p-4ra-1H. CzolbeTh. ElsenhansJ. RehmkeR. LagerborgJ. Bergmann    
 
JOHANNES von KRIES
Über die materiellen Grundlagen
der Bewußtseinserscheinungen

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"Die Psychologie hat schon lange eingesehen, daß die Bildung der Allgemeinvorstellung nicht in dem Sinne eine Abstraktion ist, daß aus einer Anzahl von Einzelgebilden das Verschiedene fortgelassen und die gemeinsamen Teile festgehalten und hervorgehoben würden. Im psychologischen Sinn ist die Allgemeinvorstellung jedenfalls nicht zutreffend als die Heraussonderung von  Teilen  zu erklären."

"Abzulehnen ist jedenfalls der Gedanke, daß jeder Eindruck seine bestimmte Zelle besitzt, die sozusagen nur ihm zugehört und die, gerade immer nur durch ihn in Tätigkeit zu versetzen, als die Trägerin dieses Erinnerungsbildes zu gelten hätte; es ist die oberflächlichste und platteste aller Vorstellungen, die schon daran scheitert, daß ja unmöglich für jede neue Art von Eindrücken eine Anzahl von Zellen bereitgestellt sein kann, die gewissermaßen auf sie gewartet hätte und falls es zu jener Wahrnehmung nicht gekommen wäre, dauernd außer Gebrauch hätte bleiben müssen."


Zu erinnern wäre zunächst daran, daß wir auch hinsichtlich der physischen Vorgänge geneigt und gewohnt sind, von einem gleichen Bestandteil zu reden, wo die genauere Überlegung doch zeigt, daß nur unsere reflektierende und zusammenfassende Betrachtung das Übereinstimmende findet, objektiv aber die Wiederholung eines identischen Bestandteils gar nicht aufzuzeigen ist. Wenn wir die gleichen physikalischen oder chemischen Vorgänge einmal bei niedrigerer Temperatur sich abspielend, einmal in langsamerem Tempo ablaufend, gleiches Geschehen einmal in einer kleinen, einmal in einer größeren Zahl ähnlicher Gebilde verwirklicht etc., noch als etwas Physisch-Einheitliches gelten lassen wollen, so zerrinnt uns unmerklich die Bedeutung des Prinzips überhaupt und es bleibt nur übrig, daß dem physissch  Gleichartigen  auch physisch irgendwie  Gleichartiges  entsprechen werde. Nur wenn man so weit gehen wollte, als Substrat des psychischen Einheitlichen stets den absolut identischen Vorgang zu postulieren, hätte jener Satz einen vollkommen festen Sinn. Aber ich wüßte nicht, worauf bei so enger Auffassung sich seine Berechtigung oder Notwendigkeit noch gründen ließe. Beschränken wir uns aber auf den Satz, daß dem psychisch Gleichartigen auch physisch Gleichartiges entspricht (und ich wüßte nicht, welches Forschungsprinzip berechtigen oder gar zwingen könnte weiter zu gehen), so entfällt jedenfalls die Notwendigkeit, für die einheitliche Auffassung einer Form, einer Beziehung etc., kurzum für die gesamten Vorgänge, die zur Bildung von Allgemeinvorstellungen führen, jedesmal nach den identischen Begleiterscheinungen zu suchen.

Die obigen Überlegungen zeigen, wie ich glaube, die Aussichtslosigkeit dieses Weges und sie führen, wenn man ihr Ergebnis kurz zusammenfassen will, zu einem der MACHschen Aufstellung einigermaßen entgegengesetzten Ergebnis. Die Psychologie hat schon lange eingesehen, daß die Bildung der Allgemeinvorstellung nicht in dem Sinne eine Abstraktion ist, daß aus einer Anzahl von Einzelgebilden das Verschiedene fortgelassen und die gemeinsamen Teile festgehalten und hervorgehoben würden. Im psychologischen Sinn ist die Allgemeinvorstellung jedenfalls nicht zutreffend als die Heraussonderung von  Teilen  zu erklären. Eben diesen Schritt wird nun die Physiologie des Zentralnervensystems bewußt und ausdrücklich mittun müssen. Auch in ihren Fundamentalgesetzen muß die Zusammengehörigkeit des Gleichartigen irgendwie begründet sein und zwar direkt, nicht auf dem Umweg des identischen Bestandteils. Davon, ob es gelingt, einen Zusammenhang physiologischer Vorgänge zu finden, der dieser Forderung genügt, ob wir für diese Fundamentalerscheinung des Psychischen eine materielle Analogie aufweisen können, wird es, wie mir scheint, vor allem abhängen, ob der Versuch, einen allgemeinen Parallelismus der psychischen Vorgänge mit irgendwelchen materiellen Substraten auch nur in hypothetischer Weise zu konstruieren, mit irgendwelcher Aussicht auf Erfolg unternommen werden kann.

