tb-1Aufgabe der deutschen PhilosophieÜber das sogenannte Erkenntnisproblem     
 
EDUARD ZELLER
Über Bedeutung und
Aufgabe der Erkenntnistheorie

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"Die Wahrnehmung zeigt und immer nur ein Zusammen sein  oder eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen; das Denken fügt dazu die Vorstellung ihres Zusammen hangs.  Jene begnügt sich mit den Tatsachen, dieses fragt nach den Ursachen; und diesen Begriff mit den reinen Empirikern in jenen aufzulösen ist durchaus unstatthaft."

"Alle unsere Objektvorstellungen sind Hypothesen, Vermutungen über das Ansich dessen, was uns in der Wahrnehmung nur als Erscheinung gegeben ist."

Zusätze 2.

Von beiden unterscheidet sich nun das  Denken  dadurch, daß es den Anspruch auf objektive Notwendigkeit macht, daß es das Mannigfaltige der Erfahrung unter der Bestimmung der Notwendigkeit verknüpft. Die Wahrnehmung zeigt und immer nur ein Zusammen sein  oder eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen; das Denken fügt dazu die Vorstellung ihres Zusammen hangs.  Jene begnügt sich mit den Tatsachen, dieses fragt nach den Ursachen; und diesen Begriff mit den reinen Empirikern in jenen aufzulösen ist durchaus unstatthaft. Wenn wir von einer Ursache reden, so wollen wir damit nicht bloß diejenige Erscheinung bezeichnen, auf die eine andere regelmäßig folgt oder mit der sie regelmäßig verknüpft ist. Der Tag folgt regelmäßig auf die Nacht und die Nacht auf den Tag; aber der Tag ist nicht die Ursache der Nacht und die Nacht nicht die Ursache des Tages. Das Sinken des Thermometers und das Gefrieren des Wassers sind regelmäßig verknüpft; aber doch ist keines von beiden Ursache des andern. Unter einer Ursache verstehen wir vielmehr dasjenige, durch welches ein anderes bewirkt wird, d. h. aus dem es mit Notwendigkeit hervorgeht; unter einem Kausalzusammenhang dasjenige Verhältnis verschiedener Dinge oder Vorgägne, vermöge dessen das eine aus dem andern oder beide aus einem dritten mit Notwendigkeit folgen. Möchte man nun auch in diesem Verhältnis metaphysische Schwierigkeiten finden oder möchte man glauben, die Ursachen der Dinge zu ergründen seien wir nicht imstande, statt daher nach ihnen zu fragen, sollte sich unsere Wissenschaft darauf beschränken, die tatsächliche Verknüpfung der Erscheinungen zu beschreiben: immer wirdman doch einräumen müssen, daß der Begriff der Ursache noch etwas anderes ausdrückt, als ein bloß tatsächliches Verhältnis, daß wir diesen Begriff nur da anwenden, wo wir wirklich in dem einen den Grund des andern suchen.

