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Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie [ 2 / 3 ]
Zusätze. Seit der vorstehende Vortrag gehalten und zum erstenmal veröffentlicht wurde, hat sich am Stand der Fragen, mit denen er sich beschäftigt, manches geändert. Wenn es damals noch nötig scheinen konnte, auf die grundlegende Bedeutung der Erkenntnistheorie für die gesamte Philosophie mit allem Nachdruck aufmerksam zu machen, so ist diese jetzt allgemein anerkannt und nicht wenige, namentlich von den jüngeren Fachgenossen, haben dieses Feld eifrig und erfolgreich ausgebaut. Wenn damals der Gedanke, auf KANTs Kritizismus zurückzugehen und die Untersuchung an dem Punkt wieder aufzunehmen, zu dem er sie geführt hatte, den meisten noch neu war, der eine und andere darin sogar nur einen bedauerlichen Rückschritt und eine bedenkliche philosophische Ketzerei zu sehen wußte, so hat sich seit der kantischen Philosophie und vor allem ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen, eine so reiche literarische Tätigkeit zugewendet, als man nur immer wünschen konnte. Über die geschichtliche Entstehung und den Sinn der kantischen Lehre sind vielfache und teilweise gründliche Einzeluntersuchungen angestellt worden, welche die Kenntnis derselben erheblich gefördert haben und weiter zu fördern versprechen. Ihre Ergebnisse und Gründe sind von den verschiedensten Seiten und in verschiedener Richtung mit eindringendem Scharfsinn geprüft worden und während es allerdings auch an solchen nicht fehlt, für welche der Urheber des Kritizismus jetzt wieder, wie vor 80 und 90 Jahren, der Gegenstand eines unkritischen Kultus, einer autoritätsgläubigen Orthodoxie, geworden ist, noch weniger an solchen, die eine einseitige Auffassung der kantischen Theorie als ihre eigentliche Meinung und ihre bleibende Wahrheit empfehlen, so ist doch von den gewichtigsten Stimmen anerkannt, daß das Zurückgehen auf KANT für uns nur bedeuten könne: die Fragen, die er gestellt hat, nicht bloß aufs neue zu stellen, sondern sie auch weiter und schärfer zu fassen, die Antworten, die er gegeben hat, aufs neue zu prüfen, zu ergänzen, zu berichtigen. Zu welchen Ergebnissen wir aber hierbei gelangen und wie sich diese Ergebnisse näher begründen lassen, darüber herrscht noch kein solches Einverständnis, daß nicht an jeden, der sich mit diesem Gegenstand überhaupt beschäftigt, die Aufforderung heranträte, zu den Fragen, die sich hier aufdrängen, Stellung zu nehmen. Daß nun alle unsere Vorstellungen ihren Inhalt mittelbar oder inmittelbar der Erfahrung entnehmen, daß uns über die Außenwelt nur die Einwirkungen unterrichten, welche die äußeren Gegenstände auf unsere Sinne ausüben, über unsere eigenen Tätigkeiten und Zustände nur die Rückwirkung derselben auf unser Selbstbewußtsein, das wird heutzutage wenig Widerspruch finden, so daß es nötig wäre, meine früheren Andeutungen hierüber an diesem Ort weiter zu verfolgen. Ein vollständiges System der Erkenntnistheorie würde sich freilich dieser Aufgaeb nicht entziehen dürfen. Denn so wenig sich auch die Annahme angeborener Ideen ohne jene mythischen Vorstellungen von einer persönlichen Präexistenz festhalten läßt, mit denen sie bei ihrem ersten Auftreten aufs engste verwachsen war, so wird doch teils dieser Zusammenhang nicht von allen erkannt, teils gibt es auch wirklich Tatsachen, auf die jene Annahme sich mit einem gewissen, der Auflösung bedürftigen Schein berufen kann. So wenig ferner jene Annahme in Wahrheit verbessert ist, wenn man die angeborenen Ideen mit manchen neueren Philosophen durch intellektuelle Anschauungen zu ersetzen versucht, so muß doch ausdrücklich der Nachweis geführt werden, daß uns diese nur über die Vorgänge in unserem Inneren, nicht über metaphysische Wahrheiten, wie das Dasein und die Natur Gottes, belehren könnten. So seltsam uns endlich die Theorien erscheinen mögen, durch welche LEIBNIZ und vor ihm die Cartesianer die Wahrnehumgen ohne eine reale Einwirkung der wahrgenommenen Objekte zu erklären