Natürlich ist damit nicht ausgeschlossen, und auch ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß eine einmal fertig ausgebildete "Allgemeinvorstellung" ein ganz bestimmtes physiologisches Substrat haben wird. Hier ist dann aber das physiologisch und psychologisch Einheitliche erst Ergebnis einer Ausbildung. Schon die Möglichkeit einer solchen beruth aber auf der übereinstimmenden Wirkung des physiologisch Gleichartigen. Und diese so aufzufassen, daß überall die Wiederholung identischer Bestandteile der Gleichheit des Effekts zugrunde läge, daß die Möglichkeit jeder Verallgemeinerung durch das Vorhandensein identischer Begleiterscheinungen vorgezeichnet sei, das ist es, was mir ausgeschlossen erscheint.

Für denjenigen, der den Begriff "Dreieck" gebildet hat, wird allerdings dieser Begriff und sein physiologisches Substrat wohl meistens die Wahrnehmung des kleinen wie des großen, des rechten wie des schiefwinkligen Dreiecks begleiten und hier kann also in ganz anderem Sinne von einer den individuellen Eindrücken übereinstimmend zukommenden Begleiterscheinung geredet werden. Für ihre Enstehung oder Ausbildung aber muß (auch im Physiologischen) eben die Gleichartigkeit der verschiedenen Dreieckswahrnehmungen genügen. Wie das geschieht, vermögen wir vorderhand nicht anzugeben; aber das hier liegende Problem wird, wie mir scheint, seiner Lösung nicht näher geführt, wenn wir uns die Aufgabe stellen, nach den in allen Fällen übereinstimmenden Begleiterscheinungen zu suchen, die das physisch Gleiche der  Form  repräsentieren sollen. (1)

Wir haben im Bisherigen vorzugsweise die spezielle Gestaltung der Assoziationsverhältnisse im Hinblick auf das Leitungsprinzip einer Prüfung unterzogen. Ein neues Gebiet eröffnet sich unserer Betrachtung, wenn wir fragen, ob den assoziativen Verknüpfungen und ihrer Ausbildung wirklich eine so dominierende Bedeutung zugeschrieben werden darf, wie man das vielfach getan hat und wie das namentlich von physiologischer Seite, gerade wieder durch die Vorstellungen des Leitungsprinzips beeinflußt, auch jetzt überwiegend geschieht. In der Tat liegt ja diesem als Basis die Annahme zugrunde, daß gewisse Teile durch ihre Tätigkeit diese oder jene Bewußtseinsvorgänge hervorrufen; die Beziehung, in welche diese zueinander gesetzt sind, hängt alsdann davon ab, ob zwischen jenen Teilen eine leitende Verbindung existiert oder nicht (eventuell vielleicht von der im gegebenen Augenblick gerade vorhandenen Wegsamkeit dieser Verknüpfung). Alle gegenseitige Beziehung verschiedener Bewußtseinselemente läuft demnach darauf hinaus, daß sie koexistieren können oder müssen oder vielleicht  nicht  können. (2) Mit vielen anderen bin ich der Ansicht, daß die psychischen Beziehungen hierbei viel zu äußerlich aufgefaßt sind. Eine vollständige Ausführung und Begründung dieser Anschauung würde im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich sein. Es wird aber auch genügen, was gemeint ist, an einem Beispiel zu erläutern. Ich wähle hierzu die in jüngster Zeit wohl auch psychologisch besonders fruchtbar gewordene Lehre vom  Urteil.  Halten wir an der dem Leitungsprinzip noch günstigsten und ganz einfachen (wiewohl schwerlich genügenden) Auffassung fest, daß es sich im Urteil stets um eine Verknüpfung von zwei Begriffen, Subjekts- und Prädikatsbegriff, handle, so kann doch nicht übersehen werden, daß diese Verknüpfung nicht als eine bloße Koexistenz genommen werden darf. Schon der Unterschied zwischen bejahendem und verneinendem Urteil, zwischen dem Urteil überhaupt und dem bloßen Nebeneinanderdenken bliebe hierbei ohne befriedigende Aufklärung. Die Vertiefung der Psychologie, die neueren logischen Untersuchungen verdankt wird, hat daher mit Recht dazu geführt, das "Geltungsgefühl" als eine besondere und vorzugsweise wichtige Eigenschaft im psychologischen Tatbestand eines jeden Urteils in Anspruch zu nehmen. Es würde, wie mir scheint, nicht viel nützen, wenn man eine physiologische Grundlage hierfür in das Leitungsprinzip etwa so hineinbringen wollte, daß man die Annahme hinzufügte, es werde eben auch die Leitung selbst in eigenartiger Weise, ihre größere oder geringere Leichtigkeit und dgl. empfunden. Die Psychologie des Urteils wird auch hiermit noch nicht auskommen. Sie wird vielmehr berücksichtigen müssen, daß eben jenes Gefühl der Geltung, der Zusammengehörigkeit der im Urteil verknüpften Begriffe, doch auch nach der Art des Urteils ein ganz verschiedenes ist.