Dies geschieht aber nicht bloß in den Fällen, von denen der Begriff der Ursache zunächst abstrahiert ist: wenn wir von Dingen oder Vorgängen reden, durch welche andere Dinge oder Vorgänge oder von Kräften, durch welche gewisse Wirkungen hervorgebracht werden; sondern der Gedanke eines Kausalverhältnisses liegt allen unseren Vorstellungen über einen objektiven Zusammenhang der Dinge zugrunde. Wenn wir unsere Wahrnehmungen auf Dinge außer uns beziehen, so kann das nur dadurch geschehen, daß wir sie als eine Wirkung dieser Dinge betrachten. Denn da die Dinge selbst außer uns bleiben, da uns in den Vorstellungen, deren Stoff die Empfindungen uns liefern, nicht die Dinge gegeben werden, sondern nur ihr  Bild,  so läßt sich schlechterdings kein anderer Weg denken, auf dem wir zur Anschauung der Dinge kommen könnten: diese Anschauung entsteht in uns, wie das schon HUME und KANT nachgewiesen haben, und unter den gegenwärtigen Forschern namentlich HELMHOLTZ mit Recht annimmt, durch einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache. Wir bemerken davon freilich nichts, wir glauben, die Dinge selbst seien unserem Auge oder unserer tastenden Hand unmittelbar gegeben; aber das beweist nicht, daß unsere Denktätigkeit bei der Bildung der Objektsvorstellungen nicht beteiligt ist, sondern nur, daß wir uns derselben in diesem wie in vielen anderen Fällen nicht bewußt sein, daß der Schluß, durch den jene Vorstellungen in uns entstehen, ein unwillkürlicher und unbewußter ist. Wenn wir ferner einem Ding gewisse Eigenschaften beilegen, setzen wir voraus, daß die Erscheinungen, welche wir unter dem Begriff jener Eigenschaften zusammenfassen, von diesem Ding beigebracht werden. Wenn wir z. B. einen Körper  rot  nennen, so heißt das: er ist so beschaffen, daß er die Erscheinung des Roten hervorbringt, rotes Licht reflektiert oder durchläßt; wenn wir saen, Blei sei schwerer, als Wasser, so ist das ein Ausdruck der Tatsache, daß es im Wasser sinkt, durch seine Bewegung nach unten das Wasser verdrängt. Alle Eigenschaftsbegriffe sind Kausalbegriffe, sie drücken nichts anderes aus, als die Wirkungen gewisser Dinge, sofern diese Wirkungen als konstante, aus der Natur der Dinge hervorgehende, betrachtet werden. Aus den Eigenschaftsbegriffen setzen sich aber unsere Art-und Gattungsbegriffe zusammen. Jeder dieser Begriffe bezeichnet eine Reihe von Eigenschaften, die bei einer kleineren oder größeren Anzahl von Einzeldingen regelmäßig in einer bestimmten Verbindung vorkommen; und wenn wir das Wesen eines Dings durch Angabe seines Gattungsbegriffs bezeichnen, so wollen wir damit ausdrücken: durch dieses bestimmte Zusammentreffen gewisser Eigenschaften werde es zu dem, was es ist. Allen unseren Aussagen über das Wirkliche liegen schließlich (wie das nach HUME namentlich SCHOPENHAUER erkannt hat) Kausalvorstellungen zugrunde: alle Kategorien der Objektivität sind bestimmte Anwendungen oder Modifikationen der Kategorie der Kausalität.

