p-4 GoedeckemeyerLippsÜber Real- und Beziehungsurteilevon der Pfordten    
 
JOHANNES von KRIES
Zur Psychologie der Urteile
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"Die Frage, ob ein Komplex von Ereignissen, der uns vollkommen bekannt ist, eine Revolution, eine Krisis, eine Entwicklung, eine Dekadenz sei, wird in zahlreichen Fällen ebenso anstandslos bejaht, wie in anderen verneint werden, in zahlreichen aber zweifelhaft erscheinen."

Je schärfer neuerdings in der Lehre vom Urteil die Notwendigkeit einer präzisen Trennung logischer und psychologischer Betrachtung gefordert wird, umso mehr macht sich doch, wie mir scheint, auch die Einsicht bemerklich, daß, um zu einer ganz befriedigenden Klarheit zu gelangen, eine gewisse Durchführung  beider  Betrachtungsweisen wünschenswert ist. Mag auch die Ablösbarkeit der logischen Probleme von psychologischen Untersuchungen außer Zweifel stehen: da es doch einmal zumindest nahe verwandte Gegenstände sind, die bei der einen und der anderen Behandlung des Urteils in Frage kommen, so wird ein ein gewisses Maß psychologischer Diskussion doch auch immer dem Logiker wertvoll sein müssen. Und für die psychologische Forschung dürfte wohl, vice versa [umgekehrt - wp] das Entsprechende gelten. Wenn kein anderer, so wird jedenfalls der Vorteil zu erreichen sein, daß erst durch den Überblick über beide Untersuchungen das Verhältnis der Unabhängigkeit oder des Gegensatzes, in dem sie stehen, in voller Deutlichkeit hervortritt. Selbst von denjenigen Autoren, die die Logik als eine Normenlehre des Denkens auffassen und sie somit in den denkbar schärfsten Gegensatz zur Psychologie setzen, ist daher öfter die eine Betrachtung neben der andern geführt worden. Erblickt man in der Logik, wie ich es unlängst dargelegt habe, (1) die Heraussonderung und systematische Darstellung einer gewissen Kategorie von Urteilen, nämlich der logischen Beziehungs-Urteile, so erscheint in noch höherem Grad unser tatsächliches Denken als Boden und Ausgangspunkt der Untersuchung. Gleichwohl aber ist auch hier zu bemerken, daß die gewonnenen Ergebnisse zum großen Teil auf Idealfälle eines wissenschaftlich geklärten Denkens sich beziehen und daß die Betrachtung sehr mannigfaltige Gestaltungen psychologischen Geschehens, die wir doch auch "Urteilen" nennen, zunächst ganz ausgeschlossen hat.

Eine psychologische Untersuchung, die sich die Aufgabe stellt, diese tatsächlichen Gestaltungen der Denkvorgänge allgemeiner zu behandeln und insbesondere den der Logik zum Ausgang dienenden Spezialitäten ihre Stellung in jener Gesamtheit anzuweisen, erscheint demnach auch hier als eine wünschenswert Ergänzung. In dem bescheidenen Rahmen der nachfolgenden Blätter kann natürlich nicht versucht werden, eine Psychologie des Denkens zu entwickeln. Doch kann wohl ohne Vermessenheit und mit Aussicht auf Erfolg der Versuch unternommen werden, diejenigen Punkte zu bezeichnen, in denen vorzugsweise die reale Mannigfaltigkeit psychologischer Gebilde und Vorgänge über die in der erwähnten Abhandlungen von mir zunächst ins Auge gefaßten Typen hinausgeht. Ein derartiger Versuch schien mir, abgesehen vom unmittelbar psychologischen Interesse, das er bietet, schon deswegen geboten, weil er selbstverständlich geeignet ist, mancherlei Bedenken und Schwierigkeiten beiseite zu räumen, die sich der früher versuchten, nach logischen Gesichtspunkten unternommenen Zergliederung entgegenstellen könnten; sodann aber auch, weil dies wohl der geeignetste Weg ist, um zu einigen auch vom Standpunkt des Logikers aus wünschenswerten Vervollständigungen der damaligen Darlegungen zu gelangen. Die damals ins Auge gefaßten logischen Beziehungen können ganz rein nur an klar und scharf gedachten, in klaren und scharfen Begriffen sich bewegenden Urteilen zur Geltung kommen. Wünschenswert bleibt es dabei, sich darüber zu unterrichten, welche Gebiete denn in der ganzen Mannigfaltigkeit tatsächlichen Denkens es sind, die eine derartige Betrachtung überhaupt zulassen, welche andere sie ganz ausschließen oder nur modifiziert gestatten. Daß eine Untersuchung, die zunächst nur vom psychologischen Standpunkt aus eine möglichst vollständige Übersicht über die Vorgänge des Denkens zu gewinnen sucht, auch zu einer gewissen Vervollständigung eigentlich logischer Betrachtungen führt, wird sich im folgenden zeigen.