Zu erwägen ist dann ferner, daß man, um nicht in weitere Schwierigkeiten zu verfallen, sich wohl auch kaum das Geltungsgefühl als etwas unabhängig neben den in das Urteil eingehenden Begriffen Hergehendes denken kann, denn, um nur eines anzuführen, es gibt ja kein Geltungsgefühl ohne etwas, das als gültig erscheint, sozusagen für sich allein in der Luft schwebend. Dies weist denn wohl darauf hin, daß wir uns das Geltungsgefühl auch nicht von materiellen Prozessen getragen denken dürfen, die sich an ganz anderen Elementen als den Trägern der Begriffe abspielen, sondern es vielmehr (im Physischen wie im Psychischen) als eine eben den nämlichen Prozessen unter Umständen zukommende unter Umständen abgehende Modalität auffassen müssen. Die Begriffskombination, die den Inhalt des Urteils ausmacht, sie ist mit dem Gefühl der Geltung, das sie zum wirklichen Urteil macht,  funktionell  verknüpft; materiell kann das nur so verstanden werden, daß die nämlichen Vorgänge, die das Denken jener Begriffskombination tragen, zugleich auch diejenigen Besonderheiten aufweisen, auf denen das Gefühlt der Gültigkeit beruth. Eine derartige Anschauung läßt sich für manche Fälle wohl noch genauer durchführen, so z. B. für das analytische Urteil.

Sagen wir von einem Begriff etwas aus, was implizit in ihm bereits mitgedacht ist (der Kreis ist rund), so ist hier das psychologische Verhalten offenbar das, daß eine im Subjektsbegriff nur in entfernterer Weise dispositiv vorhandene Vorstellung im Prädikatsbegriff bestimmter, deutlicher zur Geltung gebracht wird. Die Beziehung also, die sich logisch als die selbstevidente Gültigkeit des analytischen Urteils präsentiert, stellt sich psychologisch als die Aktivierung einer Disposition, als die Verwirklichung von etwas Vorbereitetem dar. Eben das ist das psychologisch Eigenartige, was dem Zusammendenken eines Subjektsbegriffs und eines in ihm implizit mitgedachten Merkmals als Prädikatbegriff zukommt; wir sind hier in der Lage, das von der logischen Betrachtung herausgestellte Besondere auch psychologisch durchaus greifbar zu machen.

Ganz vorzugsweise deutlich sehen wir aber auch hier, daß diese Eigentümlichkeit nicht als eine äußere Begleiterscheinung aufgefaßt werden kann, sondern daß sie eine Qualität ist, die dem Verhältnis der beiden Begriffe als solchem zukommt.

Ähnlich wird aber auch die Gesamtheit anderer Urteile aufzufassen sein, in denen zwei Begriffe als zusammengehörig, ihre Koexistenz als eine gültige empfunden wird, nicht wegen einer von vornherein ihnen zukommenden Beziehung, sondern aufgrund einer allmählich entstandenen Ausbildung. - Wir könnten uns vielleicht denken, daß in einer Geige das häufig wiederholte Zusammenklingen zweier Töne eine solche Modifikation ihres Gefüges schafft, daß die beiden Schwingungen, anfangs sich störend und behindernd, später ungestört, ja sich unterstützend, nebeneinander bestehen. So etwa wird man sich, wie mir scheint, die Ausbildung eines Geltungsgefühls zu denken haben. Die allmählich eintretende Modifikation, auf der der Erwerb des Wissens beruth, besteht darin, daß der psychologische Vorgang, auf dem die Koexistenz der Begriffe beruth, eine gewisse Färbung mehr und mehr einbüßt oder eine entgegengesetzte mehr und mehr erhält. Nicht die Ausbildung einer Assoziation ist es, was die psychologischen Tatsachen postulieren, sondern eine gegenseitige Anpassung und Zusammenstimmung, etwas, was wir, um einen kurzen Ausdruck dafür einzuführen, etwa als eine  Konformierung  bezeichnen könnten.

