p-4Th. ElsenhansH. Laehrvon KriesR. Lagerborg    
 
ADOLF HORWICZ
(1862 - 1950)
Zur Lehre von den
körperlichen Gemeingefühlen

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"Die stärksten Gefühle haben die Vorherrschaft im Bewußtsein und lassen andere Gefühle entweder gar nicht aufkommen oder färben und stimmen sie in ihrem Sinne um."

A. O r g a n g e f ü h l e

Spezielle d. h. bevorzugte Organgefühle

Es gibt vielfache Gründe, aus denen ein Organgefühl vor anderen bevorzugt und deshalb zur Aufnahme ins Bewußtsein vorzugsweise befähigt sein kann. Dahin gehören:
    1.  Die zentrale Wichtigkeit  des Organs oder

    2. der Wirkung seiner Reizung,

    3.  besondere Empfindlichkeit,  d. h. besonders reiche Ausstattung desselben mit nervösen Apparaten,

    4. eine weite Verbreitung im Organismus,

    5. besonders merkliche Nebenumstände.
Bevorzugt wegen  zentraler Wichtigkeit des Organs  würden wir diejenigen Organgefühle nennen, die ihren Sitz in solchen Organen haben, von deren ungehinderter Funktion das Leben in jedem Moment abhängt, wie das Herz oder die Atmungsorgane. Im Allgemeinen sind die zentral wichtigeren Organe nicht immer in demselben Grad reich an merklichen Gemeingefühlen. So wissen wir von besonderen  Herzgefühlen  am wenigsten, schon recht erhebliche Krankheiten des Herzens machen sich mehr mittelbar durch Ohnmachten oder Atemnot infolge der Stockung des Blutumlaufs im Gehirn oder in den Lungen allenfalls durch örtliche Schmerzen infolge von Entzündungen als unmittelbar durch charakteristische Sondergefühle geltend. Dagegen ist die Atmung Sitz einer ganzen Reihe gerade dieser Lebensfunktion eigentümlicher Gefühle. Das Gehirn haben wir überwiegend nicht als ein besonderes und einfaches Organ, sondern als einen Komplex von Organen, bzw. von Organzentren aufzufassen. Insofern die in ihm gesetzten besonderen Ernährungs-, Funktions- und Erregungszustände müssen sich - vermöge des Gesetzes der exzentrischen Lokalisation - in denjenigen Organen, die von den verschiedenen Gehirnpartien abhängen, lokalisieren.

Durch  mittelbare Wirkung  bevorzugt würden wir ein Organgefühl zu nennen haben, wenn die mehr oder weniger normale und ungehinderte Funktion des Organs fördernd oder störend auf alle übrigen Funktionen und Gewebe zurückwirkt, wie z. B. bei den an der Blutaufbereitung beteiligten Organen der Fall ist. Wegen  besonderer Empfindlichkeit und des Nervenreichtums  wegen bevorzugt sind die Sexualorgane, wegen  weiter Verbreitung  im Organismus insbesondere die Muskelgefühle. Einer ähnlich allgemeinen und wichtigen Verbreitung als bei den Muskeln begegnen wir zwar auch bei den Nerven; jedoch sind diese in gesundem Zustand nicht Sitz besonderer Gefühle - der Gesunde weiß nicht, daß er "Nerven" hat und erst infolge allgemeiner Überreizung und Erschöpfung zeigen sich die bekannten nervösen Erscheinungen. Als  besonders merkliche Nebenumstände  bezeichnen wir es hier, wenn die Erregung eines Organs durch besondere (konsensuelle [im selben Sinn wirksam - wp]) Nervenverbindungen sich auf andere teils zentral wichtige, teils besonders empfindliche Organe überträgt. Solche konsensuellen Erregungen sind sehr häufig. So stehen die Plexus des Darmnerven in Verbindung mit dem Herzen (der bekannte GOLTZsche Klopfversuch besteht darin, daß man durch Klopfen auf den Darm das Herz zum Stillstand bringen kann) und mit anderen wichtigen Organen, daher bei Hämorrhoidalbeschwerden, Darmentzündungen, Hysterie und dgl. ausgebreitete Konsensualempfindungen, Herzklopfen, Atemnot, aufsteigende Angst usw. Ebenso bekannt sind die vom Magen ausgehenden Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, sowie die vom Uterus und dessen Annexen veranlaßten Störungen des Allgemeinbefindens.

Auf eine erschöpfende Behandlung dieser Materie muß wegen ihres Umfanges, ihrer vielfachen Kompliziertheit und Dunkelheit von vornherein verzichtet werden. Vieles, wie z. B. das artenreiche Genus der Kopfschmerzen, das undefinierbare Heer der nervösen Erscheinungen, die crux der Ärzte, das Schwindelgefühl und anderes sind nach Sitz, Ursache und physiologischem Vorgang teils noch ganz unbekannt, teils streitig. Wir begnügen uns damit, einige der bekanntesten und wichtigsten Erscheinungen, nämlich diejenigen der Muskel-, Nahrungs- und Verdauungs-, der Atmungs-, der Sexual- und Exkrementalgefühle in gedrängter Darstellung vorzuführen.