I.

Nur wenig Schwierigkeit bietet die Aufgabe, mit der naturgemäß hier begonnen werden muß, die nämlich, die Sonderung verschiedener Urteilskategorien, welche wir an die Spitze jener logischen Untersuchung gestellt hatten, von einem mehr psychologischen Standpunkt aus ins Auge zu fassen und zu verifizieren. Wir werden hier von der, später freilich noch genauer zu prüfenden Anschauung ausgehen dürfen, daß im Urteil eine Anzahl von Allgemeinvorstellungen oder Begriffen zusammengedacht werde unter Hinzutritt eines besonderen und offenbar für das Urteil vorzugsweise charakteristischen Elements, des  Geltungsbewußtseins  oder  Geltungsgefühls,  wie wir im Anschluß an BENNO ERDMANN (2) sagen wollen. Die Notwendigkeit der Hinzufügung dieses letzteren Elements wird nicht bezweifelt werden können, wenn man sich einmal klar macht, daß wir die begrifflichen Elemente eines Urteils (Kreis und eben, König und gerecht) ganz wohl zusammendenken können, ohne das Urteil (der Kreis sei rund, der König sei gerecht) zu fällen. Müssen wir nun solchergestalt im Geltungsgefühl geradezu das eigentlich Charakteristische des Urteils erkennen, so fällt es auch nicht schwer, jener in logischer Untersuchung entwickelten Sonderung der Urteilsarten ihre psychologische Basis zu geben. Überall da wenigstens, wo es sich um typische und einfache Fälle von  Beziehungs-  und  Realurteilen  handelt, läßt sich die Differenz dieser verschiedenen Urteilsarten gerade als eine psychologische  Differenz des Geltungsgefühls  konstatieren. Der Natur der Sache nach kann man für eine Behauptung solcher Art keinen Beweis erbringen, sondern nur im Wege der Erläuterung versuchen, etwas, was eben nur innerlich erlebbar ist, anschaulicher und greifbarer zu machen. Man vergleiche nun aber das Berechtigungsgefühl, mit dem wir z. B. aussagen: "Konstanz liegt am Bodensee" und anderseits: "zwei Zahlen können nicht sowohl gleich als ungleich sein". Die typische Differenz, die uns zum Ausgangspunkt der logischen Untersuchung diente, macht sich wohl bei solcher Gegenüberstellung sehr deutlich bemerklich und rechtfertigt auch die hier gegebene psychologische Konstatierung. Vor allem wird darauf hinzuweisen sein, daß die Gültigkeit des Beziehungsurteil eine selbstverständliche, unmittelbar evidente ist, was für das Realurteil nicht zutrifft. Die Gültigkeit des Urteils findet im einen Fall ihre Begründung ganz direkt im Inhalt des Urteils selbst, eben vermöge der Natur und Bedeutung der verknüpften Vorstellungen und ihres gegenseitigen Zusammenhanges; beim Realurteil tritt die Überzeugung, daß es sich so verhalte, gewissermaßen als etwas Fremdes hinzu; wir empfinden, daß es sich auch anders verhalten könnte. Man wird diesen psychologischen Gegensatz, der uns noch mehrfach beschäftigen wird, etwa als den eines idiodetischen [selbstbezogenen - wp] und eines heterodetischen [fremdbezogenen - wp] Geltungsgefühls bezeichnen dürfen.