Sind nun diese Überlegungen, die wir an die Psychologie des Urteils knüpften, richtig, so nötigen sie uns gleichfalls in sehr entscheidender Weise dazu, das Leitungsprinzip für unzureichend zu erklären und anzuerkennen, daß eine materielle Fundierung intellektueller Prozesse zum Teil nach ganz anderen Gesichtspunkten wird gesucht werden müssen. Es kann sich dann bei der Erwerbung des Wissens nicht um die Ausbildung von leitenden Verbindungen handeln, die die Koexistenz oder Sukzessioin gewisser Begriffe sicherten, sondern um materielle Modifikationen anderer Art, vermöge deren eine solche Koexistenz als gültig, als gewohnt, oder als widerspruchsvoll empfunden wird.

Das Resultat, zu dem wir hier gelangen, berührt sich einigermaßen mit demjenigen, zu dem schon die Erörterung der assoziativen Prozesse selbst führte. Wir fanden auch dort, daß es sich vielfach nicht um die Entwicklung von Leitungsbahnen kann, die entfernte Teile in Verbindung setzen, sondern um eine vorderhand nur bildlich zu bezeichnende Formierung einheitlicher Gebiete, vermöge deren die Koexistenz verschiedener Zustände besonders erleichtert ist. Eine derartige Vorstellung gewährt für das hier zuletzt entwickelte Postulat ohne weiteres Raum. Wenigstens wird es als eine nicht zu fremdartige Ergänzung erscheinen, wenn angenommen wird, daß im psychischen Zustand nun auch die Art der Beziehung, in welche jene verschiedenen Zustände gesetzt sind, sich unmittelbar bemerklich macht. Wir gehen nur in der gleichen Richtung noch einen Schritt weiter, wenn wir auch Ausgestaltungen annehmen, vermöge deren die Koexistenz gewisser Zustände diese oder jene besondere Färbung erhält, wie wir das durch die Bezeichnung der Konformierung zum Ausdruck bringen wollten.

Die obigen Erörterungen dürften, so wenig sie irgend eine systematische Vollständigkeit erstreben oder besitzen, doch genügen, um deutlich zu machen, daß die Vorgänge des Zentralnervensystems sich nur zum Teil in der vom Leitungsprinzip angenommenen Weise auffassen und verstehen lassen, zu einem anderen Teile aber, wenn auch vorderhand nur dunkel und andeutungsweise, ganz andere Arten des Geschehens verraten. Sie dürfte wohl auch diejenigen Richtungen erkennen lassen, in denen sich die Annahmen jener Lehre vornehmlich als unzureichend herausstellen. Genügen sie auch, um uns auf neue physiologische Auffassungen hinzuweisen?

Ich bin kaum in der Lage, diese Frage zu bejahen und so werden auch, fürchte ich, die nachfolgenden Andeutungen den etwas unbefriedigenden Eindruck, den die bisherigen wesentlich negativen Ausführungen hinterlassen, kaum abschwächen können. Immerhin sollen sie eine Stelle finden, schon weil sie geeignet sind, die Meinung jener Ausführungen deutlicher hervortreten zu lassen.

Fragen wir, um mit der Erwägung eines zwar speziellen aber jedenfalls fundamentalen Problems sozusagen den Stier bei den Hörnern zu packen, wie wir uns die zentrale Repräsentation eines bestimmten optischen Eindrucks, etwa desjenigen eines Pferdes, denken sollen, so gelingt zumindest die Auseinanderlegung einer Reihe wohlunterschiedener Möglichkeiten. Abzulehnen wäre zunächst jedenfalls der Gedanke, daß jeder derartige Eindruck seine bestimmte Zelle besitzt, die sozusagen nur ihm zugehört und die, gerade immer nur durch ihn in Tätigkeit zu versetzen, als die Trägerin dieses Erinnerungsbildes zu gelten hätte; es ist die oberflächlichste und platteste aller Vorstellungen, die schon daran scheitert, daß ja unmöglich für jede neue Art von Eindrücken eine Anzahl von Zellen bereitgestellt sein kann, die gewissermaßen auf sie gewartet hätte und falls es zu jener Wahrnehmung nicht gekommen wäre, dauernd außer Gebrauch hätte bleiben müssen.