versuchten, so abenteuerlich BERKELEYs Behauptung, daß die Körperwelt nur in der Vorstellung der geistigen Wesen existiere und FICHTEs subjektiver Idealismus sich für uns ausnehmen, so lauert doch dieser Idealismus fortwährend im Hintergrund von Betrachtungen, deren Richtigkeit sich nicht bestreiten läßt. Was die Wahrnehmung uns liefert, das sind nicht die Dinge selbst, sondern nur Bilder der Dinge, Vorstellungen, die wir haben, Erscheinungen unseres Bewußtseins. Woher wissen wir, daß diesen Vorstellungen in uns Dinge außer uns entsprechen, daß sie nicht ebensogut bloße Phantasiebilder, nur dauerhaftere und konsequentere sind, wie eine Traumerscheinung? Die Wissenschaft kann an dieser Frage schon deshalb nicht vorbeigehen, weil weitere, wichtige Aufgaben der Erkenntnistheorie durch ihre Beantwortung bedingt sind; denn ehe wir fragen, wie viel wir von den Dingen zu erkennen imstande sind, müssen wir vorher dessen versichert sein, daß wir es in unseren Wahrnehmungen überhaupt mit Dingen und nicht bloß mit Einbildungen zu tun haben; und wenn auch jeden davon zunächst ein Gefühl überzeugt, dem er sich zu entziehen nicht imstande ist, so muß doch die wissenschaftliche Untersuchung dieses Gefühl zergliedern und sich der Gründe bewußt werden, die uns verbieten, den Glauben an die Realität der Außenwelt auf eine ähnliche Täuschung zurückzuführen, wie etwa den Glauben an die Bewegung der Sonne um die Erde, den ja auch viele tausend Jahre lang niemand bezweifelt hat. Diese Gründe liegen aber der Hauptsache nach in einer doppelten Erwägung: in der allgemeineren, daß unser Ich in seinem Dasein wie in seinem Selbstbewußtsein andere Dinge voraussetzt und in der spezielleren, daß unsere Wahrnehmungen als solche sie voraussetzen, weil aus dem bloßen Wahrnehmungsvermögen der Inhalt unserer Wahrnehmungen sich in dieser seiner Bestimmtheit nicht ableiten und das Neue, was sie uns im Verlauf unseres Lebens jeden Augenblick bringen sich aus unserem bisherigen Vorstellungsvorrat nicht erklären läßt. Wenn es nun ferner KANT und er zuerst in grundsätzlich durchgreifender Weise, zu Bewußtsein gebracht hat, daß uns kein Gegenstand anders, als durch unsere eigene Vorstellungstätigkeit und daher auch keiner anders, als in den Formen und unter den Bedingungen des menschlichen Vorstellens gegeben sein kann, so wird man ihm hierin nicht allein zustimmen, sondern man wird diesen Satz noch über die von ihm eingehaltene Grenze hinaus ausdehnen müssen. KANT sagt, die Materie aller Erscheinungen sei uns in der Empfindung gegeben; nach den apriorischen Formen derselben fragt er erst bei den Anschauungen und Begriffen, zu denen dieser Stoff von uns verarbeitet wird. Die heutige Psychologie weiß ebenso, wie die Physiologie, schon die Empfindungen nur unter den gleichen Gesichtspunkt zu stellen. Unsere Empfindungen sind ja nicht bloß eine Fortsetzung oder ein Produkt der Bewegungen, welche von den Körpern außer uns auf den unsrigen ausgehen; diese rufen vielmehr in demselben andere, eigenartige Bewegungsvorgänge, die Nerven- und Gehirnprozesse, hervor und wenn die letzteren sich ihrerseits in Empfindungen umsetzen, so ist das nicht die Umwandlung einer mechanischen Bewegung in eine andere mechanische Bewegung, sondern es wird durch sie zu Bewußtseinserscheinungen der Anstoß gegeben, die ihrer Qualität nach von den organischen Vorgängen verschieden sind, aus denen sie hervorgingen. Die Empfindungen sind mit einem Wort psychische Reaktionen gegen die Reize, welche der empfindenden Seele durch gewisse Bewegungen in den Sinnesorganen zugeführt werden. In diesen organischen Bewegungen liegt ihre nächste mechanische Bedingung; eine entferntere in den äußeren Eindrücken, durch welche diese Bewegungen ausgelöst wurden. Aber die Kraft, die sie erzeugt, die unmittelbare Quelle der Empfindungen, haben wir weder in jenen noch in diesen zu suchen. Ihre Qualität läßt sich daher auch aus den einen so wenig wie aus den anderen vollständig erklären; gerade das vielmehr, was die Empfindungen zu Empfindungen