Wir werden aber wohl im unmittelbaren Anschluß an die logischen Untersuchungen noch einen Schritt weiter gehen und behaupten dürfen, daß hier unter dem Namen eines idiodetischen Geltungsgefühls bereits mehrerlei Verschiedenes zusammengefaßt ist und daß im Grunde jeder der dort dargelegten Arten von Beziehungsurteilen noch ein besonderes und eigenartiges Geltungsgefühl zugehört. Es ist eben ein verschiedenartiges Gefühl der Nötigung, mit dem wir einen logischen oder einen mathematischen Zusammenhang einsehen; und können wir auch alle als idiodetisch der heterodetischen Geltung der Realurteil gegenüberstellen, so ist doch der damit bezeichnete Charakter nur eine Verwandtschaft, eine Ähnlichkeit, die ihnen unbeschadet einer deutlichen und charakteristischen Unterschiedenheit zukommen kann.

Auf den ersten Blick nun könnte man vielleicht glauben, mit dieser psychologischen Konstatierung bereits das geleistet zu haben, was als Aufgabe gestellt wurde. Aber dies ist doch höchstens in dem Sinne richtig, daß wir damit etwa die psychologischen Grundlagen deutlich gemacht hätten, mit denen die logische Theorie untrennbar zusammenhängt. Aber wir sind darum gewiß noch sehr weit davon entfernt, auch nur die wichtigsten von denjenigen psychologischen Fragen gelöst zu haben, auf welche die logische Behandlung der Urteilsarten uns hinweist. Und zwar ergeben sich die restlichen Schwierigkeiten sogleich, wenn wir an die gewöhnliche psychologische Gestaltung von Urteilen denken, wie sie, sei es dem wissenschaftlichen Denken, sei es dem täglichen Leben, angehören. Wir bemerken hier das Unzulängliche der eben aufgestellten Schematisierung, wie mir scheint, in zwei Richtungen. Zuerst nämlich wird auffallen, daß in zahlreichen Fällen sich nicht ohne weiteres angeben läßt, von welcher Art eigentlich das dem Urteil eigene Geltungsbewußtsein sei; dies beweisen am greifbarsten z. B. die mathematischen Sätze, über deren logische Natur ja endlos gestritten worden ist, nicht minder aber auch verwickelte Sätze von der Art, wie sie uns z. B. in der Rechtswissenschaft begegnen, wo wir im Zweifel sein können, ob es sich um eine Subsumtion [Unterordnung - wp], ein Realurteil oder gar ein Werturteil handle. Der zweite Punkt ist der folgende. Jede Art von Geltungsbewußtsein sollte, so kann man von vornherein erwarten, an eine ganz bestimmte Kombination begrifflicher Elemente geknüpft sein, zwischen denen eben ein bestimmter Zusammenhang als gültig empfunden wird. Aber nur in den einfachsten Fällen scheint sich das zu bestätigen. Die verwickelten Bildungen der Sprache dagegen zeigen uns eine zunächst so unübersehbare Mannigfaltigkeit von Wortbedeutungen und von Kombinationen derselben in der Aussage, daß wir dieselben mit den einfachen logischen Typen kaum mehr in Zusammenhang bringen können. Gleichwohl sagen wir doch auch mit einem "Geltungsgefühl" z. B. aus, "daß die verfassungsmäßig gewährleistete Unabsetzbarkeit der Richter ein Eckstein unabhängiger Justiz sei". Von welcher Art sind denn nun hier die vereinigten psychologischen Elemente, von welcher Art das ihre Vereinigung begleitende Geltungsgefühl? Wir werden am ehesten hoffen können, derartigen Fragen gerecht zu werden, wenn wir, von den einfachsten Typen ausgehend, den Erweiterungen und Verallgemeinerungen nachgehen, welche die Berücksichtigung psychologischer Tatsachen erforderlich macht.