Wie entsteht nun aber der Begriff der Kausalität in uns selbst? Oder wenn dieser Begriff als solcher, wie jeder allgemeine Begriff, von bestimmten Erfahrungen abstrahiert ist, wenn uns zuerst nur konkrete Kausal verhältnisse  gegeben sind, einzelne Fälle von Erscheinungen, die uns den Eindruck eines Kausalzusammenhangs machen, wenn wir dann aus diesen zunächst spezielle Kausalbegriffe ableiten und nur allmählich zu umfassenderen und schließlich zum allgemeinen Begriff der Kausalität aufsteigen: wie kommen wir ursprünglich dazu, irgendwelche Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt der Kausalität aufzufassen, irgendwelche Dinge und Vorgänge in das Verhältnis der Ursache und Wirkung zu setzen? Die  Veranlassung  dazu liegt natürlich immer in den näheren Umständen eines gegebenen Falls. Wir beziehen unsere Empfindungen auf Gegenstände außer uns, weil sie uns etwas neues, aus unseren bisherigen Vorstellungen nicht zu erklärendes, bringen und weil sie uns dieses so unwiderstehlich aufdrängen, daß wir es nicht aus unserer eigenen Tätigkeit abzuleiten wissen. Wir betrachten eine Erscheinung als Ursache einer anderen, weil unsere Erfahrung uns gezeigt hat, daß die erste der zweiten immer voranging und die zweite nie ohne diese Bedingung vorkam; oder wir schließen vielleicht auch aus der gleichen Wahrnehmung unter Umständen, daß beide eine gemeinsame Ursache haben. Wir legen einem Ding gewisse Eigenschaften bei, weil wir die ihnen entsprechenden Erscheinungen immer mit ihm verknüpft fanden usw. Allein damit ist die Frage nicht beantwortet: was uns bestimmt, aus diesem tatsächlich Gegebenen auf gewisse Ursachen und ursächliche Verbindungen zu schließen, was für uns der allgemeine Grund der Kausalverknüpfung überhaupt ist? In der Erfahrung als solcher, in dem, worüber uns die Wahrnehmung für sich allein unterrichtet, kann er nicht liegen. Denn die Erfahrung in diesem Sinn zeigt uns, wie schon KANT bemerkt hat, zwar ein Geschehen, aber das unterscheidende Merkmal des Kausalitätsverhältnisses, die Notwendigkeit dieses Geschehens, fehlt ihr, sie sagt uns höchstens, daß in allen bis jetzt beobachteten Fällen unter gewissen Umständen ein gewisser Erfolg eingetreten  sei;  daß er dagegen durch dieselben  bedingt  gewesen sei, daß er unter diesen Bedingungen in allen Fällen überhaupt in der gleichen Art eintreten werde, das sagt uns die bloße Wahrnehmung nicht, wie oft und wie gleichmäßig sie sich auch wiederhole und sie kann es uns nicht sagen, weil es an sich selbst gar kein Gegenstand der Wahrnehmung ist, sondern ein Gedanke, den wir zur Wahrnehmung hinzubringen. Andererseits kann aber nicht allein der  Begriff  der Kausalität, wie bemerkt, kein apriorischer, von der Erfahrung unabhängiger Begriff sein, sondern auch das  Kausalitäts gesetz kann uns nicht  a priori,  als ein angeborenes Denkgesetz, gegeben sein. Denn apriorisch oder angeboren sind nur die Gesetze unserer eigenen Geistestätigkeit, da sich diese aus unserer geistigen und körperlichen Natur ergeben. Die Gesetze des objektiven Geschehens dagegen, die, von welchen die Vorgänge außer uns abhängen, entspringen nicht aus unserer Natur, sondern aus der Natur der Dinge, für die sie gelten. Uns können weder diese Gesetze selbst noch die Kenntnis derselben  a priori  innewohnen; sie können uns nur aus der Erfahrung bekannt werden. Das Kausalitätsgesetz aber gehört zu diesen objektiven Gesetzen: es enthält nicht bloß eine Aussage über die Beschaffenheit und die Bedingungen unserer Denktätigkeit, sondern eine Aussage über die Gründe und den Zusammenhang der Dinge überhaupt; es kann von uns daher nicht durch bloße Selbstbeobachtung, sondern nur dadurch gefunden werden, daß mit dieser sich die Beobachtung der Außenwelt im weitesten Umfang verbindet. Ist es nun aber doch in der unmittelbaren Beobachtung als solcher, wie wir gesehen haben, nicht gegeben, so bleibt nur übrig, daß es mittelbar aus ihr entspringe. Es ist weder ein apriorisches Gesetz unseres Denkens noch eine Tatsache der Erfahrung dadurch gewonnen, daß wir dieselbe nach einem apriorischen Denkgesetz beurteilen. Dieses Denkgesetz aber ist das des  Grundes.  Wenn das Denken überhaupt darin besteht, daß das gegebene Mannigfaltige unter der Bestimmung der Notwendigkeit verknüpft, der Zusammenhang derselben erkannt wird, so ist die negative Bedingung dieser Verknüpfung die, daß die Vorstellungen, welche verknüpft werden sollen, dieser Verknüpfung nicht widerstreiten, daß sie sich nicht ausschließen, sich nicht widersprechen; und es läßt sich insofern das allgemeinste negative Gesetz des Denkens im Satz des Widerspruchs, d. h. in dem Satz aussprechen: "Widersprechendes kann nicht zur Einheit des Gedankens zusammengefaßt werden." Seine allgemeinste positive Bedingung dagegen liegt darin, daß die Verknüpfung des Mannigfaltigen, in welcher das Denken besteht, eine notwendige, daß sie durch den Inhalt der zu verknüpfenden Vorstellungen gefordert sei; und das wird dann der Fall sein, wenn sich die eine von diesen Vorstellungen nicht ohne die andere vollziehen, sich nicht vollständig denken läßt, wenn aus der einen die andere mit Notwendigkeit hervorgeht: wenn jene der Grund ist, diese die Folge. Das allgemeinste positive Denkgesetz drückt daher der Satz aus: "Jede gedankenmäßige Verknüpfung eines Mannigfaltigen erfolgt im Verhältnis des Grundes zur Folge," jeder Fortgang des Denkens ist an den Zusammenhang von Grund und Folge geknüpft. Aus diesen Denkgesetz entspringt dann freilich, als die Bedingung seiner Anwendbarkeit, die Voraussetzung, daß auch unter den Dingen und Vorgängen, welche den Gegenstand unseres Denkens bilden, ein Zusammenhang stattfinde, der vom einen auf das andere zu schließen erlaubt; und das ist nicht möglich, wenn sie nicht miteinander in Kausalzusammenhang stehen. Denn eines läßt sich aus dem aneren nur dann erschließen, wenn es so notwendig mit ihm verknüpftist, daß jene überall ist, wo dieses sich findet; und eine solche Verknüpfung findet nur dann statt, wenn jenes von diesem als seine Ursache (oder eine seiner Ursachen) vorausgesetzt wird oder wenn es als seine Wirkung aus ihm folgt oder wenn es zugleich mit ihm aus einer gemeinsamen Ursache hervorgeht. Die Annahme eines Kausalzusammenhangs unter den Dingen ist insofern allerdings eine unmittelbare Folge des Denkgesetzes, welches der Satz des Grundes ausdrückt; was Gegenstand unseres Denkens werden soll, von dem müssen wir voraussetzen, daß es mit anderem von uns gedachtem in einem Kausalzusammenhang stehe und wir müssen deshalb schließlich zwischen allem Denkbaren oder was dasselbe ist, zwischen allem Wirklichen, einen solchen Zusammenhang voraussetzen. Aber diese Folgerung ergibt sich doch erst dadurch, daß wir das Gesetz des Grundes auf ein Gegenständliches anwenden, das letztere nach jenem Gesetz beurteilen; und da uns nun ein Gegenständliches nur in der Erfahrung gegeben ist, läßt sich das Gesetz der Kausalität nicht unmittelbar als ein apriorisches Gesetz, sondern nur als die Folge eines apriorischen Gesetzes in dessen Anwendung auf die Erfahrung auffassen.

