist höhere "psychische Kraft". Wie sich aus einer solchen höheren Kraftaneignung jenes eigengeartete Bewußtseinserlebnis ergibt oder ergeben kann dies freilich wissen wir so wenig, als wir überhaupt zu sagen vermögen, wie das Reale, "Seele" genannt, dazu kommt, Bewußtseinserlebnisse zu haben.

Damit nun gewinnen wir die Vorstellung von  drei  Stufen, in welchen ein psychischer Vorgang die psychische Kraft oder die "Aufmerksamkeit" aneignen kann, oder die Vorstellung von einer ersten, zweiten und dritten Stufe, bis zu welcher ein Vorgang in sukzessiver Kraftaneignung sich erheben kann. Ein Vorgang gehört zunächst der Region unterhalb der Schwelle des Bewußtseins an. Dann erhebt er sich, wenn die Umstände es erlauben, d. h. wenn seine eigene Energie und die Einheitsbeziehungen zwischen ihm und anderen Vorgängen ihm die dazu erforderliche Kraftaneignun verstatten, über diese Schwelle und gelangt in die Sphäre, in der die  Bewußtseinserlebnisse  ins Dasein treten. Er wird zum bewußten Empfindungs- oder Vorstellungsvorgang. Dann aber überschreitet der Vorgang weiterhin, wenn die "Umstände" eine weitere Kraftanstrengung erlauben, die  "geistige  Schwelle" und gelangt in die Sphäre, wo nich mehr bloß Inhalte empfunden und vorgestellt, sondern  Gegenstände gedacht  werden. Der Vorgang ist jetzt ein  Denkvorgang.  Und indem er weiter fortschreitet, gelangt er endlich in die apperzeptive Sphäre, d. h. in die Sphäre, in welcher Gegenstände nicht nur im geistigen Auge, also gedacht, sondern im  Blickpunkt  des geistigen Auges sind. Der Vorgang wird zum  apperzeptiven Vorgang  d. h. er wird zu einem Vorgang der Wahrnehmung oder Vorstellung, der nicht nur einen Inhalt hat, und in dem nicht nur ein Gegenstand gedacht ist, sondern in dem eine Gegenstand in den Blickpunkt des geistigen Auges gerückt ist. Er wird zum Vorgang des Einrückens in diesen Blickpunkt. All das geschieht, d. h. der Vorgang erreicht nur eine niedrigere oder eine höhere Stufe, je nachdem ihm vergönnt ist, sich die psychische  "Kraft"  anzueignen. Man sieht hier von neuem, ein wie  allgemeiner  Begriff der Begriff der "psychischen Kraft" oder, mit Verwendung der populären Bezeichnung, der Begriff der "Aufmerksammkeit" ist. Die "psychische Kraft" ist in der Tat nach früher Gesagtem nichts anderes, als ein anderer Ausdruck für die Möglichkeit, daß psychische Vorgänge im psychischen Lebenszusammenhang zur Wirkung kommen und zwar zur Wirkung kommen auf den verschiedenen Stufen. Aber eine genauere Bestimmung dessen, was wir den genannten Bewußtseinserlebnissen "erklärend" zugrunde zu legen haben, ist eben unmöglich.