Eine Schwierigkeit besonderer Natur erwuchs bis vor kurzen einer derartigen Fragestellung aus dem Umstand, daß es weder bei Allgemeinvorstellungen, noch bei Begriffen gelingen wollte, das den Wortklang begleitende und sein Verständnis bedingende psychologische Element in befriedigender Weise anzugeben. Ich glaube, daß diese Schwierigkeit in der Hauptsache beseitigt ist durch die von physiologischer Basis ausgehenden Betrachtungen, nach denen wir das Substrat des Wortverständnisses nicht genötigt sind im Bewußtsein zu suchen, sondern dasselbe in gewissen physiologischen Zuständen, zerebralen Dispositionen erblicken dürfen. (3) Stellen wir uns auf diesen Standpunkt, so könnten wir den Tatbestand des Urteils etwa dahin beschreiben, daß es im Auftreten eines eigenartigen, als Geltungsgefühl zu bezeichnenden Bewußtseinselement bestehe, welches die Verbindung mehrerer Vorstellungen  oder dispositiver Einstellungen begleitet.  Mit dieser Formulierung würden wir den vorhin erwähnten Haupttypen des Geltungsgefühls gerecht werden können. Sie würde uns auch die erforderlich Grundlage für unsere Hauptaufgabe gewähren, die darin bestehen würde, eine gewisse Übersicht darüber zu gewinnen, in welchen Beziehungen wir unsere Ideal-Vorstellungen vom Urteil erweitern und verallgemeinern müßten, um sie mit der vollen psychologischen Vielgestaltigkeit der Denkvorgänge zur Deckung zu bringen.


II.

Der erste, sehr schnell zu erledigende Punkt, in dem die psychologische Betrachtung die logische ergänzen muß, ist die variable Stärke oder Sicherheit des Geltungsgefühls. Es versteht sich von selbst, daß diese Abstufbarkeit bei den mannigfaltigen Gestaltungen des Geltungsgefühls, die wir später zu verfolgen haben werden, eine sehr große Rolle spielt. Ein Satz, wie z. B. der, daß die Höhe der Kultur eines Volkes sich deutlicher als in allen anderen Instituten in seinem Strafrecht widerspiegle, wird, wenn er uns vorgelegt wird, nicht unbedingt Zustimmung finden; ein nur schwaches und zweifelndes Geltungsgefühl wird nach Maßgabe unseres Wissens und unserer sonstigen Anschauungen eine derartige Aufstellung begleiten. Es ist nicht einmal nötig, zu diesen verwickelten Fällen zu greifen; an den aufgrund der Erinnerung aufgestellten Realurteilen können wir sehen, daß auch in allereinfachsten Fällen das Geltungsgefühl eine Abstufung nach Mehr und Minder besitzt. Man kann sagen, daß, von besonderen Ausnahmen abgesehen, bei  allen  Realurteilen das Geltungsgefühl ein abgestuftes ist, indem die Überzeugung, daß es sich so verhalte, mit größerer oder geringerer Sicherheit gehegt wird. Wir haben es hier miteinem sehr bekannten Verhalten zu tun, welches der psychologischen Betrachtung wohl jederzeit geläufig gewesen ist, während es logisch keine Bedeutung besitzt.


III.

Von weit größerer Wichtigkeit ist eine nur auf den ersten Blick mit der soeben erwähnten verwandte Erscheinung, welcher wir nicht, wie jener, bei den Realurteilen, sondern gerade bei den Beziehungsurteilen begegnen. Auch hier freilich handelt es sich um ein Unsicherwerden des Urteils, aber aus ganz anderem Grund und in ganz anderem Sinn. Als einfachstes Beispiel erörtere ich die Subsumtion eines Einzelnen unter eine Allgemeinvorstellung; und zwar wollen wir uns noch vorerst an die einfachste Art von solchen halten, die etwa eine Art sinnlicher Empfindung bezeichnen (Süß, Rot etc.) Schon bei diesen ist zu bemerken, daß von denjenigen Fällen, in denen die einzelne Empfindung sogleich und mit Sicherheit der betreffenden Allgemeinvorstellung subsumiert wird, eine kontinuierliche Abstufung zu denjenigen führt, in denen die Subsumtion mehr oder weniger zweifelhaft erscheint und schließlich zu denjenigen, in denen sie verneint wird.