macht und was jeder Klasse von Empfindungen ihren unterscheidenden Charakter gibt, können wir nur aus den subjektiven Empfindungsgesetzen herleiten. Die Vorgänge im Sehnerv sind etwas anderes, als die Ätherschwingungen, die Vorgänge im Gehörnerv etwas anderes, als die Luftschwingungen, durch die sie veranlaßt werden. Auch sind die Empfindungen etwas anderes, als die Vorgänge in den Nerven und im Gehirn; und wenn wir auch über ihre physikalischen und organischen Bedingungen noch viel genauer unterrichtet wären, als wir es sind, wenn wir auch mit voller Sicherheit angeben könnten, wie es kommt, daß der Sehnerv nur durch Lichtwellen, der Gehörnerv nur durch Töne zu seiner spezifischen Tätigkeit gereizt wird, daß das rote Licht diese, das grüne Licht jene Faser des Sehnervs, ein Ton von dieser Schwingungszahl diese, ein anderer eine andere Faser der Gehörnerven in Bewegung setzt, daß die für uns wahrnehmbaren Töne und Lichtstraheln in diese bestimmten Grenzen eingeschlossen sind - wenn wir auch alles das ganz genau wüßten, so wären wir dadurch noch lange nicht in den Stand gesetzt, die Empfindung als solche zu erklären: es bliebe uns trotzdem ganz unbekannt, in welcher Weise aus den mechanischen Bewegungen im Zentralorgan Empfindungen entspringen und weshalt jede derselben gerade diese Empfindung und keine andere erzeugt. So gut daher KANT von apriorischen Anschauungs- und Denkformen rede, könnte man auch von apriorischen Formen der Empfindung reden, um damit auszudrücken: die Qualität unserer Empfindungen sei neben den äußeren Eindrücken, durch die sie hervorgerufen werden und von denen ihr bestimmter Inhalt herrührt, ihrer allgemeinen Form nach für jede Klasse derselben von subjektiven, teils organischen, teils psychischen Bedingungen abhängig; es müssen also zwar z. B. Ätherschwingungen einer bestimmten Art unser Auge, Luftwellen von bestimmter Beschaffenheit unser Ohr treffen, damit uns die Empfindung bestimmter Farben oder Töne entstehe; aber der Grund davon, daß die Ätherschwingungen Lichtempfindungen, die Luftschwingungen Tonempfindungen erzeugen und daß ein Lichtstrahl von dieser bestimmten Schwingungszahl gerade diese Farbempfindung, ein Klang von dieser Schwingungszahl diese Tonempfindung hervorruft, liege doch nur in der Einrichtung unserer Sinnesorgane und den Gesetzen unseres Empfinden. Fragen wir weiter nach den apriorischen Formen der Anschauung, d. h. nach den Formen, unter denen wir unsere Empfindungen, nach allgemeinen Vorstellungsgesetzen, zu sinnlichen Bildern verknüpfen, so nennt KANT als solche bekanntlich den Raum und die Zeit. Aber auch an diesem Punkt bedürfen seine Bestimmungen teils der Erläuterung, teils der Ergänzung. Zunächst nämlich wäre es nicht allein an sich selbst verfehlt, sondern es würde auch KANTs klar ausgesprochener Meinung widersprechen, wenn man glaubte, die Vorstellungen des Raumes und der zeit seien uns a priori, als unabhängig von der Wahrnehmung dessen, was in Raum und Zeit ist, gegeben; denn damit fiele man in die Annahme angeborener Ideen und in alle die unlösbaren Schwierigkeiten zurück, in die sie uns verwickelt. Sondern unabhängig von der Erfahrung können nur die Gesetze sein, nach denen wir bei der Bildung unserer Vorstellungen verfahren; sie müssen es aber auch sein, weil die Erfahrung selbst nur nach diesen Gesetzen und unter Voraussetzung derselben zustande kommen kann. Denn wenn wir unter der Erfahrung die Gesamtheit der Vorstellungen verstehen, welche uns aus der Wahrnehmung - teils der Wahrnehmung von Dingen und Vorgängen außer uns, teils der Wahrnehmung unserer eigenen Tätigkeiten und Zustände - entstehen, so sind alle diese Vorstellungen durch dreierlei Vorstellungstätigkeiten bedingt: die Empfindung, durch die uns ihre einfachsten Bestandteile geliefert weden; die Anschauung, in der diese Elemente zu sinnlichen Bildern verknüpft werden, das Denken, durch das sie zu Begriffen, Urteilen und Schlüssen verarbeitet werden. Wie nun die Empfindungen nur nach den organischen und psychischen