In jedem Vorgang liegt aber freilich die Tendenz, zu immer höheren Stufen emporzusteigen. Nur hat er dabei jedesmals die Konkurrenz um die psychische Kraft zu bestehen. Dabei ist aber auch die "Konkurrenz um die psychische Kraft" wiederum nichts als die Konkurrenz um jene  Möglichkeit.  Immer fragt es sich, wie wir wissen, dabei, welche "Energie" der Vorgang hat, und andererseits, wie weit ihm  Einheitsbeziehungen  die Kraft  "zufließen"  lassen und ihm damit erlauben, nur eine niedrigere oder eine höhere Stufe des psychischen Daseins zu erreichen. In keinem Fall aber wissen wir, wie es zugeht, daß die höhere Stufe erreicht wird, d. h. wir wissen nicht, wie es gemacht wird, daß Inhalte da sind, dann Gegenstände gedacht werden, dann Gegenstände im Blickpunkt des geistigen Auges sind. Und schließlich müssen wir sagen: das ganze Reden von "Vorgängen" und "verschiedene Stufen" derselben ist nichts anderes als eine gedankliche  Substruktion  für die entsprechenden Bewußtseinserlebnisse. Es ist nur eben eine solche, die wir vollziehen  müssen,  wenn wir einmal alle diese verschiedenen Bewußtseinserlebnisse, Haben eines Inhaltes, Denken eines Gegenstandes, Apperzeption eines solchen, als an einer Stelle der Wirklichkeit, oder in einer  "Seele  vorkommende, denken. Auch der  "Vorgang"  schon ist ja nichts anderes als das - notwendig als "Vorgang" zu denkende - an sich unbekannte Geschehen, das dem Dasein einer Empfindung oder Vorstellung, dieser  Bewußtseinserlebnisse  in einem individuellen Ich, denkend zugrunde gelegt werden muß.

Die apperzeptive Tätigkeit hat nun aber, wie schon gesagt, in ihrem weiteren Fortgang zwei Seiten. Sie ist auf ihrer höheren Stufe einmal, im engeren Sinne des Wortes,  "ordnende"  Tätigkeit, zum anderen Tätigkeit des  "Befragens",  oder des Denkens "über" etwas, des Nachdenkens. Die letztere kann spezielle als intellektuelle Tätigkeit bezeichnet werden. Wir sprechen aber hier zunächst vom ordnenden Apperzipieren oder vom apperzeptiven Ordnen. Wiederum interessiert uns spezielle hier eine bestimmte Seite dieses Ordnens.

Wir sahen oben psychische  "Vorgänge"  sich besondern und sich vereinheitlichen oder zu einheitlichen Gesamtvorgängen werden. Auch dies ist ein Ordnen. Und sind in den Vorgängen  Gegenstände  gedacht, so sind auch diese  Gegenstände,  sei es qualitativ oder räumlich oder zeitlich, geordnet. Die apperzeptive Tätigkeit  schafft  also nicht  überhaupt  erst Ordnung. Aber sie schafft dieselben in  bewußten Akten.  Und damit wird erst aus jener zunächst nur  ansich  bestehenden Ordnung eine Ordnung  für mich.  Das apperzeptive Ordnen ist das bewußte sondernde Eingreifen und dann weiterhin Zusammengreifen und zueinander in Beziehung Setzen, das als eine spezifische und auf bestimmte Gegenstände gerichtete Tätigkeit, nämlich jenes Blickpunktes des geistigen Auges, von uns unmittelbar erlebt wird. Und daraus erst entsteht uns alles  Wissen  um eine Ordnung.

Doch seien wir nunmehr auch hier etwas genauer. Dieses apperzeptive Ordnen ist, wie soeben schon angedeutet, zunächst Sondern und Zusammenfassen. Dies drücken wir auch so aus: Die ordnende apperzeptive Tätigkeit ist abgesehen davon, daß alle Apperzeption in einem Herausheben, einem Erfassen mit dem geistigen Blick, einem Rücken in den geistigen Blickpunkt, besteht, Einzelapperzeption oder Einheitsapperzeption oder beides zugleich. Die Einzelapperzeption für sich ist das Erfassen oder Umfassen irgendeines ansich Einfachen oder Mehrfachen mit einem einzigen und  einfachen  inneren Griff oder Blick des geistigen Augees. In ihr wird das Erfaßt für mich zum ungeteilten "einen" in sich abgeschlossenen Gegenstand oder gewinnt für mein Bewußtsein das Dasein  für sich.  Diese "Einsheit" ist ja nicht eine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern sie ist eine Bestimmtheit desselben, die ihm für mein Bewußtsein in der Einzelapperzeption  entsteht;  eine  apperzeptive  Bestimmtheit, oder, unter der Voraussetzung eines weiteren Begriffs der "Form", eine apperzeptive  Form  oder Formung des Gegenstandes. Sie ist die Einzigkeit und Einfachheit des Blickes des geistigen Auges, den ich als auf diesen bestimmten Gegenstand bezogen, ihn umschließend und herausheben, und insofern doch wiederum als eine  ihm,  dem Gegenstand, eigene Bestimmtheit, unmittelbar erlebe.