Abzulehnen wird aber auch die andere Vorstellung sein, daß das Erinnerungsbild des Pferdes ausschließlich getragen und bedingt sei durch angeknüpfte, nicht optische Elemente. Das allerdings ist ja ganz gewiß, daß bei ausgebildeter Intelligenz in weiter Ausdehnung psychophysische Bestandteile verschiedenster Art anklingen werden, wenn ein bekannter Gegenstand gesehen wird. Aber für die Ausbildung aller dieser Zusammenhänge muß den Ausgangspunkt (oder einen der Ausgangspunkte) doch ohne Zweifel die sinnliche Wahrnehmung selbst liefern. Und so ergibt sich, glaube ich, die Notwendigkeit, den zentralen Vorgang, der der unmittelbarste Repräsentant des sinnlichen Eindrucks ist, als eine Bestimmung innerhalb  eines  Rindenfeldes, innerhalb einer großen Zahl funktionell gleichwertiger Zellen aufzufassen. Geht man aber von dieser Zuspitzung des Problems aus, so handelt es sich, wie mir scheint, eigentlich nur noch um zwei Möglichkeiten. Die eine, welche den herrschenden Vorstellungen noch näher steht, würde darauf hinauslaufen, daß ein optischer Eindruck hier durch irgendeine verwickelte räumliche Verteilung der Erregungszustände gegeben wäre. Die Spur, die von einem derartig verteilten Tätigkeitszustand zurückbliebe, hätte man sich dann wohl als einen gewissen interzellulären Zusammenhang, aber nicht als eine einzelne ausgebildete Bahn, sondern etwa als ein innerhalb des betreffenden Feldes ausgebildetes  Verbindungsnetz  von bestimmter Formation zu denken. Die üblichen Vorstellungen sind hierbei in der Tat insofern festgehalten, als die "Spur" eines Eindrucks durch die Ausbildung irgendwie formierter  interzellulärer Verbindungen  gegeben wäre. Auch mag es ansprechend erscheinen, die verschiedenen funktionell zusammengehörigen Erinnerungsbilder (wie z. B. die sämtlichen rein optischen) anatomisch so verquickt zu denken, wie es hiernach der Fall sein könnte, da eben eine unbegrenzte Zahl solcher Netze einander durchflechtend innerhalb desselben Feldes koexistieren würden.

Dagegen wird die weitere Ausgestaltung einer solchen Annahme sowohl hinsichtlich der assoziativen Verknüpfungen als auch namentlich im Hinblick auf die Generalisation auf große Schwierigkeiten stoßen.

Soll der Tätigkeitszustand aus einer Verteilung, die einem ersten solchen Netzwerk folgt, gerade in eine bestimmte andere hinübergleiten, während doch alle diese Netze sich in mannigfaltigster Weise durchflechten, so wird man der Annahme einer sehr komplizierten Beeinflussung der an jedem Punkt bestehenden Leitungsverhältnisse nicht ausweichen können. Soll ferner die Spur eines aktuellen Eindrucks nicht nur für die identische Wiederholung, sondern auch für ähnliche von anderer Größe und Lage begünstigte Bedingungen als Spur hinterlassen, so müßte sich darin ein noch weiter gehender und wohl noch schwieriger zu denkender Zusammenhang der einzelnen Teil aussprechen. Was in einer individuell bestimmten Form verwirklicht war, müßte (man könnte den Vorgang einer Resonanz vergleichen) überall, in sozusagen unendlicher Wiederholung Ähnliches schaffen. Nicht ein Netz interzellulärer Verbindungen würde als Residuum eines bestimmten Eindrucks genügen, sondern es müßte eine bestimmte, mannigfaltigst wiederholte Differenzierung angenommen werden. Auf diesem Punkg angelangt sehen wir uns aber dann naturgemäß zu der Frage gedrängt, ob nicht von vornherein die andere der beiden, wie oben gesagt, sich bietenden Möglichkeiten die größere innere Wahrscheinlichkeit besitz. Diese, vom Hergebrachten sich noch weiter entfernden, würde die gesamten hier in Frage kommenden Erscheinungen nicht auf eine Ausbildung irgendwelcher interzellulärer Verbindungen, sondern auf eine Differenzierung innerhalb der einzelnen Zellen zurückführen, sie als  intrazelluläre  Leistungen auffassen.

Es ist jedenfalls der Mühe wert, sich zu überlegen, wie sich die Dinge etwa unter diesem Gesichtspunkt ausnehmen würden. Soll als Spur einer optischen Wahrnehmung eine verwickelte Differenzierung einer Zelle hinterlassen werden, so müßte man diese mit dem System ihrer Ausläufer etwa durch das ganze Gebiet verzweigt und erstreckt denken, innerhalb dessen in anderen Gebilden die den Netzhautbildern direkt entsprechende Verteilung der Tätigkeitszustände angeordnet wäre. Zellen solcher Art könnte man dann die Funktion einer  verallgemeinernden  Aufbewahrung optischer Bilder zuschreiben.