1. Die Muskel-Gemeingefühle

Die Muskulatur bildet ohne Frage das verbreitetste und massenhafteste Gewebe im tierischen und menschlichen Organismus, so daß man sich schon aus diesem Grund nicht wundern darf, wenn dem Muskelgefühl im psychischen Leben eine so bedeutende Rolle zufällt. Es ist jetzt allgemein bekannt, daß sowohl an der Ausbildung unserer höheren Sinneswahrnehmungen (Gesichts- und Tastsinn) als auch an der Artikulation der Laute und der Akkommodation der Bewegungen, mit einem Wort gerade an den wichtisten Grundlagen und Bedingungen seelischer Entwicklung dem Muskelgefühl der wichtigste Anteil zugeschrieben werden muß. Hier haben wir es nun zunächst nicht mit den Empfindungen des eigentlichen Muskelsinnes, durch welche wir die Größe einer ausgeführten Bewegung oder die Stärke des ihr entgegenstehenden Widerstandes messen und beurteilen lernen, sondern nur mit den in der Muskelsubstanz ihren Sitz und dem Funktions- und Ernährungszustand derselben ihren Grund habenden  Muskelgemeingefühlen,  der Ermüdung, Abgeschlagenheit, des Muskelschmerzes, der Frische, Spannkraft, Euphorie und ähnlichem zu tun. Die augenfällige Verschiedenheit dieser echten Gemeingefühle von jenen zum höchsten Feinheitsgrad ausgebildeten Sinnesempfindungen hat zur Annahme eines gänzlich verschiedenen Ursprungs und Wesens beider geführt, indem man nur den Gemeingefühlen ihren Sitz in der Muskelsubstanz anwies, jene Sinnesempfindung aber auf die Innervation [Nervenimpulse - wp]) der Nerven zurückzuführen bemüht war. Ohne das an anderem Ort gegen diese wenig wahrscheinliche Annahme Gesagte hier zu wiederholen, wollen wir hier nur darauf hinweisen, wie gerade das Muskelgewebe vermöge seiner Form und Zusammensetung sowie wegen seiner ganzen Stellung im Organismus vorzugsweise befähigt ist, Sitz zahlreicher, mannigfaltig abgestufter und besonders qualifizierter Gefühle zu werden.

Das Gewebe der Muskeln - wir haben hier vorzugsweise die quergestreiften im Auge - ist wegen seiner Weichheit und Saftigkeit weit durchgängiger, gleichzeitig aber auch wegen der Feinheit seiner Zusammensetzung und wegen der Energie der in ihm sich vollziehenden Prozesse in ungleich höherem Grad für die Erzeugung von Empfindungen und ihre stimmungsartige Ausbreitung geeignet als die spröden oder zähen Knochen-, Knorpel oder Bindegewebsmassen oder als die nur zur Durchlassung und Umwandlung von Säften bestimmten Drüsen. Die Konstitution der Muskelsubstanz und ihre letzten Elemente sind noch nicht erforscht und ebenso wenig der Vorgang ihrer Reizung und Kontraktion. Es scheint, daß der Muskel als Anhangsgebilde des in seine Substanz ungemein fein verästelten und auf eine noch unerforschte Art in seine Elemente inserierten motorischen Nerven sowohl in seiner chemischen Beschaffenheit, als auch in seiner Irritabilität bedeutende Ähnlichkeit mit der Substanz des Nerven zeigt, vermöge deren die in letzterem gesetzte Erregung sich in die Muskelsubstanz fortsetzt, hier aber auch ebenso wie im Nerven eine der Größe der Erregung entsprechende Zersetzung der Substanz zur Folge hat. Diese verschiedenen Funktions- und Ernährungszustände scheinen durch die in gleichfalls sehr feinen Verästelungen an die die Muskelsubstanz überall umgebenden Lymphräume herantretenden sensiblen Nerven als chemischer Reiz zu wirken und so das Objekt fortwährender Gefühle zu werden.

Die bekanntesten dieser Gefühle sind die  Ermüdungsgefühle.  Nach wiederholt anhaltender Kontraktion wird durch Zersetzung der Muskelsubstanz Fleischmilchsäure, in welcher uns neuere Experimente den eigentlichen Ermüdungsstoff gezeigt haben, in mehr oder minder großer Quantität hervorgebracht. Nach heftigeren Anstrengungen zeigt sich die weitergreifende Zersetzung als lähmungsartige Schwäche und Steifigkeit der Glieder, sowie in lange dauerndem Muskelschmerz. Ähnliche Erscheinungen machen sich in allen Blutzersetzungs- und Infektionskrankheiten im bekannten Gefühl allgemeiner  Abgeschlagenheit  geltend, indem das abnorm veränderte Blut teils direkt lähmend auf die Muskelsubstanz wirkt, teils indirekt dadurch, daß es unfähig wird, den erforderlichen Stoffwechsel zu unterhalten.

Diesen Unlustgefühlen stehen entsprechende Lustgefühle gegenüber. Dem gesunden kräftigen Organismus ist eine tüchtige Anstrengung eine wahre Lust; ein tüchtiger Marsch, Turnen, Schwimmen, Reiten, Tanzen, Schlittschuhlauf und die meisten Spiele beruhen zum größten Teil auf diesem Wohlgefühl des in Tätigkeit gesetzten Muskels. Wie diese  Arbeitslust  der  Ermüdung,  so steht das stimmungsartige Gefühl der  Euphorie  der Unlustigkeit des allgemeinen Abgeschlagenheitsgefühls gegenüber. Dieses Gefühl der Wohligkeit, Frische, Elastizität und Spannkraft ist es, welches einen überaus wichtigen Faktor unseres körperlichen Wohlbefindens ausmacht. Endlich ist gegenüber dem Unlustgefühl zu starker und der Lust der mäßigen, dem Vermögen angemessenen noch die Unlust der zu geringen Muskelanstrengung zu verzeichnen. Die Ruhe ist dem gesunden kräftigen Muskel unerträglich und Quelle einer eigentümlichen prickelnden, ungeduldigen, in allerlei Bewegungen sich kundgebenden Unlust, während sie dem ermüdeten Muskel angenehm ist.

Alle diese Gefühle finden in den verschiedenen Funktions- und Ernährungszuständen des Muskels ihre genügende Erklärung. Wie die Nervensubstanz ist auch die Muskelsubstanz eine Vereinigung hoch komplizierter Verbindung und einer Summe von Spannkräften, die daher in jedem Augenblick fortwährender Zersetzung und Reduktion unterliegt. Diese Zersetzung findet im ruhenden Muskel in geringerem, im tätigen Muskel in stärkerem Maße statt, dagegen werden in letzterem vermöge der lebhafteren Blutzirkulation die Zersetzungsprodukte Kohlensäure, Fleischmilchsäure schneller und vollständiger hinweggewaschen, während sie im ruhenden Muskel sich anhäufen, wohingegen bei Überanstrengung die Zersetzung zu stark wird, als daß die Blutzirkulation ihre Produkte sämtlich fortzuräumen vermöchte, was dann im Zustand der Ruhe allmählich geschieht.


