p-4 Über das Sehen des MenschenVon der Klassifikation psychischer Phänomene    
 
HERMANN von HELMHOLTZ
Die Tatsachen in der Wahrnehmung
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"Ebensogut, wie die realistische Ansicht, wäre die Hypothese des subjektiven Idealismus zulässig. Wir könnten annehmen, daß all unser Wahrnehmen nur ein Traum sei, wenn auch ein in sich höchst konsequenter Traum, in dem sich Vorstellung aus Vorstellung nach festen Gesetzen entwickelt. In diesem Fall würde der Grund, daß eine neue scheinbare Wahrnehmung eintritt, nur darin zu suchen sein, daß in der Seele des Träumenden Vorstellungen bestimmter anderer Wahrnehmungen und etwa auch Vorstellungen von eigenen Willensimpulsen bestimmter Art vorausgegangen sind."

"Schopenhauer und viele Anhänger von Kant sind zu der unrichtigen Folgerung gekommen, daß in unseren Wahrnehmungen räumlicher Verhältnisse überhaupt kein realer Inhalt sei, daß der Raum und seine Verhältnisse nur transzendentaler Schein sind, ohne daß ihnen irgendetwas Wirkliches entspricht. Wir sind aber berechtigt, auf unsere räumlichen Wahrnehmungen dieselben Betrachtungen anzuwenden, wie auf andere sinnliche Zeichen z. B. die Farben. Blau ist nur eine Empfindungsweise; daß wir aber zu einer gewissen Zeit in einer bestimmten Richtung Blau sehen, muß einen realen Grund haben. Sehen wir zu einer Zeit dort Rot, so muß dieser reale Grund verändert sein."


BEILAGEN

I. Über die Lokalisation innerer Organe

Es könnte hier in Frage kommen, ob nicht die physiologischen und pathologische Empfindungen innerer Organe des Körpers mit den Seelenzuständen in dieselbe Kategorie fallen müßten, insofern viele von ihnen ebenfalls durch Bewegungen nicht, oder wenigstens nicht erheblich geändert werden. Nun gibt es in der Tat solche Empfindungen zweideutigen Charakters, wie die der Niedergeschlagenheit, Melancholie, Angst, welche ebensogut aus körperlichen, wie aus psychischen Ursachen enstehen können, und bei denen auch jede Vorstellung einer besonderen Lokalisation fehlt. Höchstens macht sich bei der Angst die Gegend des Herzens in unbestimmter Weise als Sitz der Empfindung geltend, wie denn überhaupt die ältere Ansicht, daß das Herz Sitz vieler psychischer Gefühle sei, sich offenbar davon herleitete, daß dieses Organ durch solche häufig in eine veränderte Bewegung gesetzt wird, eine Bewegung, die man teilweise direkt, teils indirekte durch die aufgelegte Hand fühlt. So entsteh also eine Art falscher körperlicher Lokalisation für wirklich psychische Zustände. In Krankheitsursachen geht das noch viel weiter. Ich entsinne mich, als junger Arzt einen melancholischen Schuhmacher gesehen zu haben, welcher zu fühlen glaubte, daß sein Gewissen sich zwischen Herz und Magen gedrängt habe.