Diese Ausnahme bezieht sich nun auf alle Erfahrungen ohne Ausnahme: alles, was uns in der Erfahrung gegeben oder aus der Erfahrung erschlossen werden kann, müssen wir nach dem Gesetz des Grundes beurteilen und daher in einen Kausalzusammenhang mit anderem stellen. Aber über die nähere Beschaffenheit dieses Zusammenhangs bestimmt das Kausalgesetz in dieser seiner Allgemeinheit noch nichts; diese läßt sich vielmehr erst aufgrund der wirklichen Erfahrung ausmitteln. Alle unsere Kausalbegriffe und somit alle unsere Annahmen über die objektive Beschaffenheit der Dinge, sind Hypothesen, durch welche wir uns die uns in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen zu erklären suchen. Eben deshalb ist aber auch ihr näherer Inhalt ganz und gar durch die empirische Erforschung des Wirklichen bedingt. Nur an der Hand der Erfahrung, nicht durch allgemeine Folgerungen aus dem Kausalgesetz, kam man dazu, die verschiedenen Arten des Kausalzusammenhangs zu unterscheiden, die anfängliche Personifikation aller wirkenden Kräfte zu berichtigen; nur auf sie können sich auch alle allgemeinen Aussagen über die Natur und die Wirkungsart der Ursachen stützen: wir werden sie bloß in dem Fall für unbedingt richtig halten können, wenn sich alles Gegebene aus ihnen erklären läßt; in demselben Maße dagegen, wie sich etwas zeigt, was dieser Erklärung widerstrebt, müssen wir ihren Geltungsbereich einschränkten und den Kausalitätsbegriff als solchen, der auf Allgemeingültigkeit Anspruch macht, modifizieren.

Je vollständiger man sich nun die subjektiven Bedingungen vergegenwärtigt, an die alle unsere Vorstellungen geknüpft sind, umso mehr steigt das Gewicht der kantischen Zweifel an der Möglichkeit eines objektiven, über die bloße Erscheinung hinausführenden Wissens; und es fragt sich, ob es einen Weg gibt, KANTs Folgerungen zu entgehen.