Empfindungsgesetzen zustande kommen können, so können auch die Anschauungen und Gedanken nur nach den Gesetzen des Anschauens und Denkens und nur in den durch sie bestimmten Anschauungs- und Denkformen zustande kommen. Jeder Erfahrung müssen daher als die subjektive Bedingung, unter der sie allein möglich ist, mit den Empfindungsgesetzen auch die Gesetze des Anschauens und Denkens und ebendamit die aus ihnen entspringenden allgemeinen Anschauungs- und Denkformen vorangehen. Aber eben nur diese Gesetze und Formen als solche, nicht die Vorstellung derselben. Es muß, mit anderen Worten, die Art und Weise, in der wir die Empfindungen zu Anschauungen, die Anschauungen zu Gedanken zusammenfassen, in der Natur unseres Geistes begründet, als eine psychologische Notwendigkeit in ihm angelegt sein; aber zu Bewußtsein kommt sie uns erst in ihren Produkten und erst von diesen abstrahieren wir uns die allgemeinen Begriffe und Grundsätze, welche der Ausdruck der Gesetze sind, denen wir bei der Bildung unserer Anschauungen und Gedanken zuerst nur unbewußt folgen. Die allgemeinsten Formen der Anschauung führt KANT auf zwei zurück:Raum und Zeit. Ich möchte diesen noch die Zahl beifügen, die zwar KANT und SCHOPENHAUER aus der Zeitvorstellung ableiten wollten, die aber in Wahrheit ihrem Inhalt nach von derselben ganz unabhängig ist, wenn auch ihre Bildung natürlich, wie die jedes psychischen Produkts, in der Zeit erfolgt. Jede Vorstellung, die gesondert hervortritt und nicht bloß als Teil einer anderen, mit der sie verschmolzen ist, uns zu Bewußtsein kommt, zeigt uns im Vorgestellten, was dieses nun seinem näheren Inhalt nach sei, einen einheitlichen Gegenstand: dieses bestimmte Ding, diesen Vorgang, diese Eigenschaft, dieses Verhältnis, diesen Begriff usw. Jeder weitere Vorstellungsakt liefert einen weiteren Gegenstand, der als etwas einheitliches, von allem andern verschiedenes vorgestellt wird: durch jede einzelne Vorstellung wird uns eine Einheit, durch die Wiederholung der Vorstellungsakte eine Vielheit gegeben. Wird die Vielheit begrenzt, eine Reihe von Einheiten zu einer höheren Einheit zusammengefaßt, so erhalten wir eine Zahl. Diese Reihenbildung vollzieht sich zuerst immer an konkreten Gegenständen und zwar an solchen, die sich ähnlich genug sind, um von ihren individuellen Verschiedenheiten absehen, sie alle unter die gleiche allgemeine Vorstellung subsumieren zu können, wie z. b. die zehn Finger: das Zählen und Rechnen mit benannten Zahlen ist früher, als das mit unbenannten. Erst vom Gezählten werden die einzelnen Zahlen, Zwei, Drei, Vier, usw. abstrahiert, erst aus diesen der allgemeine Begriff der Zahl; und infolge einer weiteren Abstraktion werden die Zahlen durch solche Vorstellungen ersetzt, welche nicht eine bestimmte Zahl größe, sondern nur bestimmte Zahlen verhältnisse in einer für die verschiedensten Werte gültigen Weise ausdrücken, wie die durch die algebraischen Zeichen angedeuteten Begriffe. So wenig aber hiernach die Zahlvorstellung unmittelbar für eine apriorische Vorstellung gelten kann, so ist sie doch eine nach apriorischen Gesetzen gebildete Vorstellung; denn nur die Einheit des vorstellenden Subjekts setzt es in den Stand, sich die Vorstellung einheitlicher Gegenstände zu bilden, verschiedene Gegenstände voneinander zu unterscheiden und die unterschiedenen aufs neue zu einer Einheit zusammenzufassen, sie zu zählen. Die Zahlen und Zahlenverhältnisse sind der Ausdruck von Gesetzen, nach denen wir bei allen unseren Vorstellungsakten verfahren; und nur weil sie das sind, kann es von ihnen, wiewohl sie zunächst vom Gezählten abstrahiert sind, doch eine apriorische, in ihrem Verfahren und in ihren Ergebnissen von der Erfahrung unabhängige Wissenschaft geben. Die Arithmetik beweist die Wahrheit der Voraussetzungen, von denen sie ausgeht und aus denen sie ihre Sätze ableitet, nicht auf induktivem Weg, durch Beobachtung und Experiment; dieselbe gründet sich vielmehr wesentlich darauf, daß keiner, der sich Zahlvorstellungen bildet, sie nach anderen, als