Im Gegensatz zur Einzelapperzeption verstehen wir weiterhin unter der Einheitsapperzeption oder der "apperzeptiven Synthese" diejenige Apperzeption, durch welche einzelne, d. h. in selbständigen oder relativ selbständigen Akten apperzipierte Gegenstände zugleich in einen  einzigen  Akt der Apperzeption zusammengeschlossen, also bewußt für sich oder relativ für sich gesetzte Gegenstände zugleich ebenso bewußt in einen Gesamtgegenstand innerlich zusammengenommen werden. Man denke an den bewußten Zusammenschluß von zugleich relativ für sich betrachteten oder als einzelne gefaßten Tönen zum Ganzen der Melodie; oder von Worten zum Ganzen eines Satzes. Durch solche Einheitsapperzeptionen entstehen, und entstehen  erst,  für mein  Bewußtsein  die  Ganzen aus Teilen.  Die Ganzheit oder das Ganze als solches ist ja ebensowenig wie die Einsheit etwas sinnlich Wahrnehmbares. Auch die Ganzheit ist vielmehr eine apperzeptive Bestimmtheit, d. h. eine solche, die erst in der apperzeptiven Tätigkeit für mich entsteht. Sie ist der unmittelbar erlebte und auf den Gegenstand bezogene, mehrere Blicke in sich fassende oder sie umfassende Blick des geistigen Auges. Sie ist aber eben damit die Zusammengeblicktheit des Gegenstandes oder der Gegenstände selbst, insofern eine Bestimmtheit der  Gegenstände.  Und der Begriff des  Teiles  setzt den des Ganzen wie umgekehrt  voraus.  Teil ist das in einem Ganzen zugleich relativ für sich Betrachtete. Auch "Teile" kann ich demnach nicht sinnlich wahrnehmen. Gegenstände, die für mich zu Teilen eines Ganzen  werden,  ändern sich nicht für die sinnliche Wahrnehmung. Aber ich  erlebe  sie anders. Ich erlebe sie als Gegenstände jener von einem einzigen weiteren Blick umfaßten Blick oder erlebe an ihnen das apperzeptive Hineingenommensein in das Ganze, das sie eben zu Teilen macht. Das Bewußtsein der "Teile", d. h. die Unterscheidung der Teile  im  Ganzen, ist die apperzeptive Analyse, die mithin in der "apperzeptiven Synthese" schon miteingeschlossen liegt.

Zugleich mit diesen Begriffen des Ganzen, des Teils usw., gewinnt aber für uns auch ein weiterer Begriff erst in diesem Zusammenhang seinen Sinn, nämlich der Begriff der  Relation Daß ein Gegenstand zum Teil eines Geanzen oder eines Gesamtgegenstandes geworden ist, dies sagt zugleich, daß er zu den übrigen Teilen des Ganzen in eine bestimmt geartete Relation getreten ist. Wie im Begriff des Ganzen der des Teils, so ist in diesen beiden Begriffen der Begriff der Relation unmittelbar mit eingeschlossen. - Damit ist schon gesagt: Auch von den Relationen gilt wiederum, daß sie von mir nicht wahrgenommen, sondern durch meine Einheitsapperzeption für mich ins Dasein gerufen werden. Das heißt alles Bewußtsein einer Relation entsteht mir im bewußten Zusammenblicken oder Zusammengreifen. Dies ist zugleich  eo ipso  eine bewußte Aufeinanderbeziehung, oder eine bewußte Wechselbeziehung der einzelnen Blicke oder Akte der Apperzeption, in welche die einzelnen Teilgegenstände gefaßt sind. Und im Bewußtsein davon, wie in meiner Aufeinanderbeziehung von Gegenständen die Gegenstände sich zueinander verhalten, besteht das Bewußtsein der Relation zwischen diesen Gegenständen.