Jener Zweifel gründet sich im allgemeinen auf die Subjektivität der Vorstellungsformen, unter denen wir die Dinge auffassen. Indessen findet sich dieser Grund nicht auf alle apriorischen Elemente unserer Vorstellungen die gleiche Anwendung. Von den allgemeinen Denkgesetzen können wir unmöglich annehmen, daß sie nur subjektive Bedeutung haben, auf die Dinge dagegen nicht anwendbar seien. Wenn es uns unmöglich ist Widersprechendes zusammenzu denken,  so ist es uns auch unmöglich zu glauben, daß Widersprechendes zusammen sein  könne; d. h. wir sind durch die Natur unseres Denkens genötigt, das Zusammensein des Widersprechenden für unmöglich zu erklären und die Behauptung, daß es dennoch möglich sei oder sein könnte, hebt sich selbst auf. Nur dann könnten wir diese Behauptung abweise, wenn uns die tatsächliche Wirklichkeit dessen nachgewiesen würde, was unser Denken für unmöglich zu erklären genötigt ist; was aber freilich einem Verzicht auf allen Verstandesgebrauch gleichkäme. Aber wie sollte jener Nachweis geführt werden und wie läßt es sich denken, daß er jemals geführt werden könnte? da ja das, was uns nach einem allgemeinen Denkgesetz als unmöglich erscheint, niemals von uns als wirklich anerkannt werden kann. Das gleiche gilt aber auch vom positiven Grundgesetzt unseres Denkens. Wenn wir durch die Natur desselben genötigt sind, unsere Gedanken im Verhältnis des Grundes und der Folge zu verknüpfen, so sind wir auch zu der Annahme genötigt, daß diesem Verhältnis in der gegenständlichen Welt das der Ursache und Wirkung entspreche; denn ohne diese Annahme wäre es uns unmöglich, jemals von dem einen auf das andere zu schließen, einen Zusammenhang unserer Gedanken herzustellen. Ob dieser Schluß in einem gegebenen Fall materiell richtig ist, ob die Ursachen und Kausalzusammenhänge für diesen Fall richtig erkannt sind, ja ob er überhaupt möglich ist, sie zu erkennen, das läßt sich allerdings nur nach weiteren Erwägungen entscheiden; die allgemeine Voraussetzung dagegen, daß eine Kausalverknüpfung unter den Dingen wirklich bestehe und nicht erst von uns in sie hineingelegt werde (gesetzt auch, ihre nähere Beschaffenheit müßte uns durchaus unbekannt bleiben), können wir deshalb nicht bezweifeln, weil mit ihr jede Möglichkeit des Denkens aufgehoben würde. Auch KANT, der sie zu bezweifeln versucht hat, konnte diesen Zweifel nicht durchführen. Wenn er von unserer Vorstellungstätigkeit als der unsrigen redet, führt er die Vorstellungen auf das Ich als ihre Ursache zurück; wenn er in der Einheit des Selbstbewußtseins die Wurzel der apriorischen Denkformen (der Kategorien) erkennt, behandelt er jenes als die Ursache, diese als die Wirkung; wenn er das Ding-an-sich für den realen Hintergrund der Erscheinungen erklärt, schließt er von den letzteren auf das erstere nach der Kategorie der Kausalität; verwickelt sich aber ebendamit in den Widerspruch, den ihm schon einige gleichzeitige Gegner so scharf vorgerückt haben, daß er diese Kategorie auf das Ding an sich anwendet, während er doch die Anwendbarkeit aller Kategorien grundsätzlich auf die Erscheinung beschränkt wissen will.

Ebensowenig, wie die Geltung der allgemeinen Denkgesetze, läßt sich die Wahrheit derjenigen Tatsachen bezweifeln, welche uns in unserem Selbstbewußtsein als solchem gegeben sind. Es wäre widersinnig zu sagen: ich zweifle, ob ich existiere; so verwickelt auch die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Subjekts sein mag, das sich selbst als Ich fühlt und anschaut. Es wäre der gleiche Widerspruch, zu fragen, ob die Vorstellungen, Gefühle, Willensakte wirklich in uns sind, die wir zu haben glauben; da in diesem Fall das "Sein" gar nichts anderes bedeutet, als "im Bewußtsein Gesetztsein". Über die Wahrheit, die Deutlichkeit, die letzten Gründe seiner Vorstellungen, über die Lauterkeit, die Kräftigkeit, die Dauerhaftigkeit, die Motive seiner Empfindungen und Entschlüsse kann man sich täuschen, aber nicht über ihr Vorhandensein. Wenn jemand etwas zu sehen glaubt, so ist es gewiss, daß ihm dieses Bild vor der Seele steht; gesetzt auch, es entspräche demselben gar kein Gegenstand außer ihm. Wenn jemand Schmerz oder Lust zu empfinden meint, so empfindet er sie auch; so wenig er vielleicht zu dem einen oder dem anderen Grund haben mag. Wenn jemand den Entschluß faßt, etwas zu tun oder zu lassen, so ist es zwar sehr möglich, daß er diesem Entschluß nicht treu bleibt; aber in dem Moment, in dem er denselben gefaßt zu haben überzeugt ist, hat er ihn auch gefaßt, nur nicht so kräftig und beharrlich, wie er sich zutraut. Die Tatsächlichkeit der inneren Vorgänge, die uns unser Selbstbewußtsein ankündigt, läßt sich nicht anfechten, so fraglich auch diejenigen Momente derselben sein mögen, welche nicht unmittelbar ins Bewußtsein eintreten, sondern aus den wirklichen Bewußtseinserscheinungen erst erschlossen oder zur Vervollständigung derselben hinzugedacht werden.