den von ihr angenommenen Gesetzen bilden kann: sie ist eine apriorische Wissenschaft, nicht weil sie aus apriorischen Anschauungen oder Begriffen, sondern weil sie aus apriorischen Bedingungen der Erfahrung, aus apriorischen Vorstellungsgesetzen, mit Notwendigkeit hervorgeht. Ähnlich verhält es sich mit der Zeitvorstellung. Die Zeit ist die allgemeine Form aller Veränderung, allen Geschehens. Wo wir eine Veränderung wahrnehmen, unterscheiden wir das Spätere vom Früheren, wir erhalten die Anschauung eines zeitlichen Verlaufs. Indem man verschiedene Vorgänge hinsichtlich ihrer Dauer vergleicht, ergeben sich zunächst einzelne, konkrete Zeitbestimmungen, wie Tag, Nacht, Monat, usw. Aus diesen konkreten Zeitbestimmungen wird der allgemeine Begriff der Zeit abstrahiert. Versteht man daher unter einer apriorischen Vorstellung eine solche, die ohne Beihilfe der Erfahrung gebildet wird, so kann man die Vorstellung der Zeit nicht als eine apriorische bezeichnen. Aber die Wahrnehmungen, aus denen sie hervorgeht, sind selbst an gewisse apriorische Bedingungen geknüpft. Die Anschauung einer Veränderung entsteht uns nur dadurch, daß wir die aufeinanderfolgenden Zustände des Gegenstandes, der sich verändert, miteinander vergleichen, si voneinander unterscheiden und in dieser Unterscheidung als Zustände eines und desselben Dings zusammenfassen. Um z. B. die Bewegung eines Körpers wahrzunehmen, müssen wir die Orte, in denen er sich später befindet, mit denen vergleichen, in denen er vorher war und mit der Unterscheidung dieser Orte muß sich zugleich der Gedanke verbinden, daß es derselbe Körper sei, der erst in A, dann in B, dann in C usf. war. Es liegt nun zutage, daß uns diese Vergleichung nicht möglich wäre, wenn entweder kein Wechsel der Vorstellungen in uns stattfände, oder wenn wir andererseits die wechselnden Vorstellungen in der Erinnerung festzuhalten nicht imstande wären. In jenem Fall könnten wir sie nicht vornehmen, weil in unserer Vorstellung von den Dingen sich nichts verändert hätte, weil uns mithin gar keine voneinander verschiedenen Erscheinungen als Stoff der Vergleichung gegeben wären; in diesem nicht, weil wir beim Eintreten der späteren Vorstellungen die früheren vergessen hätten, weil also zwar ein Wechsel der Erscheinungen stattfände, aber diese aufeinanderfolgenden Erscheinungen nicht zusammengebrcht, nicht aneinander gemessen und als verschiedene in der Form der Aufeinanderfolge zusammengeschaut werden könnten. Ist nun auch der Wechsel der Vorstellungen schon durch den der äußeren Eindrücke gegeben, so beruth doch das Festhalten der wechselnden Vorstellungen in der Erinnerung auf der psychischen Natur des Menschen; und ebenso rührt es von ihr her, daß sich uns die wechselnden Vorstellungen in eine Zeitreihe ordnen. Indem wir das, was nur noch in unserer Erinnerung fortdauert und das, was unsere Phantasie von der Zukunft vorwegnimmt, an gewissen Kennzeichen vom Gegenwärtigen unterscheiden, können wir das eine mit dem anderen nicht zu einer Vorstellung zusammenfassen, es fällt uns daher in eine Reihe aufeinanderfolgender, aber durch die Einheit ihres Subjekts verknüpfter Erscheinungen auseinander, gewährt uns das Bild eines zeitlichen Verlaufs. Über die Entstehung der Raumvorstellung sind die Ansichten noch immer sehr geteilt. Während von der einen Seite KANTs Behauptung, daß sie eine "reine" oder apriorische Anschauung sei, nicht bloß festgehalten, sondern nicht selten auch so verstanden wird, als sei uns das Bild oder der Begriff des Raumes unabhängig von der Wahrnehmung der Dinge im Raum gegeben, suchen andere nachzuweisen, wie sie sich auf rein empirischem Weg Schritt für Schritt aus dem Zusammentreffen gewisser Eindrücke und Sinnesempfindungen bilde; eine dritte Ansicht endlich behauptet, von diesen beiden abweichend, die räumliche Ausdehnung werde ebenso unmittelbar, wie das Licht oder die Töne, durch die Empfindung wahrgenommen. Bei dieser letzteren Annahme müßte nun freilich von der Raumempfindung das gleiche gelten, was sich