Eine weitere Ausdehnung ähnlicher Vorstellungen erscheint nicht zu schwierig und ihr Grundgedanke könnte wohl auch auf die Verhältnisse der Assoziation angewandt werden. In Zellen, die von mehreren verschiedenen Seiten her beeinflußt werden, würde eine Art Anpassung verschiedener Zustände anzunehmen sein, derart, daß der eine den anderen bedingt und hervorruft oder aber auch von der Art, daß ihre etwa anderweit bedingte Koexistenz sich mit bestimmten Qualifikationen begleitet, durch die sie als eine gewohnte oder ungewohnte, geltende oder widersprechende, empfunden würde. So gelangten wir dazu, jedenfalls in einem Teil der assoziativen Verknüpfungen, vornehmlich aber im Vorgang der Konformierung Leistungen zu erblicken, die in ihren Elementen schon den einzelnen Nervenzellen zukommen können und ebenso hierin auch den Grund zu finden, daß diese Funktionen die Fundamentaleigenschaft der Generalisation darbieten.

Darf der Versuch, solchergestalt die Hauptseiten der am Zentralnervensystem zu konstatierenden Leistungen nicht auf die besonders formierten Zellenverbindungen zurückzuführen, sondern direkt der Einzelzelle zuzuschreiben, irgendwelche Beachtung beanspruchen?

Das wird man zugeben können, daß alle die Erscheinungen, um die es sich hier handelt, unserem Verständnis einigermaßen näher gerückt erscheinen, wenn wir ihre Substrate in Gebilden von der Größenordnung der Zelle zu suchen haben; die Kleinheit der Dimension, die Annäherung der Strukturdetails an die Größe der hoch zusammengesetzten organischen Moleküle, sie ermöglichen ja doch wohl den Reichtum der Vorgänge, die wir tatsächlich an den Zellen konstatieren können. So wird Vielen vielleicht der Gedanken nicht unsympathisch sein, daß eine in der Zelle bleibende Differenzierung nicht bloß einen individuell bestimmten, sondern eine Gesamtheit ähnlicher Zustände begünstige. Auch die Etablierung einer assoziativen Verknüpfung durch Ausbildung einer intrazellulären Anpassung dürfte vielleicht nicht zu fremdartig erscheinen und noch einleuchtender wird man die Annahme der intrazellulären Grundlage für den als Konformierung bezeichneten Vorgang finden.

Natürlich kann man mit einigem Recht auch sagen, daß, indem wir den Zellen generalisierende Assoziation und Konformierung zuschreiben, wir diese Vorgänge einem eigentlichen Verständnis fürs erste ganz entrücken. Indessen geschähe damit doch nur etwas, was sich auf anderen Gebieten physiologischer Forschung in ähnlicher Weise vollzogen hat, respektive zu vollziehen scheint. Auch hinsichtlich der Drüsentätigkeit und Muskelkontraktion sind wir bei vertiefter Untersuchung immer mehr dazu geführt worden, das Wesentliche der Leistungen immer mehr dazu geführt worden, das Wesentliche der Leistungen mit den intimsten Bildungen der Gewebsbestandteile in Verbindung zu bringen, ebenfalls mit dem Verzicht auf so durchsichtige und erschöpfende Erklärungen, wie sie früher wohl möglich erscheinen mochten. Daß die langgestreckten Nervenfortsätze, wie wir sie in den Nervenfasern sehen, eine ganz einheitliche, vielleich nach einfachem physikalischem Schema darzustellende Funktion besitzen, das mag ja einigermaßen glaublich erscheinen. Aber kann es nach allem, was wir wissen, als wahrscheinlich gelten, daß das Verhalten der Nervenzellen sich wirklich erschöpfend als ein höherer oder geringerer Tätigkeitsgrad auffassen läßt?

Auf der anderen Seite ist gewiß, daß auch die Durchführung dieses Gedankens einer intrazellulären Begründung der Hauptfunktionen auf manche Schwierigkeiten stößt. Am wenigsten vielleicht noch in Bezug auf die Auffassung der überhaupt im Gehirn anzutreffenden Zellenarten; denn es wäre recht einleuchtend, anzunehmen, daß jeder Art von Zellen ganz bestimmte Arten von generalisierender Aufbewahrung, von assoziierender oder sonstiger Verknüpfung obliege.