Schon hieraus folgt nun auch die objektive Wahrheit derjenigen Anschauungsformen, welche sich auf die inneren so gut, wie auf die äußeren Wahrnehmungen beziehen. Wenn es unleugbar ist, daß wir in unserer Vorstellung verschiedene Gegenstände unterscheiden, so ist es auch unleugbar, daß uns wenigstens in den Bildern dieser Gegenstände eine Vielheit und somit ein Zählbares, gegeben ist; wie andererseits die Einheit des Selbstbewußtseins beweist, daß es wirklch ein Einheitliches, als Einzelwesen von anderem unterschiedenes, gibt. Ebenso läßt sich die Tatsache der Veränderung durch die Vorstellung derselben unmittelbar erweisen; denn die Vorstellung der Veränderung kann uns nur durch die Veränderung unserer Vorstellungen entstehen: so lange sich in diesen nichts ändert, können wir auch nicht die Vorstellung erhalten, als ob sich irgendwo etwas verändert hätte. Verändern sich aber unsere Vorstellungen, so ändert sich auch der Zustand des vorstellenden Subjekts. Die Veränderung ist also kein bloßer Schein. In und mit der Veränderung ist gerade so unmöglich, als eine Materie, die keinen Raum einnimmt. Ist mithin die Veränderung real, so ist es auch die Zeit; und wenn jene wenigstens als psychologische Tatsache zugegeben werden muß, muß man auch die Wirklichkeit der Zeit zugeben. KANTs Zweifel, ob wir wirklich in der Zeit leben oder ob uns unser Leben nur als ein Zeitleben erscheine, übersieht, daß in diesem Fall das Objekt, das erscheint und das Subjekt, dem es erscheint, ein und dasselbe ist; daß die Vorstellungsakte, durch welche die Erscheinungen als solche entstehen, reale Vorgänge im vorstellenden Subjekt und die Formen, unter denen es sich erscheint, reale Formen dieser Vorgänge sind. Muß aber die Wirklichkeit der Vielheit und der Veränderung zunächst für unser eigenes Seelenleben anerkannt werden, so läßt sie sich auch hinsichtlich der Außenwelt nicht bestreiten. Denn wer überhaupt eine Außenwelt annimmt, der muß auch zugeben, daß unsere äußeren Wahrnehmungen ihren Inhalt äußeren Eindrücken zu verdanken haben; wie sich das auch an ihnen selbst nachweisen läßt, da aus den allgemeinen subjektiven Formen und Bedingungen der Wahrnehmung ihr bestimmter Inhalt sich nicht erklären, aus dem Vermögen zu sehen und zu hören, das, was ich in diesem gegebenen Zeitpunkt sehe, sich nicht ableiten läßt, die neuen Anschauungen, die unsere Wahrnehmungen uns bringen, sich nicht für ein Erzeugnis unseres bisherigen Vorstellungsverlaufs halten lassen. Stammt aber der Inhalt der Wahrnehmungen vom Eindruck der Dinge her, die wir wahrnehmen, so muß auch die Mannigfaltigkeit dieses Inhalts von der Mannigfaltigkeit der Eindrücke herrühren: wir hören nur deshalb verschiedene Töne und sehen nur deshalb verschiedene Gegenstände, weil unser Ohr und unser Auge bald von diesen bald von anderen Eindrücken berührt werden. Ebenso ändert sich der Inhalt unserer Wahrnehmungen nur deshalb, weil die äußeren Eindrücke wechseln. Der Eindrücke können es aber nur dann viele verschiedene sein, wenn sie von verschiedenen Dingen ausgehen; die Eindrücke können nur dann wechseln, wenn diese Dinge sich verändern. Die Vielheit und Veränderung hat mithin ihren Sitz nicht bloß in unserer Vorstellung, sondern ebenso in den Gegenständen, auf welche sie sich bezieht. Mit der Vielheit ist aber die Zahl, mit der Veränderung die Zeit unmittelbar gegeben. Und zwar unsere Zahl und unsere Zeit; denn niemand kann annehmen, daß es eine Vielheit geben könne, für die, beispielsweise, der Satz, daß zweimal zwei vier ist oder ein Geschehen, für das der Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht gälte, da das der einfache Widerspruch wäre. Zahl und Zeit sind somit keine bloß subjektiven Vorstellungsformen, sondern allgemeine Formen des Seins und Geschehens: KANTs transzendentaler Idealismus ist an diesem Punkte so unhaltbar, als er sich uns hinsichtlich der allgemeinen Denkformen gezeigt hat.