Numerische Einheitsapperzeption
und Komplexion

Es ist aber jetzt zunächst eine Unterscheidung von zwei  Grundarten  der Einheitsapperzeption notwendig. Die eine ist die numerische, die andere die komplexe Einheitsapperzeption oder die "Komplexion".

In jener entstehen für mein Bewußtsein die Kollektive von Gegenständen, die Anzahlen, die Mengen, die Zweizahl, Dreizahl usw.; in dieser die komplexen Gegenstände. Ein Beispiel jener ist: "drei Bäume". Ein Beispiel dieser: "die  Gruppe  aus drei Bäumen"; oder auch "der Baum".

In der numerischen Einheitsapperzeption sind die Teilgegenstände "vereinzelt",, d. h.  durchaus für sich  apperzipiert. Das numerische Element oder das Element der numerischen Einheit, das "Eins", entsteht für mein Bewußtsein, oder es entsteht mir der  Begriff  des Eins, in der schlechthin verselbständigenden, oder der  reinen Einzelapperzeption.  Und diese schlechthin verselbständigende oder reine Einzelapperzeption wird nun in der umfassenden Einheitsapperzeption, etwa "drei Bäume", oder "Dreizahl von Bäumen", nicht aufgehoben. Dieselbe  "vereinheitlicht"  in keiner Weise die Gegenstände; sie gibt diesen überhaupt keine Bestimmungen, wodurch irgendwie sie selbst, in ihrem "objektiven" Bestand oder Dasein, getroffen würde; kurz, sie "tut" den Gegenständen selbst "nichts an", sie nimmt schlechterdings mit ihnen nichts vor, als daß sie dieselben in den Geist hineinnimmt und darin zusammennimmt. Sie ist andererseits auch in keiner Weise durch die Bestimmtheit der Gegenstände in ihrem Stattfinden oder Ergebnis bedingt. Sie hat keinerlei Bezug dazu,  was für  Gegenstände sie zusammennimmt, keinerlei Bezug zur  Ähnlichkeit  oder  Verschiedenheit  der zusammengefaßten Gegenstände, zu ihrer zeitlichen oder räumlichen Nähe oder Ferne, zu ihrem objektiven Zusammenhang, etwa dazu, daß der eine Ursache, der andere Wirkung ist usw.; sie ist unabhängig, wie von jeder Qualität des Zusammengefaßten, so auch vom Ort desselben in Raum und Zeit, schließlich selbst von seiner Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit. Darum sind "drei Bäume" ebensowohl "drei" wie drei Häuser, oder wie ein Baum und ein Haus und ein Mensch usw., und ist die "Dreiheit der Bäume" gänzlich davon unabhängig, wohin in Raum und Zeit sie gehören, ob sie wirkliche oder Phantasiebäume sind usw.. Dies drücken wir kurz so aus: die numerische Zusammenfassung ist nichts als Zusammenfassung von "Einsen", d. h. von Gegenständen, die jedesmal in einen schlechthin isolierenden oder vereinzelnden Akt der Apperzeption oder Blick des geistigen Auges gefaßt sind, und  sofern  und  lediglich  sofern sie in einen solchen gefaßt sein, gleichgültig,  was  in den Akten gefaßt ist, oder seinen  Inhalt  ausmacht. Gewiß sind "drei Bäume" drei  Bäume  und nicht drei  Häuser.  Aber das Bewußtsein, daß die drei "Etwase"  Bäume  seien, steht  neben  dem Bewußtsein ihrer Dreiheit. Das letztere ist nichts als das Bewußtseinserlebnis, daß "Eins" und "Eins" und "Eins" zugleich von einem einzigen Apperzeptionsakt, der doch den Inhalt der einzelnen Akte und ihre Selbständigkeit nicht berührt,  umspannt  sind.