Andererseits gibt es doch eine Reihe körperlicher Empfindungen, wie Hunger, Durst, Übersättigung, neuralgische und entzündliche Schmerzen, die wir, wenn auch unbestimmt, als körperliche lokalisieren und nicht für psychisch halten, obgleich sie durch Bewegungen des Körpers kaum verändert werden. Die meisten entzündlichen und rheumatischen Schmerzen freilich werden durch Druck auf die Teile oder durch Bewegung der Teile, in denen sie ihren Sitz hben, erheblich gesteigert. Sie sind aber auch im gegenteiligen Fall, ebenso wie die neuralgischen Schmerzen, wohl nur als höhere Intensitäten normal vorkommender Druck- und Spannungsgefühle der betreffenden Teile anzusehen. Die Art der Lokalisation gibt dabei häufig eine Hindeutung auf die Veranlassungen, bei denen wir etwas über den Ort der Empfindung erfahren haben. So werden fast alle Empfindungen der Baucheingeweide an bestimmte Stellen der vorderen Bauchwand verlegt, selbst für solche Organe, die, wie das Duodenum [Zwölffingerdarm - wp], Pankreas [Bauspeicheldrüse - wp], Milz usw., der hinteren Wand des Rumpfes näher liegen. Aber Druck von außen kann alle diese Organe fast nur durch die nachgiebige vordere Bauchwand, nicht durch die dicken Muskelschichten zwischen Rippen, Wirbelsäule und Hüftbein treffen. Ferner ist sehr merkwürdig, daß bei Zahnschmerzen der Beinhautentzündung eines Zahns die Patienten am Anfang gewöhnlich unsicher sind, ob von einem Paar übereinander stehender Zähne der obere oder der untere leidet. Man muß erst kräftig auf die beiden Zähne drücken, um zu finden, welcher die Schmerzen macht. Sollte dies nicht davon herrühren, daß Druck auf die Beinhaut der Zahnwurzel im normalen Zustand nur beim Kauen vorzukommen pflegt, und dabei immer beide Zähne jedes Paars gleichzeitig gleich starken Druck erleiden?

Ein Gefühl der Übersättigung ist die Empfindung einer Fülle des Magens, welches durch Druck auf die Herzgrube deutlich gesteigert wird, während das Gefühl des Hungers durch denselben Druck sich einigermaßen vermindert. Dadurch kann deren Lokalisation in Herzgrube veranlaßt sein. Übrigens wenn wir annehmen, daß den an denselben Stellen des Körpers endigende Nerven die gleichen Lokalzeichen zukommen, würde die deutliche Lokalisation einer Empfindung eines solchen Organs auch für die anderen Empfindungen desselben genügen.

Dies gilt wohl auch für den Durst, insoweit derselbe die Empfindung von Trockenheit des Schlundes ist. Das damit verbundene allgemeinere Gefühl von Wassermangel des Körpers, welches durch Benetzen des Mundes und des Halses nicht beseitigt wird, ist dagegen nicht bestimmt lokalisiert.

Das in seiner Qualität eigentümliche Gefühl des Atmungsbedürfnisses, der sogenannte Lufthunger, wird durch Atmungsbewegungen gemindert, und danach lokalisiert. Doch scheiden sich nur unvollkommen die Empfindungen für Atmungshemmnisse der Lungen und für Zirkulationshemmnisse, falls letztere nicht mit fühlbaren Änderungen des Herzschlags verbunden sind. Vielleicht ist diese Scheidung nur deshalb so unvollkommen, weil Störungen der Atmung auch in der Regel eine gesteigerte Herzaktion hervorrufen und eine gestörte Herzaktion die Befriedigung des Atmungsbedürfnisses erschwert.

Zu beachten ist übrigens, daß wir von der Form und den Bewegungen so außerordentlich fein empfindlicher und dabei sicher und geschickt bewegter Teile, wie es unser Gaumensegel, Kehldeckel und Kehlkopf sind, ohne anatomische und physiologische Studien gar keine Vorstellung haben, da wir sie ohne optische Werkzeuge nicht sehen und sie auch nicht leicht betasten können. Ja trotz aller wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir noch nicht alle ihre Bewegungen mit Sicherheit zu beschreiben, z. B. nicht die bei Hervorbringung der Fistelstimme eintretenden Bewegungen des Kehlkopfs. Hätten wir eine angeborene Lokalisationskenntnis für unsere mit einer Tastempfindung versehenen Organe, so müßten wir eine solche doch für den Kehlkopf ebensogut, wie für die Hände erwarten. In der Tat aber reicht unsere Kenntnis von der Form, Größe, Bewegung unserer eigenen Organe nur gerade so weit, als wir diese sehen und belasten können.