2. Nahrungs- und Verdauungsgefühle

Die Gemeingefühle der Verdauungssphäre bilden eine zahlreiche Gruppe bevorzugter Organgefühle, bevorzugt, wie wir gesehen haben, auf mehrfache Weise, nämlich
    1. durch die Wichtigkeit und Allgemeinheit ihrer Wirkung vermöge des Einflußes auf Bereitung und Umlauf des Blutes,

    2. durch die Empfindlichkeit der Organe,

    3. durch sehr merkliche konsensuelle Nervenverbindungen.
Endlich kommt zu alledem hinzu, daß diese Organe sich fortwährend in irgendwelcher Tätigkeit befinden. Wir können sie in drei Gruppen zerlegen:
    a) lokale Gefühle,
    b) allgemeine Verdauungs-,
    c) allgemeine Ernährungsgefühle
Die ersteren drücken lediglich den Zustand des einzelnen Organs aus, in der zweiten Gruppe fassen wir diejenigen Gefühle zusammen, welche als stimmungsartiger Gesamtausdruck der  Verdauungsprozesse,  in der dritten diejenigen, welche in gleicher Weise als Totaleffekt des jeweiligen  Ernährungszustandes  uns zu Bewußtsein kommen.


a. Lokale Gefühle der Verdauungsorgane

Hierher rechnen wir alle diejenigen Gefühle, deren Sitz die sämtlichen Organe des Verdauungskanales sind, insoweit sie am Verdauungsgeschäft unmittelbar beteiligt sind, wodurch die Geschmacks-, Tast- und Gemeingefühle der Mund- und Rachenhöhle sowie die Exkrementalgefühle des Mastdarms von der Betrachtung ausgeschlossen werden.

Zu dieser Gruppe gehören zahlreiche, örtlich gut begrenzte Gefühle. Das Gefühl des Mundwässerns bei Annäherung oder der Vorstellung leckerer Speise, auf Erregung der Speicheldrüsen beruhend - natürlich zu unterscheiden von den die Drüsen erregenden Appetitgefühlen -, dann die die Schlingbewegungen der Speiseröhre begleitenden Gefühle - meist er als  Schlingbeschwerden  zu Bewußtsein kommend, aber auch das Essen und Trinken durch leichteres Abrutschen schmackhafter Stoffe und umgekehrt begleitend, ferner  Magengefühle:  Druck-, Säure, Krampf, Völle, Leere, endlich  Darmgefühle:  Spannung, Druck, Schmerz, usw.


b. Allgemeine Verdauungsgefühle

Da alle am Verdauungsgeschäft beteiligten Organe eng zusammenhängen, nur die Glieder eines größeren Ganzen - des Verdauungskanales - ausmachen und einander wechselseitig beeinflußen, so liegt es in der Natur dieses Verhältnisses, daß die Gefühle dieser Einzelorgane nur ausnahmsweise gesondert hervortreten, übrigens aber und der Regel nach in einen stimmungsartigen Gesamtausdruck aller Verdauungsorgangefühle aufgenommen werden. Solche allgemeinen Verdauungsgefühle begleiten in mannigfacher Färbung den ganzen Verdauungsprozeß von der allmählichen Einführung der Speise - Gefühl beginnender Erfüllung zur vollen Sättigung - Völle und Druck - sodann die mehr unmittelbaren Verdauungsgefühle - Erwärmung des Magens und der Eingeweide, bei stärkerer Reizung bis zu leichter Entzündung - Verdauungsfieber - sich steigernd - mit mancherlei Nebenerscheinungen - Eingenommenheit - Schwere, Trägheit - oder auch wieder bei normalem Verlauf Gefühle der Frische, Leichtigkeit, endlich bei krankhafter Verstimmung, Übelkeit, Kopfschmerz, Beklemmung, Schwindel usw.


c. Allgemeine Ernährungsgefühle

Verschieden von diesen unmittelbar aus der Erregung der Organe durch den Druck, die Temperatur und die chemische Beschaffenheit ihres Kontentum resultierenden Gefühlen sind die dem allgemeinen Ernährungszustand des Organismus, seiner Gewebe in Bezug auf das die letzteren speisenden Blutes. Es ist notwendig, sich hierüber so unbestimmt auszudrücken, weil man den Sitz, die Ursache und die Erregungsart dieser Gefühle nicht kennt. Es sind dies die Gefühle des  Hungers  in seinen verschiedenen Grade, des  Durstes,  der  Erquickung  bei der Aufnahme von Speise und Trank, der  beginnenden Sättigung, der Sättigung, der Übersättigung und des Ekels und der Übelkeit. 

Es sind zunächst gleichfalls  rein lokale Empfindungen.  Obgleich die veranlassende Ursache eine allgemeine, im ganzen Körper wirkende ist, so treten dennoch die Hunger- und Durstgefühle zunächst in fester lokaler Begrenzung auf, d. h. es wird zunächst nicht die beginnende abnorme Zusammensetzung und der Mangel gewisser Stoffe im Blut und den Geweben, sondern die Rückwirkung desselben im Magen und den Eingeweiden bei Hunger und im Schlund, am weichen Gaumen und an der Zungenwurzel bei Durst empfunden. Erst bei längerem Fasten zeigt sich nebem dem örtlichen Hungergefühl, außer konsensuellen Nebenempfindungen, als Schwäche im Kopf usw., ein wirkliches Schwächegefühl.