uns schon oben hinsichtlich der Sinnesempfindung im allgemeinen ergeben hat: die Raum vorstellung wäre zwar aus der Erfahrung geschöpft, aber daß sich uns die Dinge, die uns räumlich ausgedehnt erscheinen, unter dieser Form darstellen, das wäre ebenso in der Natur unserer Sinnlichkeit begründet, wie es in ihr begründet ist, daß Ätherschwingungen in uns Lichtempfindungen und Luftschwingungen Tonempfindungen erregen; was dieser eigentümlichen Empfindung objektives entspricht, wäre erst zu untersuchen. Allein als etwas unseren Sinnen unmittelbar gegebenes, eine einfache Sinnesempfindung, läßt sich die Raumvorstellung schon deshalb nicht betrachten, weil sich kein Sinn aufweisen läßt, dessen eigentümliche Tätigkeitsform sich in ihr ebenso ausdrückte, wie die des Gesichts in Lichtempfindungen, des Tastsinns in Druckempfindungen usw. Jeder von unseren Sinnen hat seine spezifische Sinnesenergie, d. h. er vermittelt uns Empfindungen einer bestimmten Art, welche an diese bestimmten Organe, mit Ausschluß aller anderen, geknüpft sind; Raumvorstellungen dagegen erhalten wir, wenn auch nicht alle unsere Sinne schon bei ihrer ersten Entstehung beteiligt sind, doch jedenfalls durch mehrere derselben: durch das Gesicht, den Tastsin, die Bewegungsgefühle. Nun kann es zwar geschehen, daß uns durch ein und dasselbe Sinnesorgan Empfindungen geliefert werden, die uns qualitativ verschieden erscheinen, wenn sie sich auch vielleicht schließlich auf gleichartige Vorgänge in den Organen zurückführen lassen, wie z. b. die Druckempfindungen und Temperaturempfindungen; aber daß auch umgekehrt verschiedene Sinne regelmäßig die gleichen Empfindungen hervorrufen sollten, daß mit anderen Worten die spezifische Energie eines Sinnes mit der eines anderen zusammenfallen sollte, das widerspricht nicht allein aller sonstigen Analogie, sondern es widerspricht auch sich selbst. Denn wenn die Reizung jedes Nerven eigentümliche Empfindungen hervorruft, die des Sehnerven Lichtempfindungen, des Gehörnerven Tonempfindungen usw., so muß das im Bau dieser Nerven, insbesondere ihrer Endapparate, begründet sein; sind aber diese von so verschiedener Beschaffenheit, so läßt sich nicht annehmen, daß sie auch wieder eine und dieselbe Empfindung, die Raumempfindung, unmittelbar bewirken könnten. Auch an sich selbst kann aber die Raumanschauung nicht unmittelbar in der Empfindung gegeben sein. Denn die Vorstellung des räumlich Ausgedehnten entsteht uns nur dadurch, daß wir mehrere Punkte durch Linien, mehrere Linien durch die Vorstellung der zwischen ihnen liegenden Flächen, mehrere Flächen durch die des Körpers, den sie begrenzen, verbinden; die einfache Licht- oder Druckempfindung aber ist eine punktuelle: nur wenn verschiedene Stellen der Haut oder der Netzhaut gereizt werden, erhalten wir das Bild einer Raumgröße; diese Vorstellung beruht daher auf einer Kombination mehrerer Empfindungen, die Gesetze, nach denen sie gebildet wird, sind nicht Empfindungs- sondern Anschauungsgesetze. Eben hierauf gründet sich auch der Unterschied zwischen dem Verfahren der Geometrie und dem der Physik. Die Physik untersucht das, was uns in der Empfindung gegeben wird, seinem Inhalt nach; sie fragt nach den Dingen und Vorgängen, welche unseren Sinnesempfindungen, den Licht-, Ton-, Temperaturempfindungen usw. als ihr Gegenstand, ihre objektive Ursache, zugrunde liegen, sucht die Beschaffenheit und die Gesetze derselben auszumitteln. Sie kann daher nur von den Einwirkungen, in denen dieses Gegenständliche sich uns kund gibt, von der Erfahrung, ausgehen; ihre Werkzeuge bestehen in der Beobachtung und dem Versuch, ihr Verfahren ist das induktive und auch ihren Deduktionen und Berechnungen kann sie nur solche Begriffe zugrunde legen, die sie auf induktivem Weg gewonnen hat. Die Geometrie dagegen bedient sich, wie die reine Mathematik überhaupt, eines anderen Verfahrens: sie gründet ihre Sätze nicht auf die Beobachtung, sie beweist z. B. den Satz über die Winkelsumme der Dreiecke nicht durch die Messung möglichst vieler