Dagegen ist die Apperzeption der Elemente der  komplexen  Einheit immer eine solche, welche die einzelnen Akte nur  relativ  in ihrer Selbständigkeit beläßt. Der umfassende Akt  umspannt  hier nicht einfach die verselbständigenden oder vereinzelnende Akte, sonder er enthält sie  in sich.  Diese sind jedem nicht bloß  unter geordnet, sondern zugleich eingeordnet. Er läßt sie und ihre Inhalte nicht einfach  bestehen,  sondern fügt zu ihren Inhalten etwas hinzu oder macht aus ihnen etwas relativ Neues. Und während bei den Kollektiva zu den einzelnen isolierten und isolierenden Akten ein neuer Akt, nämlich der "umspannende", ohne die Isolierung durch jene Akte aufzuheben, einfach  hinzutritt,  ist bei der komplexen Apperzeption der eine umfassende Akt durch die einzelnen Akte in sich selbst geteilt oder  gegliedert.  Will man ein Bild, so denke man sich das eine Mal mehrere durch Zwischenräume getrennte, also durchweg für sich stehende, Kreisbogen von einem neuen weiteren Kreisbogen umfaßt; ein anderes Mal dagegen mehrere Kreisbogen durch verbindende Stege in einen einzigen Linienzug verwandetl oder die mehreren Kreisbogen in Form eines größeren Kreisbogens aneinandergefügt, so daß sie zusammen einen einzigen Bogen, aber mit bogenförmigen  Ausbauchungen,  bilden, oder man denke sich mehrere Wellen zu einer Gesamtwelle vereinigt, die in sich mehrere, mehr oder minder heraustretenden, Wellengipfel zeigt. Jenes ist das Bild der numerischen, dies ist das Bild der komplexen Einheitsapperzeption. Zugleich versinnlicht das Aneinander der Bogen einerseits, die Gesamtwelle andererseits, den Gegensatz der  beiden Arten  der komplexen Einheitsapperzeption, die alsbald zu unterscheiden sein werden, der  Verknüpfung  und der  Verwebung. 

Aus dem Gesagten ergibt sich von selbst, daß die durch die numerische Einheitsapperzeption oder numerische "Zusammenfassung" geschaffene Einheit immer eine Einheit derselben Art und immer die gleiche  gradlose  Einheit ist. Dagegen können komplexe Einheitsapperzeptionen oder "Komplexionen" unendlich viele Weisen und Grade der Vereinheitlichung und Grade der Selbständigkeit der Teile in sich schließen. Eine numerische Einheit kann ja gewiß andere, und auch mehr oder weniger Gegenstände umfassen, aber sie kann sie nicht anders, oder mehr oder weniger umfassen; sie kann nicht eine anders beschaffene und nicht eine innigere Einheit sein, als eine andere. Die Einheit eines Akkordes dagegen oder einer Melodie, in einem anderen Sinn auch die eines räumlichen Ganzen, eines Sternbildes etwa, in dem viele Sterne räumlich zusammengeordnet sind, kann eine anders beschaffene und auch eine innigere und minder innige, geschlossenere oder weniger geschlossene sein.

Und darin liegt im Grunde schon, daß Kollektive, Anzahlen, Mengen, "drei Bäume" etwa, nicht Eigenschaften oder Merkmale haben können, die nicht auch den einzelnen Gegenständen - den einzelnen Bäumen für sich - zukommen. Dagegen haben komplexe Gegenstände jederzeit ihre eigenen "Gesamt"- oder "Komplexqualitäten": Der Akkord etwa ist harmonisch oder disharmonisch, und er ist das eine oder das andere als ein  Ganzes  und  nur  als ein Ganzes. Und auch das Sternbild hat eine "Gesamtform", die nicht die Form der einzelnen Sterne ist, usw.

Und endlich drittens: Die numerische Zusammenfassung ist, da sie ansich mit irgendeiner Bestimmtheit der numerisch zusammengefaßten Gegenstände nichts zu tun hat, von der Natur der Gegenstände absolut unabhängig. Alle Gegenstände erlauben in gleicher Weise jede beliebige numerische Zusammenfassung. Dagegen ist die komplexe Einheitsapperzeption, oder die Einheitsapperzeption, in welcher die komplexen Gegenstände entstehen, jederzeit irgendwie durch die vereinheitlichten Gegenstände bedingt oder mitbedingt. So ergeben andere Töne eine andere Melodie; und Farben überhaupt keine Melodien. Und es ist die räumliche Zusammenfassung von beliebigen Sternen zu einem Sternenbild - freilich in gewisser Weise willkürlich, sofern ich eben  beliebige  Sterne zusammenfasse. Aber sie ist doch zugleich von ihren räumlichen Bestimmungen abhängig.