Der Grund des lokalen Hungergefühls im Magen ist nach RANKE auf mangelnde Blutzufuhr zum leeren Magen zurückzuführen. Jedenfalls sind örtliche Ursachen zunächst vorherrschen, wie auch daraus hervorgeht, daß das eigentliche Schwächegefühl erst so spät eintritt, während sich bei rechtzeitiger Nahrungsaufnehme sogleich mit den ersten Bissen ein merkliches Wohlgefühl der Erquickung einstellt, lange zuvor, ehe an eine Übertragung der Nährstoffe ins Blut und in die Gewebe gedacht werden kann. Sonstige generelle Empfindungen und Stimmungen beim Hungern gesunder Personen sind, was die Anfangsstadien betrifft, wie RANKE richtig bemerkt, auf psychische Ursachen, Gewohnheit, Lustvorstellungen und dgl. zurückzuführen.


3. Atmungsgefühle

Der Atmungsprozeß geht bekanntlich in der Regel unwillkürlich und unbewußt vonstatten und so ist er auch für gewöhnlich nur von ganz unmerklichen Organgefühlten begleitet. Jedoch bedarf es nur des Aufwandes geringer Aufmerksamkeit, um wahrzunehmen, wie wohltuend doch eigentlich jeder normale tiefe Atemzug ist. Daher wird denn auch jedes und selbst das leichteste Atemhindernis sofort sehr merklich empfunden. Neben den flacheren, unwillkürlichen Atemzügen macht sich von Zeit zu Zeit das Bedürfnis besonders tiefer Durchatmung der ganzen Lunge geltend, welches nun willkürlich vollzogen und angenehm empfunden wird. Die Vorgänge bei dem hiermit vielleicht verwandten Seufzer und Gähnen sind bis jetzt meines Wissens noch nicht hinlänglich aufgeklärt. Die Erscheinungen des Hustens, Niesens, Stiche, Entzündungsschmerzen, endlich des Asthma sollen hier nur erwähnt werden. Von großer Intensität ist bekanntlich das nach Beseitigung des Atmungshindernisses das freiere Atmen begleitende Wohlgefühl.

Bekanntlich ressortieren sämtlich die Atmungsmuskulatur des Brustkorbes, des Zwerchfelles usw. in Bewegung setzende Nerven von einem einzigen Zentrum im Gehirn dem sogenannten Lebensknoten (noeud vital) und man nimmt an, daß diesem der erregende Reiz durch die sensiblen Fasern der obersten fünf Rückenmarksnerven zugeführt wird, da nach Durchschneidung der beiderseitigen hinteren Wurzeln derselben die Atmung still steht. Es scheint, daß in der venösen Beschaffenheit des Blutes und zwar des Sauerstoffmangels der auslösende Reiz zu suchen sei. Doch ist der physiologische Zusammenhang noch ganz dunkel. Jedenfalls macht sich in diesem Fall der Einfluß normaler Atmung auf die richtige und zum Leben notwendnige Blutmischung und die davon abhängige Funktionsfähigkeit der Gewebe und Organe ungleich schneller als bei der Nahrungsaufnahme geltend, da schon nach dem Ausfall weniger Atemzüge das Leben bedroht ist. Daher sind alle merklichen Atemgefühle erklärlicherweise von erheblichem Einfluß auf die Stimmung. Bei den auf Hemmung der Atmung beruhenden liegt es auf der Hand, daß sie durchweg höchst quälend und peinlich sind. Aber auch im umgekehrten Fall ist ein erheiternder, stimmunghebender Einfluß eines besonders günstig ablaufenden Atmungsprozesses nicht zu verkennenn; wie ja die hauptsächlich hierauf beruhende Annehmlichkeit des Aufenthalts in besonders guter, sauerstoffreicher, ozonhaltiger Luft, am Meeresstrand, an Gradierwerken, im Wald usw. beweist und umgekehrt das Atmen schlechter, verdorbener Luft höchst verstimmend und niederdrückend wirkt. Eine eigentümliche, anscheinend nur durch eine Art von Ideenverbindung erklärbare Umkehrung dieses Verhältnisses ist es, daß die Affekte in gleichem Sinne auf die Atmung zurückwirken, so daß niederdrückende Affekte die Atmung herabsetzen, bis der drohenden Insuffizienz der erleichternde Seufzer abhilft und umgekehrt freudige Aufregung die Atmung befördert.


4. Sexuelle Gefühle

Obgleich die ganze Sexualsphäre physiologisch betrachtet sich wie eine Art von Luxusausstattung am individuellen Organismus ausnimmt, so sehen wir doch gerade die von ihr aus veranlaßten Gefühle und Begierden eine unverhältnismäßig wichtige und tiefgreifende Rolle im gesamten Vorstellungs- und Gemütsleben spielen. Es ist möglich, daß hierbei Gattungsinstinkte als ererbte und anerzogene Dispositionen, auch durch Vermittlung des höheren Gefühlslebens auf noch nicht genügend aufgefklärte oder nicht hierher gehörige Weise hier mit hineinspielen. Was sich uns auf diesem Gebiet als erklärendes Moment aufdrängt, das ist die große Empfindlichkeit, beruhend auf außerordentlichem Nervenreichtum der sexuellen Organe und die Wichtigkeit ihrer ausgebreiteten Nervenverbindungen. Diesen Verhältnissen jedenfalls muß es zugeschrieben werden, daß dieser Sphäre ein dem höchsten Schmerz analoger krampfartiger Lustparoxysmus eignet, dergleichen sonst nirgend oder höchstens in schwachen Ansätzen vorkommt.

Wichtiger noch als dieses, durch Erinnerung und Erwartung die Phantasie mächtig anregende, in Wirklichkeit doch nur selten eintretende Lustextrem sind die fortwährenden - im Einzelnen wenig merklichen, in ihrem stimmungsartigen Zusammenschluß aber höchst einflußreichen Erregungszustände der einzelnen Organe, Drüsen, Behälter und dgl., wie sie sich ohne Rücksicht auf eine begehrte oder vorgestellte Lustbefriedigung sowohl während der Pubertätsentwicklung in besonders charakteristischer Weise, als auch bei unverdorbenen Jünglingen und Jungfrauen, sowie auch bei solchen Männern und Frauen, deren Phantasie sich rein erhalten hat, in scheinbar ganz anderen Formen und Gefühlen geltend macht.