Dreieckswinkel, den pythagoreischen Lehrsatz nicht durch die Messung möglichst vieler Quadrate aus den Seiten rechtwinkliger Dreiecke (die vielmehr in vielen Fällen sogar unmöglich ist), sondern sie konstruiert die Figuren und zeigt, daß aus den Bedingungen, unter denen sie konstruiert werden, gewisse Folgerungen mit Notwendigkeit hervorgehen: sie verfährt nicht induktiv, sondern deduktiv. Und sie verfährt so nicht deshalb, weil ihre Voraussetzungen durch eine allgemeine, jedem von Kindheit an zugängliche Erfahrung, vermöge einer natürlichen Induktion, so bekannt und so unzweifelhaft festgestellt sind, daß sie der Bestätigung durch die Beobachtung nicht mehr bedürfen. Denn die geometrischen Figuren und ihre Elemente kommen nicht allein genau so, wie der Geometer sie bestimmt, in der Natur überhaupt nicht vor; sondern auch solche Dinge, von denen sie abstrahiert sein könnten, finden sich in ihr lange nicht so häufig, wie viele von den Erscheinungen, deren Wesen und Gesetze der Physiker trotz ihres alltäglichen Vorkommens doch nur durch methodische Beobachtung und Experiment feststellen zu können überzeugt ist. Die Schwere, die Wärme, die Bewegung, der Unterschied des Flüssigen und des Festen, des Harten und des Weichen usw. sind uns in der Erfahrung ungleich häufiger und unmittelbarer gegeben, als die senkrechte Linie, der Kreis, das Quadrat usf. Nichtsdestoweniger macht die Physik jene immer aufs neue zum Gegenstand sorgfältiger Beobachtung, während die Geometrie von diesen vorausgesetzt, daß sie im Grunde jedermann schon bekannt seien und eine einfache Erklärung ausreiche, um die Vorstellungen darüber, die alle gleicherweise schon haben, zur wissenschaftlichen Bestimmtheit zu erheben. Dies ist offenbar nur deshalb möglich, weil uns die geometrischen Begriffe in anderer Weise entstehen, als die physikalischen; weil sie nicht ebenso, wie diese, eine Wirkung der Objekte auf unsere Empfindung ausdrücken, welche immer nur aus dem Eindruck, den wir erfahren, daher nur empirisch erkannt werden kann, sondern die Art und Weise, wie wir die Empfindungen zusammenfassen; weil es sich bei ihnen mit einem Wort nicht um den Inhalt gewisser Sinnesempfindungen handelt, sondern um eine Form der sinnlichen Anschauung. Die Raumvorstellung als solche und die näheren Modifikationen derselben sind uns allerdings trotzdem nicht angeboren; so wenig, als das die Zeitvorstellung oder die Zahlvorstellungen oder irgendwelche andere sind und sein können. Jene Vorstellungen sind vielmehr zunächst von den raumerfüllenden Gegenständen, den Körpern, abstrahiert; wir gewinnen sie, indem wir an diesen die Gestalt, die Art der Raumerfüllung, abgesehen von allen anderen Eigenschaften derselebn, ins Auge fassen, die Körpergestalten in ihre einfachsten Elemente zerlegen und diese selbst auf den Raum, als den allgemeinen, sie alle umfassenden Begriff, zurückführen. Ebenso entsteht uns aber auch die Anschauung der Dinge im Raum nur allmählich aus gewissen Empfindungen, zunächst denen des Tastsinns, des Bewegungsgefühls und Gesichtssinns und es ist ein großes Verdienst der heutigen Sinnesphysiologie, daß sie den Weg, auf dem und die Bedingungen, unter denen sich diese Anschauung bildet, zum Gegenstand mühsamer, scharfsinniger und fruchtbarer Untersuchungen gemacht hat. Wir selbst haben freilich von dieser Bildung der Raumvorstellung keine unmittelbare Kenntnis; denn sie vollzieht sich so unbewußt und unwillkürlich und in einer so frühen Periode unseres Lebens, in die keine Erinnerung zurückreicht, daß nur ihr Produkt, nicht sie selbst uns zur Anschauung kommt. Aber da uns die Vorstellung der Körper als raumerfüllender Gegenstände in der einfachen Empfindung nicht gegeben ist, kann sie uns nur durch eine Verknüpfung gewisser Empfindungen, also nur aufgrund eines empirisch gegebenen entstehen, es kann daher auch die Raumanschauung, welche in und mit der des Raumerfüllenden entsteht und der Raumbegriff, welcher von jenem abstrahiert ist, nur aus der Erfahrung entspringen: dieser Begriff ist