Ganz das Gleiche gilt für die verwickelteren Allgemeinvorstellungen, die zwar die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens mehr und mehr zu beseitigen strebt, die aber doch im alltäglichen Denken eine so ungeheure Rolle spielen. Die Frage, ob ein Komplex von Ereignissen, der uns vollkommen bekannt ist, eine Revolution, eine Krisis, eine Entwicklung, eine Dekadenz sei, wird in zahlreichen Fällen ebenso anstandslos bejaht, wie in anderen verneint werden, in zahlreichen aber zweifelhaft erscheinen. Betrachten wir den Grund dieses eigentümlichen Verhaltens, so wird es unerläßlich sein, auf die eigentliche psychologische Natur des vorliegenden Beziehungsurteils zu rekurrieren. Und zwar werden wir hier von der vorhin bereits eingeführten Anschauung Gebrauch machen dürfen, daß das physiologische Substrat einer Allgemeinvorstellung in einer bestimmten zerebralen Einstellung zu suchen sei. Wir hätten uns dann weiter zu denken, daß die Koexistenz der gerade realisierten Empfindung und jener dispositiven Einstellung sich in der Erzeugung eben jenes besonderen Zusammengehörigkeitsgefühls geltend macht, welches das Subsumtionsurteil ausmacht. NIcht minder aber ist ersichtlich, daß je nach dem Verhältnis, welches zwischen Einzelempfindung und Einstellung besteht, jenes das Urteil konstituierende Element verschiedenartig sein kann. Es ist ein ganz bestimmtes und typisches da, wo wir die Subsumtion mit Sicherheit bejahen; ein wechselndes, abstufbares aber überall, wo die Subsumtion zweifelhaft erscheint.

Um diese Verhältnisse richtig aufzufassen, muß man sich vor allem den fundamentalen Unterschied klar machen, der zwischen der Unsicherheit dieser Urteile und der vorhin erwähnten, an den Realurteilen zu bemerkendennn stattfindet. Bei diesen letzteren steht im allgemeinen außer Zweifel, daß das in Betracht gezogene Urteil entweder richtig oder falsch sei; nur unsere Unwissenheit ist Quelle der Ungewißheit. Nicht so bei einem unsicheren Subsumtionsurteil. Ob eine vorgelegte Farbe noch ein Rot ist oder nicht, das ist, sofern "Rot" eine Allgemeinvorstellung der hier in Rede stehenden Art ist, sobald es mir zweifelhaft erscheint, auch der Natur der Sache nach gar nicht bestimmt; es ist auch gar nicht diskutierbar. Wenn wir die Bedeutung des Wortes "Unfall" nicht als einen etwa noch zu suchenden und wissenschaftlich festzustellenden Begriff fassen, sondern sie nehmen, wie sie von vornherein tatsächlich ist, als einen mehr oder weniger unbestimmten, so ist auch die Frage, ob das uns individuell bekannte Ereignis ein Unfall sei, keine, über deren Bejahung oder Verneinung eine sachliche Diskussion geführt werden kann, sondern sie ist ihrer Natur nach unbestimmt. Das Verhältnis, in welchem Einzelnes und Allgemeinvorstellung stehen können, ist, sobald wir die Dinge in ihrer vollen psychologischen Mannigfaltigkeit ins Auge fassen, ein abstufbare und überaus wechselndes. Nur gewisse Fälle geben das sichere Gefühl der Zusammengehörigkeit und haben dadurch etwas Typisches und Festes. Wollen wir den psychologischen Tatbestand anderer Fälle hierzu in Gegensatz bringen, so müssen wir hervorheben, daß hier dasjenige Gefühl, welches die Koexistenz von Einzelnem und Allgemeinvorstellung begleitet, ein stets individuell geprägtes, wechselndes, ein  atypisches  ist. Wollen wir auch diese psychologischen Tatbestände als Urteil gelten lassen (was sich aus später hervortretenden Gründen empfiehlt), so können wir von einem  atypischen Beziehungsurteil  reden. Wir hätten danach zu sage, daß das Subsumtionsurteil neben den typischen Fällen der sicheren Subsumtion die ihrer Natur nach atypischen der mehr oder weniger unsichern Subsumtion, einer unbestimmten Beziehung umfaßt.