Verknüpfung und Verwebung

Wir müssen aber jetzt ausdrücklich die oben bereits angedeutete Unterscheidung zweier Möglichkeiten der Komplexion vollziehen; nämlich die Unterscheidung zwischen "Verknüpfung" und "Verwebung".

Als Beispiel jener könnte nun zunächst die "Verknüpfung" des Rot mit der Rose zum Gesamtgegenstand "rote Rose" angeführt werden. Ich meine hier die Verknüpfung des Rot mit seinem Substrat, dem Ding, als die "Verknüpfung", die darin besteht, daß das Rot als "Eigenschaft" eines Dings gedacht, oder daß ihm ein Ding, dem es "inhäriert" denkend "zugrunde" gelegt wird. Doch dieses zugrunde Legen, das völlig eigener Art ist, ist hier nicht speziell mit der Verknüpfung gemeint.

Dagegen fällt unter diesen Begriff die Verknüpfung verschiedener Eigenschaften  eines  Dinges  durch  die  Einheit des Dinges,  etwa die Verknüpfung der Farbe und des Geruchs ein und derselben Rose in der Einheit dieser Rose.

Dieser "dinglichen" Verknüpfung - wie wir eine solche Verknüpfung in einem einzigen Ding kurz nennen wollen - steht dann weiter am nächsten die "inhaltliche" Verknüpfung, d. h. die Verknüpfung von Merkmalen in einem in jedem Merkmal selbst mitgegebenen, ihren "Inhalt" mitkonstituierenden Moment als ihrem Einheispunkt, oder die Verknüpfung verschiedener Merkmale in einem einzigen "Träger" derselben, z. B. die Verknüpfung einer Tonhöhe und einer Tonfärbung in einem einzigen "Ton", als verschiedene "Merkmale" desselben.

Endlich aber und vor allem gehört hierin die räumliche oder zeitliche Verknüpfung oder Zusammenordnung, z. B. die zeitliche Zusammenfügung beliebiger Töne zum Ganzen einer Tonreihe, oder die räumliche Zusammenordnung irgendwelcher Sterne zum Ganzen eines Sternbildes.

Von allen diesen Arten der Verknüpfung ist nun die Verwebung grundsätzlich verschieden. Wir bezeichnen den Unterschied am einfachsten dadurch, daß wir sie als  "qualitative",  wir könnten auch sagen: als  "innere" Vereinheitlichung  der räumlichen, zeitlichen usw., kurz, der "äußeren" Zusammenfügung entgegenstellen. Ein Beispiel einer Verwebung ist etwa die Vereinheitlichung von Tönen - nicht "zu" einer Tonreihe, sondern der Töne der Tonreihe, oder  innerhalb  der Tonreihe, zum Ganzen einer  Melodie,  oder die Vereinheitlichung gleichzeitiger Töne zum Ganzen eines  Akkordes  oder aller möglichen  Farben  überhaupt zur Einheit des  Farbenkontinuums.  Die Melodie aus 10 Tönen etwa ist nicht die 10 Töne, noch die zeitliche Folge der 10 Töne, sondern sie ist das völlig Neue und Eigenartige  aus  den einander folgenden Tönen, das Ergebnis der völlig neuen Stufe oder Art der Verbindung, die wie eben "Verwebung" oder  "qualitative  Vereinheitlichung" nennen.