5. Exkrementalgefühle

Dieselben sollen hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden: Gefühle der Völle des Darms und der Blase bisweilen zu quälendem Druck der Stoffe in allen drei Aggregatzuständen, gesteigert unter oft heroischem Widerstand der Schließmuskeln und dann wieder das wichtige Geschäft der Entleerung, bisweilen unter angestrengter Arbeit der betreffenden Muskulaturen mit dem stimmungsreichen Gefühl der Erleichterung usw.


B. E i g e n t l i c h e s  G e m e i n g e f ü h l

Körperliche Stimmung

Sonderbarerweise läßt sich von demjenigen, was im vollsten Sinne des Wortes den Namen "Gemeingefühl" zu führen berechtigt ist, fast am wenigsten sagen. Denn wie wir gesehen haben, sind es gerade die allerdunkelsten und unbewußtesten Gefühle, welche wegen ihrer geringen eigenen Klarheit darauf verzichten müssen, gesondert im Bewußtsein hervorzutreten und sich damit begnügen müssen, nur in ihrer Gesamtheit in demselben eine gleichfalls nur ziemlich schwache und undeutliche Vertretung zu finden. Es kommt hinzu, daß wir durch unsere ganze, fast ausschließlich das höhere psychische Leben betonende Erziehung und Entwicklung darauf angewiesen sind, der leiblichen Sphäre, insofern sie sich nicht durch entschiedene Sondergefühle geltend macht für gewöhnlich nur geringe Aufmerksamkeit zuzuwenden. Endlich trägt der Umstand noch erheblich dazu bei, die Mißlichkeit einer wissenschaftlichen Behandlung der leiblichen Stimmungen zu erhöhen, daß diese niemals als solche gesondert, sondern stets neben einer sogenannten seelischen, auf einem Kontakt höherer psychischer Gefühle beruhenden Stimmung auftritt. Indem ich mir vorbehalte, diese Verhältnisse betreffenden Ortes eingehender zu behandeln, will ich hier über die leiblichen Stimmungen das Tatsächliche kurz zusammenstellen.

Obgleich wir für gewöhnlich auf leibliche Stimmungen wenig achten und normalerweise es weder können noch sollen, da wir Wichtigeres zu tun haben, so ist doch tatsächlich irgendeine Stimmung in jedem Augenblick vorhanden und das drückt sich auch dem gewöhnlichen Bewußtsein durch die gedankenlos getane und ebenso beantwortete Frage nach dem "Befinden" aus. Die Alltagserfahrung weiß nicht viel mehr davon, als was sie auf die stereotype Frage stereotyp erwidert; gut oder schlecht; sie kennt nur ein Wohlbefinden und ein "Unwohlsein", allenfalls Zwischenstufen, "es geht", "so so" und "nicht ganz", "es könnte besser sein" und dgl. mehr. In der Tat findet man bei einiger Aufmerksamkeit nicht nur zahllose Nuancierungen in der Skal des Wohl- oder Übelbefindens von heiterster bis zur Ausgelassenheit gehenden Euphorie, die nicht bloß der Aberglaube als Vorboten drohenden Unheils fürchtet, bis zu entschiedenem Unwohlsein, sondern auch die allermannigfaltigsten Färbungen und qualitativen Verschiedenheiten, so daß man wohl mit Recht sagen kann, daß die Stimmung in keinem Moment dieselbe als in früheren sein könne.

Wenn wir uns nun nach der Möglichkeit eines ordnenden Überblicks im Chaos dieser nebelhaften und ungreifbaren Gebilde umsehen, so bleibt uns nur die eine Möglichkeit, zu versuchen, ob sich aus dem Zusammenhang der bisherigen Erörterungen ein Leitfaden oder Fingerzeig für eine Einteilung finden läßt. In der Tat brauchen wir nur davon auszugehen, was oben bemerkt wurde, daß diejenigen Organgefühle, die nicht als  "verstärkte"  oder  "bevorzugte"  gesondert im Bewußtsein hervortreten, in Stimmungen zusammenfließen, um sogleich wenigstens eine gut begrenzte Gruppe vor uns zu haben, die wir als  "echte Stimmungen"  bezeichnen, weil sie ohne Vorherrschaft stärkerer Sondergefühle aus dem Zusammenwirken einander ziemlich gleichwertiger Gefühlsrudimente hervorgehen. Wir sehen aber auch sogleich den Gegensatz, nämlich "uneigentliche Stimmungen", nämlich solche, die durch ein vorherrschendes Gefühl Stimung und Farbe erhalten, d. h. wo durch ein vorherrschendes Gefühl alle Gefühle und Gefühlsreste in eigentümlicher Weise bestimmt und gefärbt erscheinen. Endlich würde zu den bisherigen als dritter Fall der hinzukommen, daß ein Organgefühl wegen weiter Verbreitung des Organs oder der Allgemeinheit seiner Wirkung von Haus aus stimmungsartig auftritt.

Wir betrachten diese drei Arten einen Augenblick näher:


1. Echte Stimmungen, eigentliche Gemeingefühle

Das Vorhandensein solcher echten Stimmungen, d. h. solcher Gemeingefühle, die wirklich, wie der Name sagt, aus der Summierung zahlreicher, im Einzelnen völlig unmerklicher Gefühlsrudimente hervorgehen, läßt sich tatsächlich nicht bezweifeln und es sind nicht etwa selten vorkommende Zustände, sondern sie bilden die eigentliche normale Beschaffenheit unseres leiblichen Befindens. Sie finden nicht bloß dann statt, wenn wir von einer körperlichen Stimmung gar nicht merken, d. h. wenn unser leibliches Befinden sich in keiner Weise, weder durch erheblichere Wohl- noch Wehgefühle, ins Bewußtsein drängt, sondern selbst dann noch, wenn es nach der einen oder der anderen Seite schon entschieden das Bewußtsein affiziert. Es ist für Stimmungen dieser Art charakteristisch, daß wir uns über ihren Grund und ihre Zusammensetzung schlechterdings keine Rechenschaft zu geben vermögen, daß wir ihnen auf keine Art beikommen können. Damit soll nicht gesagt sein, daß alles, wovon man sich keine Rechenschaft geben kann, ohne weiteres hierher zu rechnen sei, da der Fall sehr wohl vorkommen kann, daß eine bestimmte lokale Ursache in ganz allgemeiner Weise exaltierend oder deprimierend wirkt, ohne daß sich der Betroffene über die Veranlassung Rechenschaft zu geben vermag. Hier sind vielmehr nur diejenigen Fälle gemeint, in denen es an einer derartigen stärkeren lokalen Reizung einzelner Organe oder Teile derselben durchaus fehlt und die wahrgenommene Stimmung nur der Ausdruck der Summe einander ziemlich gleichwertigen - im Einzelnen nicht gesondert hervortretenden, die Grenze bewußter Merklichkeit nicht erreichender Gefühlsrudimente aller Organe bildet.

Im Allgemeinen werden sich diese echten Stimmungen mehr auf den unteren Stufen der Gefühlsskala, d. h. der Unlust durch zu geringe Reizung und schwacher Lust bewegen. Wir schließen das aus dem Begriff dieser Gemeingefühle, da sich annehmen läßt, daß die Summe den einzelnen Konstituenten nicht ungleichartig sein werde und weil stärkere Lusterregung oder Unlust aus zu starker Reizung sofort verstärkte, also gesondert im Bewußtsein hervortretende Organgefühle zur Folge haben müßte. Es würden also diejenigen Fälle hierher gehören, in denen man sich eines ziemlich gleimäßigen allgemeinen körperlichen Befindens bewußt wird, ohne daß irgendein einzelnes Organ oder Glied sich in besonderer Weise geltend macht. Diese anscheinend gleichgültige, richtiger schwach angenehme Stimmung (da wirkliche Gleichgültigkeit als unangenehme Apathie empfunden wird), diese Stimmung, deren man in der Regel nur bei Aufwendung besonderer Aufmerksamkeit bewußt wird, dürfte zugleich das Mittelmaß der hierher gehörigen Stimmungen bilden, an welches sich nach unten hin ein Zustand der  Reizlosigkeit und des allgemeinen Unbefriedigtseins  und nach oben hin ein Zustand etwas mehr ausgesprochener Luststimmung, als "Aufgelegtheit" oder ruhiger, stimmungsvoller, heiterer Gemütsverfassung anschließt.

Man darf nun aber das begriffliche Erfordernis dieser Stimmungsart, daß alle Gefühlselemente gleichmäßig angesprochen seien, nicht zu streng nehmen, da das j ain Wahrheit ein überaus seltener oder eigentlich wohl niemals vorkommender Fall sein würde, daß alle Organe und Funktionen völlig gleichmäßig fungierten und keines vor dem anderen sich geltend machte. Man muß sich vielmehr mit annähernder Gleichmäßigkeit begnügen und diejenigen Fälle noch hierherziehen, in denen einzelne Gebiete schon stärker erregt sind, jedoch noch nicht in solchem Grad, daß ihre Organgefühle bis zu gesonderter Bewußtwerdung verstärkt werden. Es entstehen so mannigfaltige besondere Färbungen und Nuancierungen der Stimmung, die sich nur noch gradweise zu verschärfen haben, um sofort den Übergang zur folgenden Gruppe zu zeigen.


2. Stimmungen durch Sondergefühle

Dieser Übergang zum entschiedenen Hervortreten eines besonderen Organgefühls ist in mehr als einer Beziehung charakteristisch. Es geschieht nämlich in der Weise, daß das auftretende Gefühl sich zunächst gewissermaßen hinter einem Vorhang oder wie durch einen Schleier ankündigt. Das ist namentlich bei den inneren Organgefühlen der Fall. Man fühlt sich z. B. im allgemeinen unbehaglich, man weiß selbst nicht wie, bis sich allmählich ein bestimmtes lokales Gefühl geltend macht. Dies beweist den Hervorgang der körperlichen Stimmung aus an sich unbewußten Gefühlselementen der einzelnen Organe und zugleich auch den Einfluß aller Gemeingefühle auf die Stimmung.

Es ist eine ganz allgemeine psychologische Erfahrung, daß jedes stärkere Gemeingefühl in seinem Sinne die Stimmung beeinflußt, ja man kann fast sagen Stimmung macht, indem den einzelnen Gefühls- und Vorstellungselementen oft ganz wider ihre eigene Natur der vorherrschende Gefühlscharakter aufgeprägt wird. Mit diesem für die höheren psychischen Gefühle geltenden Verhältnis haben wir in unserer Sphäre gleichfalls zu rechnen. Heftiger Schmerz z. B. beherrscht sofort die ganze Stimmung, so daß man neben ihm nichts empfindet als Schmerzliches, Unangenehmens. Man sagt davon mit Recht, daß der ganze Körper mit dem kranken Glied leide. Was hier vom Schmerz gilt, gilt mutatis mutandis [das zu Ändernde geändert - wp] von jedem stärkeren, sich lebhaft in den Vordergrund drängenden Gefühl, es färbt die Stimmung. Wie verdrießlich kann uns z. B. die an sich doch ziemlich unbedeutende Belästigung durch eine Fliege machen oder wie sehr pflegt uns ein Jucken, wenn wir demselben nicht gleich Abhilfe verschaffen können, einzunehmen. Es ist doch höchst eigentümlich, daß man bei Schlingbeschwerden gar nicht umhin kann, immer zu schlucken. Man mag sich vornehmen so viel man will, mit der schmerzhaften Operation zu warten bis es durchaus nötig ist, ehe man das recht ausgedacht hat, befindet man sich wieder richtig im Schluckgeschäft. Ebenso ist bekannt, daß Hunger, Durst, Entleerungsbedürfnisse und dgl. mehr in ihren höheren Graden den Sinn völlig einnehmen, so daß man an nichts anderes mehr zu denken vermag und zu nichts sonst disponiert ist, als zu diesem einen.