Man wird der Aufstellung dieser Kategorie vielleicht keine sehr große Bedeutung zuzuerkennen geneigt sein, wenn es sich dabei nur um die Subsumtionsverhältnisse bei einer gewissen Unbestimmtheit der Allgemeinvorstellungen handeln soll. Tatsächlich indessen spielen, wie ich glaube, die atypischen Beziehungsurteile ein viel bedeutendere Rolle; die unsichere Subsumtion ist nur ein, aber nicht das bedeutendste oder interessanteste Beispiel derselben. Am beachtenswertesten erscheint mir vielmehr die Eigenschaft der Atypie bei der Gesamtheit der psychologischen Vergleichungen (Prädikationen der Gleichheit, des Unterschiedes, der Ähnlichkeit und dgl.) und ich komme hiermit wieder auf einen von mir schon öfter erörterten Punkt: den fundamentalen Unterschied nämlich des in der Tat vollkommen typischen mathematischen Gleichheitsurteils von den vielgestaltigen der psychologischen Vergleichung. Ich will, um das möglichst klar zu stellen, zunächst die letztgenannten Urteile etwas genauer ins Auge fassen. Wenn wir zwei Empfindungen, Wahrnehmungen oder auch zwei Vorgänge ähnlich nennen: was sagen wir eigentlich damit aus? In vielen Fällen meinen wir damit ohne Zweifel eine gewisse, objektiv gültige Aufstellung über das reale Verhalten der Dinge. Lassen wir diese, die uns hier nicht interessiert und deren genauere Verfolgung auch keine prinzipielle logische Schwierigkeit einschließt, hier beiseite, so bleibt das Urteil als reines Beziehungsurteil übrig, als Konstatierung eben desjenigen Beziehungsgefühls, welches die Zusammenhaltung der verglichenen Empfindungen etc. begleitet. Die genauere Betrachtung lehrt nun, wie mir scheint, unweigerlich, daß diese Beziehungsgefühle stets vollkommen individuelle und eigenartige sind, jedem Einzelfall eigentümlich und von Fall zu Fall anders. Am greifbarsten gilt dies Verhalten für die Prädikationen der Ähnlichkeit. Die Ähnlichkeit eines Rot und eines Orange, eines reinen und eines grünlichen Blau, eines gesungenen und eines geblasenen C, eines RAFFAELschen und eines PERUGINOschen Bildes: alle können wir unter den unbestimmten Begriff der Ähnlichkeit subsumieren. Aber das Beziehungsgefühl ist zunächst in jedem einzelnen Fall ein individuelles; es ist nicht genau das nämliche Element, welches sich im einen und dem anderen Fall vorfindet, sondern - auch hier können wir uns nur wieder des gleichen Begriffs bedienen - ein mehr oder weniger ähnliches.

Wir können dieser Konstatierung der Atypie als einer Besonderheit derartiger Urteile auch nicht durch eine naheliegende, etwas andere Auffassung derselben entgehen. Man kann freilich den Nachdruck darauf legen, daß die schließliche Prädikation, eben unter Verwendung des Ähnlichkeitsbegriffs, doch immer dieselbe sei. Faßt man das atypische Beziehungsurteil statt in seiner individuellen Bestimmtheit in dieser verallgemeinerten Weise auf, so bleibt sein Unterschied gegenüber den typischen Urteilen darum nicht minder bedeutsam, eben darin bestehend, daß die Prädikation die unbestimmte Allgemeinvorstellung der Ähnlichkeit besagt, statt wie in anderen Urteilen die typische und scharf bestimmte, jeden Zweifel ausschließende der Realität, der mathematischen Gleichheit, des notwendigen logischen Zusammenhangs etc. (4) Man wird, wie ich glaube, im allgemeinen geneigt sein, dies zuzugeben, vielfach dagegenn zunächst abgeneigt, das Entsprechende auch auf die Gleichheitsaussagen auszudehnen. Trotzdem scheint mir die nähere Betrachtung der psychologischen Vergleichungen keinen Zweifel darüber zu lassen, daß es sich da ganz ebenso verhält. Denn, um es sogleich ganz allgemein zu sagen, jede solche Gleichprädikation ist doch immer nur die Konstatierung einer beschränkten Übereinstimmung.