Im übrigen diene der Unterscheidung der jetzt unterschiedenen  drei  Arten der apperzeptiven Verbindung oder "apperzeptiven Synthese" folgendes Allgemeine: Jede Zusammenfassung oder Verbindung überhaupt setzt ein Medium oder einen Boden voraus, in, bzw. auf welchem sich die verbundenen Gegenstände treffen und sich miteinander verbinden. Dieser Boden nun ist bei der numerischen Zusammenfassung lediglich das zusammenfassende Ich, also das Bewußtsein. Dagegen ist die  Verknüpfung  jederzeit zugleich Verknüpfung in einem vom Verknüpften verschiedenen  gegenständlichen  Medium. Die Verknüpfung ist insofern Ordnung in der  gegenständlichen  Welt. Die verknüpften Elemente oder Teilgegenstände werden  als  in diesem Etwas zusammen  seiend  gedacht. Bei der Verwebung endlich ist das Medium oder der Boden, in oder auf welchem die Elemente zusammentreffen und sich vereinheitlichen, wiederum einzig der Geist oder das Ich. Die Verwebung ist Ordnung im  Geiste.  Andererseits aber ist für die  Verwebung  ein Moment charakteristisch, wodurch sie sowohl der numerischen Zusammenfassung als auch der Verknüpfung entgegentritt.

Jene ist, wie gesagt, von der Beschaffenheit der numerisch zusammengefaßten Gegenstände unabhängig. Ich kann numerisch zusammenfassen, kann "zusammenzählten", was und wie es mir beliebt. Und die Verknüpfung, etwa zu einem  räumlichen  Ganzen, z. B. beliebiger Sterne zu einem Sternbild, ist zwar, wie gesagt, insofern durch die Beschaffenheit der verknüpften Gegenstände bestimmt, als sie einer solchen  Art  der Verknüpfung, in unserem Fall der bestimmten  räumlichen  Verknüpfung, ihrer Natur nach zugänglich sein müssen; die Verknüpfung ist aber davon, wie beschaffen die verknüpften Gegenstände in sich  selbst  sind, gleichfalls unabhängig: Ich kann die am Himmel vorhandenen Sterne, welcher Art sie auch sind, welche Größe etwa oder Farbe sie auch haben mögen, beliebig zu diesen oder jenen Sternbildern vereinigen. Im Gegensatz dazu ist, wie wir sahen, die Verwebung - man nehme als Beispiel etwa wiederum die Verwebung von Tönen zu einer Melodie - ganz und gar durch die  Beschaffenheit  ihrer Elemente, in unserem Fall durch die Qualität insbesondere die Höhe, der aufeinanderfolgenden Töne,  bedingt.  Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, daß bekanntlich, wenn nicht in jeder Hinsicht "dieselbe", so doch eine  gleichartige  Melodie aus ganz anderen Tönen gebildet oder "gewoben" werden kann. Ich brauche nur eine Melodie in eine höhere oder tiefere, kurz eine neue Tonlage, zu übertragen. Aber dabei steht doch jedesmal, wenn ein einziger der neuen Töne hinsichtlich seiner Höhe bestimmt ist, auch die Höhe der sämtlichen übrigen Töne ohne weiteres fest. Und zwar ist eben der Umstand, daß die Melodie aus diesen neuen Tönen, wiederum  "dieselbe" Melodie  sein soll, dasjenige, was diesen übrigen Tönen ihre bestimmte Höhe anweist. Es bleibt also doch dabei, daß bei der Verwebung die  Beschaffenheit  der Elemente die  Weise  der Verwebung bestimmt, also ganz und gar entscheidet, was für ein Ganzes durch die Verwebung zustande kommt. Dies ist es dann auch, was wir ausdrücklich anerkennen, wenn wir die Verwebung als qualitative, d. h. eben als auf der Qualität ihrer Elemente beruhende Vereinheitlichung bezeichnen.

Indem aber irgendwelche Gegenstände, etwa aufeinanderfolgende Töne, qualitativ vereinheitlicht oder verwoben werden, entsteht nicht nur das neue  Ganze  mit einer Eigenart, die nicht Eigenart der Elemente ist, in unserem Fall die bestimmt geartete Melodie, sondern es wird auch das  einzelne Element  in gewisser Weise zu einem neuen Gegenstand, es gewinnt eine andere psychische Daseinsweise, die Elemente durchdringen sich in gewisser Weise qualitativ, erscheinen jedes im Licht oder unter dem Gesichtspunkt aller übrigen, ihre eigene Farbe wird sozusagen durch die gemeinsame Färbung, den "Ton" des Ganzen beherrscht oder darauf gestimmt. So sind die Töne einer Melodie innerhalb der Melodie nicht blo diese bestimmten Töne, sondern sie sind Tonika, Dominante, Durchgangston, Schlußton und dgl., jedesmal mit eigentümlichem Charakter oder eigentümlicher psychischer Daseins- und Wirkungsweise.