Anders verhält es sich mit denjenigen Vorstellungen, die sich mittels der Empfindung auf äußere Gegenstände beziehen. Unsere Empfindungen zeigen uns, wie wir zugeben mußten, nicht die Dinge oder die Eigenschaften derselben als solche, sondern nur die Art, wie  wir,  unter den Bedingungen unserer Organisation, von den Dingen affiziert werden; oder vielmehr nur die Art, wie wir auf gewisse Affektionen reagieren. Die Raumvorstellungen ergeben sich uns nur dadurch, daß wir gewisse Empfindungen in einer bestimmten Weise verknüpfen; sie drücken also zunächst gleichfalls nicht aus, wie die Dinge an sich selbst sind, sondern nur, wie sie dem Menschen erscheinen. Die einen wie die anderen sind das Ergebnis und der Ausdruck eines bestimmten Wechselverhältnisses ihrer subjektiven und objektiven Faktorn; wie ist es möglich, die Elemente, aus denen sie zusammengesetzt sind, zu unterscheiden und zu sagen, wie sie abgesehen von dieser Verbindung beschaffen seien, wenn sie uns doch nur in derselben gegeben sind? Und gesetzt auch, wir errieten diese ihre Beschaffenheit: wie wäre es möglich, die Richtigkeit unserer Vorstellungen von den Dingen zu beweisen, wenn uns doch die Dinge nie anders, als in den subjektiven Vorstellungsformen, zur Anschauung kommen können, unsere Vorstellungen mit den Dingen als solchen zu vergleichen?

Es ist schon bemerkt worden, daß das nicht möglich sei, so lange wir einzelne Erscheinungen für sich betrachten, denn jede von diesen bezeichnet nur ein bestimmtes Verhältnis des Gegenstandes zum vorstellenden Subjekt; aus einer einzelnen Verhältnisbestimmung kann man aber niemals eine absolute Bestimmung ableiten: wenn man nur weiß, daß aus der Einwirkung von A auf B diese bestimmte Wirkung hervorgeht, so hat man noch nicht die Mittel, um zu bestimmen, wie  A  und  B  an sich selbst beschaffen sind. Aber eben dieses leistet unter Umständen die Vergleichung mehrerer Verhältnisbestimmungen, indem jede von diesen die anderen in einer bestimmten Beziehung ergänzt, von den Möglichkeiten, welche die letzteren offen lassen, einen größeren oder kleineren Teil ausschließt und indem sich so vielleicht aus ihnen allen, wenn man sie zusammenfaßt, die Ausschließung aller Fälle bis auf einen, die vollständige Bestimmung des Gegenstandes ergibt. Nach dem gleichen Gesichtspunkt ist auch die Frage über die Erkennbarkeit der Außenwelt zu beurteilen. Wenn wir durch denselben Sinn unter der gleichen Beobachtungsbedingungen Bilder der verschiedensten Gegenstände erhalten, wenn sich unserem Auge hier ein Berg zeigt, dort ein Fluß, unser Ohr bald das Rollen eines Wagens vernimmt, bald die Stimme eines Menschen, so kann der Grund dessen, wodurch diese Erscheinungen sich voneinander unterscheiden, nicht im wahrnehmenden Subjekt, das sich zu ihnen allen gleich verhält, sondern nur in den wahrgenommenen Objekten seinen Grund haben. Wir erfahren also durch diese Vergleichung der Erscheinungen zunächst dieses, daß es Dinge gibt, die unseren Sinnen diese und andere, die ihnen andere Bilder liefern. Wie diese Dinge an sich selbst beschaffen sind, erfahren wir nicht direkt; und wenn wir anfangs freilich glauben, sie seien genau so beschaffen, wie die Sinne sie uns darstellen, so überzeugt uns doch - auch abgesehen von allgemeinen Erwägungen, wie die oben angestellten - die Erfahrung selbst vom Gegenteil: bald unwillkürlich, durch die Sinnestäuschungen, die wir als solche entdecken, ohne sie doch deshalb vermeiden zu können, bald in Folge der methodischen Untersuchungen, welche den Zweck haben, die unwissenschaftlichen Vorstellungen über die Außenwelt zu berichtigen und uns eine genauere Kenntnis dessen zu verschaffen, was unseren Wahrnehmungen als ihre objektive Ursache zugrunde liegt. Aber jede Aufdeckung eines täuschenden Sinnenscheins ist auch ein Schritt zur Erkenntnis der Wahrheit und je vollständiger es gelingt, aus unseren Vorstellungen über die Dinge alles das zu entfernen, was sich als Täuschung erweist und in Schwierigkeiten verwickelt, um so näher werden wir einer wirklichen Kenntnis derselben kommen. Ich will das noch näher erläutern.