Man bemerkt leicht, daß zwischen diesen zuletzt aufgeführten Fällen und denen des Schmerzes ein nicht unwesentlicher Unterschied hinsichtlich der Art und Weise, wie das Sondergefühl die Stimmung bedingt, obwaltet. Beim Schmerz war es gewissermaßen eine Art von äußerlichem Kontakt. Man hat z. B. Kopfschmerzen und nun mag man nichts sehen, hören, kein Glied rühren usw., weil all das das Kopfweh vermehrt. Man hat ein schmerzhaftes Geschwür am Arm und jeder Tritt des Fußes wird hier schmerzhaft empfunden. Wer an hefitgen Gicht- oder dergleichen Schmerzen leidet, empfindet schon die Annäherung anderer Personen schmerzhaft. Dagegen kommt in den zuletzt gedachten Fällen die Stimmung einfach dadurch zustande, daß die stärksten Gefühle die Vorherrschaft im Bewußtsein haben und andere Gefühle entweder gar nicht aufkommen lassen oder sie in ihrem Sinne umstimmen und färben.

Zu diesen beiden Fällen kommt als dritter derjenige hinzu, wo die Stimmung gewissermaßen von hinter der Szene her beeinflußt wird. Es gibt nämlich Gemeingefühle von so providentiell hegemonischem Charakter, daß sie die Stimmung nicht bloß dann beeinflußen, wenn sie zur tatsächlichen Vorherrschaft gelangt sind, sondern schon vorher, d. h. bevor die betreffenden Organe zu einem besonders hervortretenden Gefühl erregt sind. Es kann sich hierbei natürlich nur um sehr bevorzugte Organgefühle handeln und wir haben dabei vorzugsweise die sexuellen, sowie gewisse Dispositionen der Verdauungs-Ernährungsefühle im Auge. Hierher möchte ich es rechnen, wenn, von der eigentlichen Geschlechtsbegierde abgesehen, von sich den sexuellen Organen her eine gewisse dauernde erotische Stimmung und Disposition in der Weise geltend macht, daß alles, was auf die geschlechtliche Differenz Bezug hat, ein besonderes Interesse erhält, gewissermaßen mit einem Gefühlsnimbus bekleidet wird; hierher gehören ferner die Stimmungen und Verstimmungen aus Hämorrhoidalbeschwerden und weiblicher Hysterie, vielleicht auch teilweise die Stimmungen aus leerem Magen und nach guter oder schlechter Mahlzeit. Diese Fälle bilden den Übergang zur folgenden Gruppe.


3. Sondergefühle von entschieden stimmungsartigem Charakter

Die zuletzt erwähnten Fälle brauchen nämlich nur etwas entschiedener und markierter aufzutreten, um den Typus unserer Gefühlsklasse schon völlig rein darzustellen. So haben wir beispielsweise in Exaltationen und Depressionen hämorrhoidaler und hysterischer Zustände, sowie im bekannten Gefühlsüberschwang der Pubertätsentwicklung schon ganz den Fall, daß ein einzelnes spezielles Organgefühl durch seine weitreichenden Nervenverbindungen und Konsensualerscheinungen von Haus aus als Stimmung auftritt. Dies ist nun noch entschiedener der Fall bei solchen Organgefühlen, die wegen allgemeiner Verbreitung des beteiligten Gewebes oder der Allgemeinheit ihrer Wirkung in besonderer Weise bevorzugt sind. Das ist z. B. der Fall bei allen allgemeinen Muskelgefühlen. Wenn die ganze Muskulatur unseres Körpers wie bei den Blutentmischungskrankheiten von Ermüdungsgefählen affiziert wird, so ist die Folge ein allgemeines Abgeschlagenheits- und Schwächegefühl, welches die allerkläglichste Stimmung darstellt. Der entgegengesetzte Fall ist die allgemeine Euphorie, nach allgemeiner tüchtiger Muskelarbeit, wo durch vermehrten Blutzufluß zum gesamten Muskelgewebe dieses von allen Zersetzungsprodukten gründlich ausgewaschen ist und sich nun ein Gefühl von allgemeiner Frische, Kraft und Munterkeit einstellt, das ungemein wohltuend ist. Dahin gehört das Gefühl der Ruhe nach starker Arbeit, sowie auch die Verstimmung, Ungeduld, zappelnde Unruhe des kräftigen Organismus ohne genügende Beschäftigung und dgl. mehr. Hierher würden wir ferner alle aus besserer oder schlechterer Blutbereitung, sowie aus allgemeiner Erregung der Nerven aus dem Blut herstammenden, notwendig allgemein auftretenden Gefühle zu rechnen haben: also die Schwäche und Kraftlosigkeit nach dauernd schlechter Ernährung, sei es bei Nahrungsmangel oder wegen krankhafter Hindernisse der Ernährung, das Gefühl allgemeiner Anregung aus kräftiger und reizender Speise und zumal die exzitierende und hochstimmende Wirkung geistiger Getränke.