Aber in zwei Richtungen hauptsächlich werden, wie mir scheint, ernste Zweifel bestehen bleiben. Sie knüpfen sich vorzugsweise daran, daß, wie wir doch anzunehmen genötigt waren, die einzelne Zelle vermöge sehr mannigfaltiger und koexistierender Differenzierungen als die Trägerin einer sehr großen Zahl, ja vielleicht aller der gleichen Kategorie angehörigen Erinnerungsbilder betrachtet werden sollte. Man wird fragen können, ob das, trotz aller Komplikation, die wir ja den intrazellulären Verhältnissen und Vorgängen zuzutrauen geneigt sind, nicht doch das glaubliche Maß an Reichhaltigkeit des Zellinhalts überschreitet. Und andererseits: wenn, wie hiernach anzunehmen wäre, schon die einzelne Zelle als Substrat einer ganzen Kategorie von Leistungen in Anspruch genommen wird, was soll, was bedeutet dann noch die Anhäufung einer sehr großen Zahl funktionell offenbar gleichwertiger Zellen, wie wir sie doch innerhalb aller Gebiete sehen?

Einigermaßen kann beiden Bedenken vielleicht dieselbe Überlegung begegnen. Ein optischer Eindruck wird zwar in allen der optischen Erinnerung dienenden Zellen eine Spur hinterlassen, aber sicher nicht in allen genau die nämliche, sondern in einer jeden eine etwas verschiedene. Eine assoziative Wirkung also, die durch die Wiederholung eines ähnlichen Eindrucks hervorgerufen wird, kann je nach dessen speziellerer Gestaltung bald mehr durch diese, bald mehr durch jene Zellen bedingt sein.

Ein Erinnerungsbild im weitesten Sinn des Wortes wird also allerdings schon die einzelne Zelle festhalten. Aber man versteht doch einigermaßen, daß ein solches an Deutlichkeit, Sicherheit und Reichtum umso mehr gewinnt, eine je größere Zahl von Zellen sich bei seiner Konstituierung beteiligt. Was den einzelnen Zellen zuzumuten ist, erscheint demnach doch reduziert, der Nutzen einer großen Zahl auch begreiflich. Vielleicht werden auch namentlich die Pathologen nicht ungern der hierdurch sich ergebenden Konsequenz zustimmen, daß das Erinnerungsbild bestimmter Gegenstände anatomisch in keiner Weise als etwas Einheitliches oder Zirkumskriptes [scharf Begrenztes - wp] aufgefaßt werden kann. Es wäre das zunächst schon insofern nicht, als wenigstens in höheren Entwicklungsstadien kaum jemals ein Erinnerungsbild auch  nur funktionell  einheitlich sein wird; es wird z. B. kein optisches geben, welches nicht durch Anklingen mannigfaltiger andersartiger Beziehungen und Vorgänge mitgetragen und unterstützt würde, mit einem Wort also kein rein und ausschließlich optisches oder keines (allgemeiner gesprochen), das in einer Differenzierung nur  eines  Rindenbezirkes begründet wäre. Aber auch das, was wir an einem solchen Erinnerungsbild als einzelnes Element, als etwas funktionell ganz Einheitliches hervorheben könnten, wie z. B. das rein optische, dürften wir uns nicht von einem einzelnen anatomischen Bestandteil (einer Zelle oder einem Fasernetz) getragen denken, sondern durch das Zusammenwirken zahlreicher ähnlicher Elemente. So würde es dann kommen, daß partielle Zerstörungen eines Feldes niemals etwa das Erinnerungsbild des Tisches, des Löwen und der Eiche auslöschen, während das des Stuhls, des Hundes und der Birke intakt bleibt, sondern eher eine alle etwa gleichmäßig treffende Abschwächung, eine Einbuße an Deutlichkeit und Bestimmtheit mit sich bringen.

Was bei einer derartigen Auffassung schließlich dem einzelnen Zellindividuum noch zufallen würde, ist schwer abzuschätzen; noch schwerer wird man sagen können, ob es mehr ist, als ihrer Struktur zugetraut werden darf. Gegenüber einer Neigung, dies zu niedrig zu veranschlagen, darf an die Tatsachen der Fortpflanzung erinnert werden. Wenn in einem Körper von der Größe einer Eizelle Bildungen enthalten sind, die sogar innerhalb der Spezies eine Summe individueller Eigentümlichkeiten repräsentieren, so ist ersichtlich, wie viel an Besonderheiten einem solchen Gebilde, unbeschadet seines festgelegten Typus, noch aufgeprägt werden kann. Was wir hier an Mannigfaltigkeit der Gestaltung geleistet sehen, darf zur Vorsicht mahnen, wenn man geneigt wäre, zu behaupten, daß das, was wir an generalisierendem Gedächtnis der Zelle zutrauen, im einzelnen Gebilde nicht den genügenden Platz finde.