Vergleichen wir z. B. Empfindungsunterschiede, etwa die Helligkeitsdifferenz eines Weiß und eines Grau und andererseits die Differenz zweier Töne von verschiedener Höhe, so werden wir auch zunächst konstatieren müssen, daß jede solche Differenz etwas besonderes und individuelles ist; und ebenso ist es umso mehr das Beziehungsgefühl, welches die Vergleichung zweier solcher Unterschiede ausdrückt. Kann man also auch hier in gewisser Weise von einer Größengleichheit reden, so wird man sich doch vergegenwärtigen müssen, daß hier die Beziehungsgefühle auch durchaus individuelle sind und daß, wenn wir hier durchweg von Gleichheitsprädikation reden, auch die psychologische Größengleichheit (in diesem weiten Sinne genommen) eine höchst unbestimmte Allgemeinvorstellung ist. Nennen wir also - dahin möchte ich das Gesagte kurz zusammenfassen - einmal die Helligkeit zweier Farben, sodann die Tonstufen  c-d  und  c1-d1,  sodann den Unterschied zwischen einem ersten und zweiten und den zwischen einem dritten und vierten Grau, endlich etwa den Unterschied zweier Farben und den zweier Töne  gleich,  so ist die subjektiv empfundene Beziehung in jedem dieser Fälle eine verschiedene und wir sagen also (wie man es nehmen will) in jedem Fall etwas verschiedenes oder in allen etwas unbestimmtes, eine Menge von Verschiedenartigem Zusammenfassendes aus; es fehlt also der Gesamtheit dieser Prädikationen der ganz fest bestimmte, scharfe und allemal gleiche Sinn, den wir bei anderen finden und sie dürfen daher atypisch genannt werden.

Man kann das, worauf es ankommt, vielleicht noch deutlicher machen, wenn man darauf hinweist, daß ursprünglich die Möglichkeit, so Verschiedenartiges zusammenzufassen, auf der außerordentlichen Allgemeinheit und Unbestimmtheit des psychologischen "Mehr" und "Weniger" beruth. Nach einem gewissen Gesamteindruck können wir die starke Geruchsempfindung im Vergleich zum schwachen Ton, ebenso die palbabele [leicht wahrnehmbare - wp] Differenz zweier ganz verschiedener Farben gegenüber dem die Aufmerksamkeit wenig auf sich ziehenden, allenfalls überhörbaren Unterschied zweier nahe verwandter Töne als ein eindrucksvolleres, mächtigeres oder ein größeres bezeichnen. Wo wir weder das eine noch das andere von zwei verglichenen Elementen mit Sicherheit als ein "Mehr" empfinden, können wir dann von Gleichheit reden. Die Unbestimmtheit jener Allgemeinvorstellungen des "Mehr" und "Weniger" geht parallel der Unbestimmtheit der Gleichheitsprädikation, die im Grunde nur darin besteht, daß für keine jener Subsumtionen ein genügender Anlaß da ist.
LITERATUR - Johannes von Kries, Zur Psychologie der Urteile, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) von KRIES, Über Real- und Beziehungsurteile, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XVI, Seite 253
    2) BENNO ERDMANN, Logik I, Seite 281
    3) Vgl. hierüber von KRIES: Über die Natur gewisser mit den psychischen Vorgängen verknüpfter Gehirnzustände. Zeitschrift für Psychologiie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. VIII, Seite 1
    4) Bei allen atypischen Beziehungsurteilen läßt sich durch eine derartige Auffassung die Unsicherheit, die ihnen anhaftet, auf eine Unsicherheit der Subsumtion reduzieren, indem die Frage vorgebracht wird, ob das individuell gegebene Beziehungsgefühl in eine solche, ihrer Natur nach unbestimmte Kategorie hineingehöre oder nicht.