Und sie werden dies  durch die Melodie.  Und auch dies wiederum unterscheidet sie von den bloß verknüpften, etwa räumlich oder zeitlich verknüpften Gegenständen. Auch diese freilich erscheinen innerhalb der Verknüpfung in einem neuen Licht, aber nur im Licht dieses oder jenes räumlichen oder zeitlichen, kurz  gegendständlichen Geordnetseins,  nicht in einem neuen  qualitativen  Licht, im Licht dieses oder jenes Aufeinanderbezogenseins durch ein ihnen  selbst fremdes Medium,  etwa den Raum,  hindurch,  aber nicht im Licht einer  durch sie selbst hindurchgehenden Färbung. 

Das heißt jedoch nicht: Die Töne, diese von meinem Bewußtsein unabhängigen  Gegenstände,  sind ansich oder  "objektiv"  durch die Einfügung in die Melodie andere geworden, so daß sie nun auch  abgesehen  von meiner Weise sie zusammen zu apperzipieren, andere wären, sondern sie sind andere nur in mir, sie haben in mir uns sonst nirgends eine eigende Daseinsweise gewonnen. Meine apperzeptive Vereinheitlichung der Töne ist eine relative Aufhebung der Daseinsweise, die sie außerhalb der Melodie haben, oder die ich ihnen durch die  vereinzelnde  Apperzeption zuteil werden ließe.

Sofern nun aber die Akte der Apperzeption der einzelnen Töne  meine  Akte sind und die apperzeptive Vereinheitlichung eine Daseins- oder Betätigungsweise meiner selbst ist, ist jenes Neue, die Melodie, und ist die Veränderung, welche die Töne in ihr erfahren, etwas Neues bzw. eine Veränderung im  Ich Es ist eine neue oder andere Weise, wie ich  mich erlebe.  Ich erlebe  mich  als einen Neuen, in einer neuen Daseinsweise. Nichts anderes als diese neue Daseinsweise meiner selbst, diese eigene Weise in den Tönen mich zu betätigen ist die  "Melodie",  und ist jenes Neue an den Tönen, sofern sie in die Einheit der Melodie aufgenommen sind. Ihre  Einheit  insbesondere ist die Einheit des apperzipierenden Ich.

Zugleich aber erlebe ich doch auch wiederum meine ganze Verhaltensweise, erlebe also mich,  in den Tönen;  ich erlebe in der Einheitsapperzeption der Töne die Töne  selbst  als vereinheitlicht oder als dies, durch meine vereinheitlichende Apperzeption zum  Ganzen  Gewordene. Und ich erlebe die einzelnen Töne als verändert, nämlich als in die Einheitsapperzeption aufgenomene und in ihr verwobene, erlebe, wie schon gesagt, diese neue  Daseinsweise  der  Töne. 

Damit ist der Sinn des "Neuen", das die Melodie im Gegensatz zu den einzelnen Tönen in sich birgt, und es ist zugleich der Sinn der Veränderung, welche die einzelnen Töne in der Melodie erfahren, bezeichnet. Das Neue und die Veränderung besteht, kurz gesagt, im Durchdrungen sein der Gegenstände von der Einheit des Ich und seiner vereinheitlichenden Tätigkeit, in diesem "Geordnetsein im Geiste". In dieser Durchdringung, oder der Verwebung, gewinnen die Töne, als solche, das Besondere, nicht mehr bloß diese Töne, sondern eben vom vereinheitlichenden Ich durchdrungen, zur "Melodie" in meinem Geist verwoben zu sein; sie gewinnen den "Aspekt", den eben ein Ton dadurch gewinnt, daß er in eine bestimmte Melodie und an eine bestimmte Stelle derselben eingefügt, d. h. in einer bestimmten Weise im Geist mit anderen Tönen verwoben ist.
LITERATUR - Theodor Lipps, Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1909