Die außerordentlich mannigfaltigen und fein auszuführenden Bewegungen des Kehlkopfs lehren uns auch noch betreffs der Beziehung zwischen dem Willensakt und seiner Wirkung, daß, was wir zunächst und unmittelbar zu bewirken verstehen, nicht die Innervation [Nervenimpulse - wp]) eines bestimmten Nerven oder Muskels ist, auch nicht immer eine bestimmte Stellung der beweglichen Teile unseres Körpers, sondern ist die erste beobachtbare äußere Wirkung. Soweit wir durch Auge und Hand die Stellung der Körperteile ermitteln können, ist letztere die erste beobachtbare Wirkung, auf die sich die bewußte Absicht im Willensakt bezieht. Wo wir das nicht können, wie beim Kehlkopf und den hinteren Mundteilen, sind die verschiedenen Modifikationen der Stimme, des Atmens, Schlingens usw. diese nächsten Wirkungen.

Die Bewegungen des Kehlkopfs, obgleich hervorgerufen durch Innervationen, die den zur Bewegung der Glieder gebrauchten vollkommen gleichartig sind, kommen also bei der Beobachtung von Raumveränderungen nicht in Betracht. Ob aber der sehr deutliche und mannigfaltige Ausdruck von Bewegung, den die Musik hervorbringt, nicht vielleicht darauf zurückzuführen ist, daß die Änderung der Tonhöhe im Gesang durch eine Muskelinnervation hervorgebracht wird, also durch dieselbe Art der inneren Tätigkeit, wie die Bewegung der Glieder, wäre noch zu fragen.

Auch für die Bewegungen der Augen besteht ein ähnliches Verhältnis. Wir wissen alles sehr wohl den Blick auf eine bestimmte Stelle des Gesichtsfeldes zu richten, d. h. zu bewirken, daß deren Bild auf die zentrale Grube der Netzhaut fällt. Ungebildete Personen aber wissen nicht, wie sie die Augen dabei bewegen, und wissen nicht immer der Aufforderung eines Augenarztes, daß sie die Augen etwa nach rechts drehen sollen, wenn dies in dieser Form ausgesprochen wird, Folge zu leisten. Ja selbst Gebildet wissen zwar einen nahe vor die Nase gehaltenen Gegenstand anzusehen, wobei sie nach innen schielen; aber der Aufforderung nach innen zu schielen, ohne daß ein entsprechendes Objekt da wäre, wissen sie nicht Folge zu leisten.


II. Der Raum kann transzendental sein,
ohne daß es die Axiome sind.

Fast von allen philosophischen Gegnern der metamathematischen Untersuchungen sind beide Behauptungen als identisch behandelt worden, was sie keineswegs sind. Das hat Herr BENNO ERDMANN (1) schon ganz klar in der den Philosophen geläufigen Ausdrucksweise auseinandergesetzt. Ich selbst habe es betont in einer gegen die Einwürfe von Herrn LAND in Leyden gerichteten Antwort. (2) Obgleich der Verfasser der neuesten Gegenschrift, Herr ALBRECHT KRAUSE (3), beide Abhandlungen zitiert, sind doch auch bei ihm wieder von sieben Abschnitten die ersten fünf zur Verteidigung der transzendentalen Natur der Anschauungsform des Raums bestimmt, und nur zwei behandeln die Axiome. Der Verfasser ist allerdings nicht bloß Kantianer, sondern Anhänger der extremsten nativistischen Theorien in der physiologischen Optik und betrachtet den ganzen Inhalt dieser Theorien als eingeschlossen in KANTs System der Erkenntnistheorie, wozu doch nicht die geringste Berechtigung vorläge, selbst wenn KANTs individuelle Meinung, dem unentwickelten Zustand der physiologischen Optik seiner Zeit entsprechend, ungefähr so gewesen sein sollte. Die Frage, ob die Anschauung mehr oder weniger weit in begriffliche Bildungen aufzulösen sei, war damals noch nicht aufgeworfen worden. Übrigens schreibt Herr KRAUSE mir Vorstellungen über Lokalzeichen, Sinnengedächtnis, Einfluß der Netzhautgröße usw. zu, die ich nie gehabt und nie vorgetragen habe, oder die zu widerlegen ich mich ausdrücklich bemüht habe. Unter Sinnengedächtnis habe ich stets nur das Gedächtnis für unmittelbare sinnliche Eindrücke, die nicht in eine Wortfassung gebracht sind, bezeichnet, aber würde gegen die Behauptung, dieses Sinnengedächtnis habe seinen Sitz in den peripherischen Sinnesorganen, stets lebhaft protestiert haben. Ich habe Versuche ausgeführt und beschrieben zu dem Zweck, um zu zeigen, daß wir selbst mit gefälschten Netzhautbildern, z. B. durch Linsen, durch konvergierende, divergierende oder seitlich ablenkende Prismen sehend, schnell die Täuschung überwinden lernen und wieder richtig sehen, und dann wird mir von Herrn KRAUSE Seite 41 unterschoben, ein Kind müßte alles kleiner sehen als ein Erwachsender, weil sein Auge kleiner ist. Vielleicht überzeugt der vorstehende Vortrag den genannten Autor, daß er den Sinn meiner empiristischen Theorie der Wahrnehmung bisher gänzlich mißverstanden hat.