Alle unsere Objektvorstellungen sind Hypothesen, Vermutungen über das Ansich dessen, was uns in der Wahrnehmung nur als Erscheinung gegeben ist. Jede Hypothese hat sich aber an der Erfahrung zu bewähren und sich durch sie berichtigen zu lassen. Sie ist für richtig zu halten, wenn sie uns über die Ursachen des Gegebenen eine Vorstellung liefert, welche dasselbe einerseits vollständig zu erklären imstande ist und andererseits durch keine Tatsache widerlegt wird. Wo das bei einer sehr großen Anzahl von Fällen zutrifft und durch jede neue Erfahrung aufs neue bestätigt wird, da muß die Hypothese im gleichen Grad an Sicherheit gewinnen; und es kann auf diesem Weg für einzelne Hypothesen, wie z. B. das kopernikanische System oder NEWTONs Gravitationstheorie, eine Wahrscheinlichkeit gewonnen werden, deren Abstand von der Gewißheit zu einem verschwindend kleinen geworden ist.

Die allgemeinen Denkgesetze nun und diejenigen Anschauungsgesetze, deren objektive Geltung schon aus der psychologischen Erfahrung hervorgeht, bedürfen dieser Probe nur insofern, als freilich keine Tatsachen vorliegen dürfen, durch die sie widerlegt würden; was aber auch nie der Fall sein wird oder sein kann. Sie sind keine Hypothesen, denn sie werden nicht zur Erklärung bestimmter Erscheinungen gebildet. Dagegen sind alle Annahmen über die Beschaffenheit der Körperwelt ebenso, wie die Vorstellungen vom Wesen der Seele, Hypothesen; denn wie diese die Ursache der Bewußtseinserscheinungen, so wollen jene die Ursache der Erscheinungen angeben, von denen uns die äußere Wahrnehmung unterrichtet. Eine solche Hypothese ist auch die Annahme der raumerfüllenden Masse und mit ihr die des Raumes. Sollte der Nachweis gelingen, daß dieser Begriff durch einen anderen ersetzt werden könne und daß sich der letztere besser eigne, die Erscheinung des räumlich Ausgedehnten zu erklären, so müßten wir ihn aufgeben; sollte es sich dartun lassen, daß der Raum mit drei Dimensionen nur ein Spezialfall eines Verhältnisses sei, das außer ihm auch noch andere Fälle umfasse, so müßten wir ihn wesentlich umgestalten; und das gleiche müßte mit dem Begriff der Materie geschehen, wenn sich zeigen ließe, daß das Reale, dessen Einwirkung wir erfahren und auf eine Körperwelt zurückführen, mit Raumverhältnissen entweder überhaupt nichts zu tun habe oder erst abgeleiteterweise und unter gewissen Bedingungen in dieselben eintrete.

Wie es sich nun hiermit verhalte, das ist keine Frage der Erkenntnistheorie mehr, sondern eine solche der Naturforschung und der Metaphysik. Jene muß sich begnügen, den Charakter dieser Frage zu bezeichnen und den Weg anzuzeigen, auf dem ihre Beantwortung allein versucht werden kann. Auch die Fragen der Erkenntnistheorie konnten aber hier nicht erschöpfend behandelt, sondern es sollten nur die Andeutungen, welche ich hierüber gegeben habe, möglichster Kürze weiter ausgeführt werden. Durch diese Beschränkung meiner Aufgabe und durch die Umstände, welche mir dieselbe aufdrangen, verbot es sich von selbst, auf die zahlreichen Arbeiten, welche diesem Gebiet in den letzten Jahren so manche Förderung gebracht haben, näher einzugehen und so mag mancher Satz in der vorstehenden Darstellung Einwürfen ausgesetzt zu sein scheinen, gegen die ihn eine ausführlichere Erörterung geschützt haben würde. So klar ich mir aber dieses Übelstandes bewußt war, konnte ich ihm doch zur Zeit nicht ausweichen; wollte aber dennoch die Gelegenheit nicht unbenützt lassen, meine Stellung zu den erkenntnistheoretischen Untersuchungen, deren Einfluß noch immer im Wachsen ist und die Erwägungen, auf die sie sich gründet, wenigstens an den Hauptpunkten etwas genauer darzulegen.
LITERATUR - Eduard Zeller, Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie / Vorträge und Abhandlungen, 2. Sammlung, Leipzig 1877