seinem nächsten Ursprung nach kein apriorischer, sondern ein empirischer Begriff. Allein dies schließt nicht aus, daß die Anschauungen selbst, von denen er abstrahiert ist, nach apriorischen, in der Natur des anschauenden Subjekts begründeten Gesetzen gebildet werden. Da vielmehr die Zusammenfassung der Empfindungen unter der Form des Raumes nur durch die Vorstellungstätigkeit des Subjekts zustande kommen kann, welches sie so zusammenfaßt, so kann sie auch nur nach subjektiven Vorstellungsgesetzen zustande kommen: die Raum anschauung und der Raum begriff sind empirischen Ursprungs, der Raum selbst dagegen ist, nach der subjektiven Seite betrachtet, eine apriorische Form der Verknüpfung gewisser Empfindungen, eine apriorische Anschauungsform. Aus diesem apriorischen Charakter der Raumvorstellung geht das Verfahren der Geometrie hervor: die Beweiskraft ihrer Konstruktionen beruth so wenig, wie die der Rechnungen, auf Induktion, sondern darauf, daß nach den allgemeinen Gesetzen der Raumanschauung alle, die eine bestimmte geometrische Operation vornehmen, sie nur auf die gleiche Art vornehmen können und daher alle durch die von ihnen vollzogenen Konstruktionen die gleichen Raumgebilde erhalten. Wiewohl aber die Zusammenfassung des Gegebenen unter der Form des Raumes, der Zeit und der Zahl nach apriorischen Vorstellungsgesetzen und insofern mit psychologischer Notwendigkeit erfolgt, machen uns doch die Anschauungen, die wir auf diesem Weg gewinnen, nicht den Eindruck einer notwendigen, sondern nur den einer tatsächlichen Verknüpfung von Erscheinungen. Ein Gegenstand hat diese bestimmten Teile und Eigenschaften, ein Vorgang vollzieht sich in dieser Aufeinanderfolge seiner einzelnen Momente. Wenn uns die Eindrücke, aus welchen sich die Anschauung dieser Dinge und Vorgänge bildet, in dieser bestimmten Qualität, Stärke und Ordnung treffen, können wir freilich keine anderen als diese Wahrnehmungen erhalten; aber daß uns gerade diese und keine anderen Eindrücke und daß sie uns in dieser und keiner anderen Ordnung gegeben sind, erscheint uns als zufällig: sowohl die einzelnen Erscheinungen als auch die Art ihrer Verknüpfung stellen sich uns als etwas dar, was zwar tatsächlich vorhanden ist, was aber auch anders sein könnte. Noch zufälliger erscheinen uns die Bilder, welche unsere Phantasie aus den uns durch frühere Wahrnehmungen gegebenen Stoffen zusammensetzt; wiewohl sie uns an sich selbst gleichfalls nach bestimmten psychologischen Gesetzen entstehen. Bei den Wahrnemungen sind wir überzeugt, daß alle, denen die gleichen Objekte gegeben sind, auch die gleichen Wahrnehmungen haben; aber was für Objekte jedem entgegentreten, hängt nicht von den Gesetzen der Empfindung und Anschauung, sondern von äußeren Umständen ab und erscheint deshalb zufällig. Bei den Phantasiebildern ist nicht allein der Stoff, aus dem sie sich aufbauen, sondern auch die Art seiner Verknüpfung, für jeden von eigentümlichen, in dieser bestimmten Kombination bei keinem anderen vorkommenden Bedingungen abhängig. Er hat nur die Erinnerungsbilder zur Verfügung, welche sich ihm nach Maßgabe seiner bisherigen Erfahrungen und seiner Individualität eingeprägt haben; und seine Phantasie bringt dieselben in die Verbindung, welche sich nach den Gesetzen der Ideenassoziation teils aus seinen früheren Wahrnehmungen und seinem bisherigen Vorstellungsverlauf, teils aus seiner Gefühlsweise und Stimmung, teils aus den jeweiligen äußeren Veranlassungen ergibt. Die Phantasiebilder sind daher etwas ganz subjektives: sie sind nicht mit der Vorstellung verbunden, daß ihnen Gegenstände außer uns entsprechen und sie sind in jedem anders als in allen andern; während die Wahrnehmungen objektive Realität haben und die Gegenständen, auf welche sie sich beziehen, allen, die mit normalen Sinnen begabt sind, die gleichen Bilder liefern. Aber als etwas bloß tatsächlich vorhandenes erscheinen diese wie jene; nur daß die einen nur im vorstellenden Subjekt vorhanden sind, den anderen ein Objekt außer ihm entspricht. ![]() |