Was Herr KRAUSE in den Abschnitten über die Axiome einwendet, ist zum Teil im vorstehenden Vortrag erledigt, z. B. die Gründe, warum die anschauliche Vorstellung eines bisher noch nie beobachteten Objekts  schwer  sein könne. Dann folgt mit Bezug auf meine im Vortrag über die Axiome der Geometrie zur Veranschaulichung des Verhältnisses der verschiedenen Geometrien gemachten Annahme flächenhafter Wesen, die auf einer Ebene oder Kugel leben, eine Auseinandersetzung, daß auf der Kugel zwar zwei oder viele "geradeste" (4) Linien zwischen zwei Punkten existieren könnten, as Axiom des EUKLID aber von der einen "geraden" Linie spräche. Für die Flächenwesen auf der Kugel aber hat die gerade Verbindungslinie zwischen zwei Punkten der Kugelfläche, nach den gemachten Annahmen, gar keine reale Existenz in ihrer Welt. Die "geradeste" Linie ihrer Welt wäre eben für sie, was für uns die "gerade" ist. Herr KRAUSE macht zwar den Versuch, die gerade Linie als eine Linie von nur einer Richtung zu definieren. Wie soll man aber Richtung definieren; doch wieder nur durch die gerade Linie. Hier bewegen wir uns in einem Teufelskreis. Richtung ist sogar der speziellere Begriff, denn in jeder geraden Linie gibt es zwei entgegengesetzte Richtungen.

Dann folgt eine Auseinandersetzung, daß, wenn die Axiome Erfahrungssätze wären, wir von ihrer Richtigkeit nicht absolut überzeugt sein könnten, wie wir es doch wären. Darum dreht sich ja eben der Streit. Herr KRAUSE ist überzeugt, wir würden Messungen, die gegen die Richtigkeit der Axiome sprächen, nicht glauben. Darin mag er wohl in Bezug auf eine große Anzahl von Menschen Recht haben, die einem auf alte Autorität gestützten Satz, der mit allen ihren übrigen Kenntnissen eng verwoben ist, lieber trauen als ihrem eigenen Nachdenken. Bei einem Philosophen sollte es doch anders sein. Die Menschen haben sich auch gegen die Kugelgestalt der Erde, gegen deren Bewegung, gegen die Existenz von Meteorsteinen lange genug höchst ungläubig verhalten. Übrigens ist an seiner Behauptung richtig, daß es sich empfiehlt, in der Prüfung der Beweisgründe gegen Sätze von alter Autorität umso strenger zu sein, je länger sich dieselben bisher in der Erfahrung vieler Generationen als tatsächlich richtig erwiesen haben. Schließlich aber müssen doch die Tatsachen und nicht die vorgefaßten Meinungen oder KANTs Autorität entscheiden. Ferner ist richtig, wenn die Axiome Naturgesetze sind, daß sie natürlich an der nur approximativen Erweisbarkeit aller Naturgesetze durch Induktion Teilhaben. Aber der Wunsch, exakte Gesetze kennen zu wollen, ist noch kein Beweis dafür, daß es solche Gibt. Sondernbar jedoch ist es, daß Herr A. KRAUSE, der die Ergebnisse wissenschaftlicher Messung wegen ihrer begrenzten Genauigkeit verwirft, für die transzendentale Anschauung sich mit den Schätzungen druch das Augenmaß beruhigt (Seite 62), um zu erweisen, daß wir gar keiner Messungen bedürften, um uns von der Richtigkeit der Axiome zu überzeugen. Das heißt doch Freund und Feind mit verschiedenem Maß messen! Als ob nicht jeder Zirkel aus dem schlechtesten Reißzeug Genaueres leistete als das beste Augenmaß, selbst abgesehen von der Frage, die sich mein Gegner gar nicht stellt, ob das letztere angeboren und a priori gegeben oder nicht auch erworben sei.