Wir schmeicheln uns nicht mit der Hoffnung, in den vorstehenden Erörterungen unseren Gegenstand erschöpft zu haben. Vieles mußte dunkel bleiben, weil es überhaupt noch nicht wissenschaftliche erforscht ist, andere Lücken mag individuelle Unwissenheit verschuldet haben, vieles wurde nur in flüchtiger Andeutung berührt, aus Besorgnis, den Rahmen einer Abhandlung zu sehr zu überschreiten und auch über Dinge von vielleicht geringem Interesse für den Leser dieser Zeitschrift zu weitläufig zu werden. Unter unseren Philosophen wird es gewiß viele geben, die bezweifeln, ob diese untergeordneten Dinge einer so minutiösen Detailuntersuchung überhaupt wert seien. Sicher ist allerdings, daß man sich auch hüten muß, in der Schätzung ihrer Wichtigkeit zu weit zu gehen. Denn allerdings ist in vielen wichtigen Hinsichten diese ganze Sphäre untergeordneten Ranges, von geringem psychischem Wert und ganz dazu bestimmt, vom höheren Gemüts-, Willens- und Vorstellungsleben aus beherrscht und womöglich unterdrückt zu werden. Aber ebensosehr wird man sich zu hüten haben, in der Geringschätzung dieser ganz eigentümlichen Materie zu weit zu gehen. Man mag sie mit VISCHER als den Unterstock, das Souterrain des psychischen Gebäudes betrachten und wer die herschaftliche Familie besucht, mag sich zu vornehm dünken, sich um Küche, Keller und Gesindestube zu kümmern. Aber man darf doch nicht vergessen, daß diese, wenngleich größtenteils wieder mit Erde verschütteten Teile doch zugleich das tragende Fundament, den soliden Unterbau des Gebäudes ausmachen und daß auch von den wirtschaftlichen Funktionen desselben, vom Stand der Dinge in Küche und Keller und der Treue und Zuverlässigkeit der Domestiken Behagen, Wohlergehen, Ordnung und Sauberkeit der oberen Stockwerke wesentlich bedingt wird.

In wie vielfacher Hinsicht aus der Sphäre der Gemeingefühle herauf das höhere psychische Leben berührt und beeinflußt wird, ist am betreffenden Ort hervorgehoben worden, z. B. wie aus dem Kreis der Muskelgemeingefühle heraus der für die gesamte Sinneswahrnehmung so wichtige Muskelsinn sich entwickelt und zu den höchsten Feinheitsgraden ausgebildet hat. Ein ganz ähnliches Verhältnis besteht zwischen den äußeren Gemeingefühlen und dem Tastsinn, welchen letzteren man mit hoher Wahrscheinlichkeit als den Ursinn betrachtet, aus dem im Wege differenzierender Entwicklung sich die übrigen Sinne herausgebildet hätten. Auf die Wichtigkeit der körperlichen Stimmung für die Stimmung überhaupt ist schon hingewiesen worden. Im Gesamteffekt unserer seelischen Stimmung bildet das leibliche Befinden immer einen höchst wichtigen, in negativem Sinne sogar entscheidenden Faktor, es ist die plebejische Tribunengewalt, die dem höchsten Geistesaufschwung in jedem Augenblick ihr Veto entgegenstellen kann. Abgesehen davon ist die körperliche Stimmung das Vor- und Urbild der psychischen Stimmung, so daß die Analyse der letzteren von den für erstere gewonnenen Resultaten auszugehen haben wird.

Vollends für die Gebiete des Fühlens, Wollens und Handelns bildet unsere Materie geradezu den Keimpunkt und Wurzelstock. Wenn es irgendwie wahr ist, daß die höheren Gefühle durch Kombination und Komplikation aus den niederen hervorgehen, dann haben wir sicherlich die Gemeingefühle als den dunklen Mutterschoß, den geheimnisvollen Urgrund, den status nascendi [im Zustand der Geburt - wp] allen Gefühls anzusehen. Aber wie sich das auch verhalten möge, die zentrale Triebkraft, die umfassende Wichtigkeit und elementare Gewalt gerade dieser Gefühlssphäre für das gesamte Gefühls- und Willensgebiet kann niemand verkennen, der sich bemüht, den Tatsachen und Dingen mit realistischer Nüchternheit ins Gesicht zu sehen. Den Idealisten, der seine Vernunftideale losgelöst und in scharfem Gegensatz von der Sinnlichkeit in leeren Ätherhöhen der Spekulation sucht, könnte man nur fragen, wie viel von allem menschlichen Fühlen und Wollen übrig bleibt, wenn man alles, was sich auf Pflege und Befriedigung des Leibes bezieht und aus ihm und im Zusammenhang mit ihm entwickelt hat, hinwegnimmt.

Auch in unserem sittlichen Sein sind die universalia in rebus [Existenz des Allgemeinen im Einzelnen - wp] gegeben und sie entwickeln sich in, mit und aus ihnen zu immer höher gipfelnden Bildungen heraus. Mag der Moralist es bejammern, daß der Leib in seiner Sinnlichkeit dem vernünftigen Willen so enge Schranken setzt und doch auch wieder so stürmisch heischend sich als tyrannischer Gebieter erweist, er kann doch, wenn er ein rechter Moralist ist und es auf Moral für Menschen statt für Engel abgesehen hat, unmöglich verkennen, wie ihm in diesen Verhältnissen leiblichen Empfindens und Fühlens die realen Bedingungen, die allein offenstehenden Mittel und Wege gegeben sind, unter und mit denen allein sittliches Streben sich zu betätigen vermag, daß sie das Instrument bilden, das der vernünftige Wille spielen und zu planvoll-harmonischem Ausdruck bringen soll. Will der Musiker aber von der Knechtschaft des Stümpers, der ein Sklave seines Materials ist, statt es zu beherrschen, sich zur Freiheit der Meisterschaft erheben, so gibt es bekanntlich keinen anderen Weg, als die sorgfältige Kenntnis seines Instruments und langdauernde Übung und Ausbildung auf demselben.

Und so mag man auf diese ganze körperliche Sphäre mit noch so viel idealer Vornehmheit herabblicken - wir wären die Letzten, in epikuräische Pflege verfeinerter Sinnlichkeit das Ziel der Moral zu suchen und wir wissen die Gefahren und Jämmerlichkeiten jener weichlichen Hypochondrie der Stimmungen usw. vollauf zu würdigen - aber wer mit KANTs edlen und kraftvollen Gedanken über die Macht des Gemütes krankhafter Gefühle Meister zu werden rechten Ernst machen will, der darf nicht hoffen, eine solche Meisterschaft als Unkundiger zu erlangen.
LITERATUR - Adolf Horwicz, Zur Lehre von den körperlichen Gemeingefühlen, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 4, Leipzig 1880