Wie dem nun auch sein mag, jedenfalls scheint mir, daß neben den Erwägungen, die ausschließlich auf die Gestaltung und Ausbildung interzellulärer Bahnen gerichtet sind, auch die andere Betrachtungsweise, die mehr und Bedeutungsvolleres intrazellulär zu suchen geneigt ist, einige Berücksichtigung verdient. Eine positive Berechtigung würde ihr freilich erst dann zukommen, wenn es gelänge, uns von den Zuständen solcher Zellen, von der Art, wie sie durch die Ausläufer anderer, insbesondere der Sinnesnerven, wie sie voneinander gegenseitig beeinflußt werden, eine faßbare und einheitliche Vorstellung zu bilden. Das ist bis jetzt nicht gelungen, aber vielleicht auch kaum ernstlich versucht worden. Und hiermit komme ich zu demjenigen Punkt, mit dem ich die obigen Betrachtungen nicht unpassend abschließen kann, zu einer Bemerkung darüber, in welcher Richtung ich geglaubt habe, denselben einen Nutzen zutrauen zu dürfen und was mich daher veranlaßt hat, mit ihnen hervorzutreten. Der Hauptgrund lag in der ohne Zweifel verbreiteten, teils bewußten, teils vielleicht auch unbewußten Überschätzung des Leitungsprinzips. Man kann, glaube ich, ERDMANN nicht Unrecht geben, wenn er nach Erörterung wichtiger psychologischer Fragen bemerkt, es werde vielfach, ohne jede Berücksichtigung derartiger Probleme
    "kurzer Hand vorausgesetzt, daß die physiologischen Annahmen über die Faserverknüpfungen der Großhirnzentren ausreichten, um die psychophysische Assoziationslehre für die Daten des Sprachlebens mit Einschluß des Denkens im Prinzip zu sichern." (3)
Schon aus diesem Grund erschien es mir nicht überflüssig, einmal mit Entschiedenheit darauf hinzuweisen, daß eine solche, allerdings wohl vielfach, teils ausdrücklich, teils stillschweigend gemachte Annahme weder als ein Postulat physiologischer Vorstellungen gelten darf, noch durch die Erfolge ihrer Durchführung wahrscheinlich gemacht ist. Es könnte zuweilen scheinen, als handelte es sich, da die allgemeinen physiologischen Gesetze bekannt wären, nur noch um die Verfolgung der speziellen Art, wie sich diese betätigen, eine Aufgabe wesentlich der anatomischen Forschung.

Wenn diese fast prinzipielle Abwendung von der physiologischen Betrachtungsweise eine allgemeinere würde, so wäre dies doch entschieden zu bedauern. Die in dieser Richtung liegende Gefahr wird nun überdies noch vermehrt durch eine ebenfalls gelegentlich hervortretende, meines Erachtens in der entgegengesetzten Richtung fehlgehende Annahme, die nämlich, daß eine tiefere und vollständigere Erfassung der physiologischen Vorgänge zur Zeit außerhalb des Bereichs des Möglichen liegt.
LITERATUR - Johannes von Kries, Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen, Tübingen und Leipzig 1901
    Anmerkungen
    1) Daß das Bestreben, psychophysische Tatbestände von offenbar eigenartiger Bedeutung durch eine Zurückführung auf irgendwelche Nebenerscheinungen zu erklären, auch sonst in verhängnisvoller Weies auf Irrwege führt, kann hier nur beiläufig erwähnt werden. Es gilt dies meines Erachtens unter anderem auch für den oben erwähnten Versuch, die Zeitvorstellung in eine Abstufung von Stärke- oder Deutlichkeitsverhältnissen sozusagen aufzulösen. Wir gelangten zu dem Ergebnis, daß für die zeitlich fixierten Formen ein eigenartiges und besonderes physiologisches Substrat angenommen werden muß, das in jene Abstufungen jedenfalls nicht aufgelöst werden kann; in ihm werden wir auch die Grundlage für die psychische Seite zeitlicher Vorstellungen erblicken dürfen.
    2) Die letztere Annahme, die einer Ausschließung zweier Bewußtseinselemente, ist zwar dem Leitungsprinzip schon einigermaßen fremd, doch kann sie hier hinzugefügt werden.
    3) BENNO ERDMANN, Die psychologischen Grundlagen der Beziehungen zwischen Sprechen und Denken, Archiv für Philosophie II (Abteilung für systematische Philosophie, 1896, Seite 377