Großen Anstoß hat der Ausdruck  Krümmungsmaß  in seiner Anwendung auf den Raum von drei Dimensionen bei philosophischen Schriftstellern erregt (5). Nun bezeichnet der Name eine gewisse von RIEMANN definierte Größe, welche, für Flächen berechnet, zusammenfällt mit dem, was GAUSS Krümmungsaß der Flächen genannt hat. Diesen Namen haben die Geometer als kurze Bezeichnung für den allgemeineren Fall von mehr als zwei Dimensionen beibehalten. Der Streit bewegt sich hier nur um den Namen, und um nichts als den Namen für einen übrigens wohl definierten Größenbegriff.


III. Die Anwendbarkeit der Axiome
auf die physische Welt

Ich will hier die Folgerungen entwickeln, zu denen wir gedrängt würden, wenn KANTs Hypothese vom transzendentalen Ursprung der geometrischen Axiome richtig wäre und erörtern, welchen Wert alsdann diese unmittelbare Kenntnis der Axiome für unsere Beurteilung der Verhältnisse der objektiven Welt haben würde. (6)


§ 1.

Ich werde in diesem ersten Abschnitt zunächst in der realistischen Hypothese stehen bleiben und deren Sprache reden, also annehmen, daß die Dinge, welche wir objektiv wahrnehmen, reell bestehen und auf unsere Sinne wirken. Ich tue das zunächst nur, um die einfache und verständliche Sprache des gewöhnlichen Lebens und der Naturwissenschaft reden zu können, und dadurch den Sinn dessen, was ich meine, auch für Nichtmathematiker verständlich auszudrücken. Ich behalte mir vor, im folgenden Paragraphen die realistische Hypothese fallen zu lassen und die entsprechende Auseinandersetzung in abstrakter Sprache und ohne jede besondere Voraussetzung über die Natur des Realen zu wiederholen.

Zunächst müssen wir von derjenigen Gleichheit oder Kongruenz der Raumgrößen, wie sie nach der gemachten Annahme aus transzendentaler Anschauung fließen könnte, diejenige Gleichwertigkeit derselben unterscheiden, welche durch Messung mit physischen Hilfsmitteln zu konstatieren ist.

Physisch  gleichwertig nenne ich Raumgrößen, in denen unter gleichen Bedingungen und in gleichen Zeitabschnitten die gleichen physikalischen Vorgänge bestehen und ablaufen können. Der unter geeigneten Vorsichtsmaßregeln am häufigsten zur Bestimmung physische gleichwertiger Raumgrößen gebrauchte Prozeß ist die Übertragung starrer Körper, wie der Zirkel und Maßstäbe, von einem Ort zum andern. Übrigens ist es ein ganz allgemeines Ergebnis aller unserer Erfahrungen, daß, wenn die Gleichwertigkeit zweier Raumgrößen durch irgendeine dazu ausreichende Methode physikalischer Messung erwiesen worden ist, dieselben sich auch allen anderen bekannten physikalischen Vorgängen gegenüber als gleichwertig erweisen. Physische Gleichwertigkeit ist also eine vollkommen bestimmte eindeutige objektive Eigenschaft der Raumgrößen, und offenbar hindert uns nichts durch Versuche, und Beobachtungen zu ermitteln, wie physische Gleichwertigkeit eines bestimmten Paares von Raumgrößen abhängt von der physischen Gleichwertigkeit anderer Paare solcher Größen. Dies würde uns eine Art von Geometrie geben, die ich einmal für den Zweck unserer gegenwärtigen Untersuchung  physische Geometrie  nennen will, um sie zu unterscheiden von der Geometrie, die auf die hypothetisch angenommene transzendentale Anschauung des Raums gegründet wäre. Eine solche rein und absichtlich durchgeführte physische Geometrie würde offenbar möglich sein und vollständig den Charakter einer Naturwissenschaft haben.

Schon deren erste Schritte würden uns auf Sätze führen, welche den Axiomen entsprächen, wenn nur statt der transzendentalen Gleichheit der Raumgrößen ihre physische Gleichwertigkeit gesetzt wird.

Sobald wir nämlich eine passende Methode gefunden hätten, um zu bestimmen, ob die Entfernungen je zweier Punktpaare einander gleich (d. h. physisch gleichwertig) sind, würden wir auch den besonderen Fall unterscheiden können, wo drei Punkte  a, b, c  so liegen, daß außer  b  kein zweiter Punkt zu finden ist, der dieselben Entfernungen von  a  und  c  hätte, wie  b.  Wir sagen in diesem Fall, daß die drei Punkte in gerader Linie liegen.

Wir würden dann imstande sein, drei Punkte  A, B, C  zu suchen, die alle drei die gleiche Entfernung voneinander haben, also die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks darstellen. Dann könnten wir zwei neue Punkte suchen  b  und  c,  beide gleich weit von  A  entfernt, und  b  mit  A  und  B, c  mit  A  und  C  in gerader Linie liegend. Alsdann entstände die Frage: Ist das neue Dreieck  Abc  auch gleichseitig, wie  ABC;  ist als  bc = Ab = Ac?  Die  Euklidische  Geometrie antwortet: ja, die  sphärische  behauptet  bc > Ab,  wenn  Ab < AB;  und die pseudosphärische:  bc < Ab  unter derselben Bedingung. Schon hier kämen die Axiome zur tatsächlichen Entscheidung. Ich habe dieses einfache Beispiel gewählt, weil wir dabei nur mit der Messung von Gleichheit oder Ungleichheit der Entfernungen von Punkten, bezüglich mit der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der Lage gewisser Punkte zu tun haben, und weil gar keine zusammengesetzteren Raumgrößen, gerade Linien oder Ebenen konstruiert zu werden brauchen. Das Beispiel zeigt, daß diese physische Geometrie ihre die Stelle der Axiome einnehmenden Sätze haben würde.

So weit ich sehe, kann es auch für den Anhänger der KANTschen Theorie nicht zweifelhaft sein, daß es möglich wäre, in der beschriebenen Weise eine rein erfahrungsmäßige Geometrie zu gründen, wenn wir noch keine hätten. In dieser würden wir es nur mit beobachtbaren empirischen Tatsachen und deren Gesetzen zu tun haben. Die Wissenschaft, die auf eine solche Weise gewonnen wäre, würde nur insofern eine von der Beschaffenheit der im Raum enthaltenen physischen Körper unabhängige Raumlehre sein, als die Voraussetzung zuträfe, daß physische Gleichwertigkeit immer für alle Arten physischer Vorgänge gleichzeitig eintritt.

Aber KANTs Anhänger behaupten, daß es neben einer solchen physischen auch eine  reine Geometrie  gibt, die allein auf eine transzendentale Anschauung gegründet ist, und daß diese in der Tat diejenige Geometrie sei, die bisher wissenschaftlich entwickelt wurde. Bei dieser hätten wir es gar nicht mit physischen Körpern und deren Verhalten bei Bewegungen zu tun, sondern wir könnten, ohne durch Erfahrung von diesen irgendetwas zu wissen, durch eine innere Anschauung uns Vorstellungen bilden von absolut unveränderlichen und unbeweglichen Raumgrößen, Körpern, Flächen, Linie, die, ohne daß sie jemals durch Bewegung, die nur physischen Körpern zukommt, zur Deckung gebracht würden, doch im Verhältnis der Gleichheit und Kongruenz zueinander ständen. (7)

Ich erlaube mir hervorzuheben, daß diese innere Anschauung von Geradheit der Linien, Gleichheit von Entfernungen oder von Winkeln eine absolute Genauigkeit haben müßte; sonst würden wir durchaus nicht berechtigt sein, darüber zu entscheiden, ob zwei gerade Linien, unendlich verlängert, sich nur einmal, oder auch vielleicht wie größte Kreise auf der Kugel zweimal schneiden, noch zu behaupten, daß jede gerade Linie, welche eine von zwei Parallellinien, mit denen sie in derselben Ebene liegt, schneidet, auch die andere schneiden müsse. Man muß nicht das so unvollkommene Augenmaß für die transzendentale Anschauung unterschieben wollen, welche letztere absolute Genauigkeit erfordert.

Gesetzten Falls, wir hätten nun eine solche transzendentale Anschauung von Raumgebilden, ihrer Gleichheit und ihrer Kongruenz, und könnten uns durch wirklich genügende Gründe überzeugen, daß wir sie haben: so würde sich allerdings daraus ein System der Geometrie herleiten lassen, welches unabhängig von allen Eigenschaften der physischen Körper wäre, eine reine, transzendentale Geometre. Auch diese Geometrie würde ihre Axiome haben. Es ist aber klar, auch nach KANTschen Prinzipien, daß die Sätze dieser hypothetischen reinen Geometrie nicht notwendig mit denen der physischen übereinzustimmen brauchten. Denn die eine redet von Gleichheit der Raumgrößen in innerer Anschauung, die andere von physischer Gleichwertigkeit. Diese letztere hängt offenbar ab von empirischen Eigenschaften der Naturkörper und nicht bloß von der Organisation unseres Geistes.

Dann wäre also zu untersuchen, ob die beiden besprochenen Arten der Gleichheit notwendig immer zusammenfallen. Durch Erfahrung ist darüber nicht zu entscheiden. Hat es einen Sinn zu fragen, ob zwei Paare Zirkelspitzen nach transzendentaler Anschauung gleiche oder ungleiche Längen umfassen? Ich weiß damit keinen Sinn zu verbinden und soweit ich die neueren Anhänger KANTs verstanden habe, glaube ich annehmen zu dürfen, daß auch sie mit Nein antworten würden. Das Augenmaß dürfen wir uns, wie gesagt, hierbei nicht unterschieben lassen.

Könnte nun etwa aus Sätzen der reinen Geometrie gefolgert werden, daß die Entfernungen der beiden Zirkelspitzenpaare gleich groß seien? Dazu müßten geometrische Beziehungen zwischen diesen Entfernungen und anderen Raumgrößen bekannt sein, von welchen letzteren man direkt wissen müßte, daß sie im Sinne der transzendentalen Anschauung gleich seien. Da man dies nun direkt nie wissen kann, so kann man es auch durch geometrische Schlüsse niemals folgern.

Wenn der Satz, daß beide Arten räumlicher Gleichheit identisch sind, nicht durch Erfahrung gefunden werden kann, so müßte er ein metaphysischer Satz sein und einer Denknotwendigkeit entsprechen. Dann würde eine solche aber nicht nur die Form empirischer Erkenntnisse, sondern auch ihren Inhalt bestimmen, - wie zum Beispiel bei der oben angeführten Konstruktion zweier gleichseitiger Dreiecke, - eine Folgerung, welche KANTs Prinzipien geradezu widersprechen würde. Dann würde das reine Anschauen und Denken mehr leisten, als KANT zuzugeben geneigt ist.

Gesetzt den Fall endlich, daß die physische Geometrie eine Reihe allgemeiner Erfahrungssätze gefunden hätte, die mit den Axiomen der reinen Geometrie gleichlautend wären: so würde daraus höchstens folgen, daß die Übereinstimmung zwischen physischer Gleichwertigkeit der Raumgrößen und ihrer Gleichheit in reiner Raumanschauung eine zulässige Hypothese sei, die zu keine Widerspruch führt. Sie würde aber nicht die einzig mögliche Hypothese sein. Der physische Raum und der Raum der Anschauung könnten sich zueinander auch verhalten, wie der wirkliche Raum zu seinem Abbild in einem Konvexspiegel (8).

Daß die physische Geometrie und die transzendentale nicht notwendig übereinzustimmen brauchen, geht daraus hervor, daß wir sie uns tatsächlich als nicht übereinstimmend vorstellen können.

Die Art, wie eine solche Inkongruenz zur Erscheinung kommen würde, ergibt sich schon aus dem, was ich in einem früheren Aufsatz (9) auseinandergesetzt habe. Nehmen wir an, daß die physikalischen Messungen einem pseudosphärischen Raum entsprächen. Der sinnliche Eindruck von einem solchen bei Ruhe des Beobachters und der beobachteten Objekte würde derselbe sein, als wenn wir BELTRAMIs kugeliges Modell im Euklidischen Raum vor uns hätten, wobei der Beobachter sich im Mittelpunkt befände. So wie aber der Beobachter seinen Platz wechselte, würde das Zentrum der Projektionskugel mit dem Beobachter wandern müssen und die ganze Projektion sich verschieben. Für einen Beobachter, dessen Raumanschauungen und Schätzungen von Raumgrößen entweder aus transzendentaler Anschauung oder als Resultat der bisherigen Erfahrung im Sinne der Euklidischen Geometrie gebildet wären, würde also der Eindruck entstehen, daß, so wie er selbst sich bewegt, auch alle von ihm gesehenen Objekte sich in einer bestimmten Weise verschieben und sich nach verschiedenen Richtungen verschieden dehnen und zusammenziehen. In ähnlicher Weise, nur nach quantitativ abweichenden Verhältnissen, sehen wir auch in unserer objektiven Welt die perspektivische relative Lage und die scheinbare Größe der Objekte von verschiedener Entfernung wechseln, so wie der Beobachter sich bewegt. Wie wir nun tatsächlich imstande sind, aus diesen wechselnden Gesichtsbildern zu erkennen, daß die Objekte rings um uns ihre relative gegenseitige Lage und Größe nicht verändern, solange die perspektivischen Verschiebungen genau dem in der bisherigen Erfahrung bewährten Gesetze entsprechen, welchem sie bei ruhenden Objekten unterworfen sind, wie wir dagegen bei jeder Abweichung von diesem Gesetz auf eine Bewegung der Objekte schließen: so würde, wie ich selbst, als Anhänger der empiristischen Theorie der Wahrnehmung, glaube voraussetzen zu dürfen, auch jemand, der aus dem Euklidischen Raum in den pseudosphärischen überträte, anfangs zwar Scheinbewegungen der Objekte zu sehen glauben, aber sehr bald lernen, eine Schätzung der Raumverhältnisse den neuen Bedingungen anzupassen.

Dieses Letztere ist aber eine Voraussetzung, die nur nach der Analogie dessen, was wir sonst von den Sinneswahrnehmungen wissen, gebildet ist, und durch den Versuch nicht geprüft werden kann. Nehmen wir also an, die Beurteilung der Raumverhältnisse bei einem solchen Beobachter könnte nicht mehr geändert werden, weil sie mit angeborenen Formen der Raumanschauung zusammenhinge, so würde derselbe doch schnell ermitteln, daß die Bewegungen, die er zu sehen glaubt, nur Scheinbewegungen sind, da sie immer wieder zurückgehen, wenn er sich selbst auf seinen ersten Standpunkt zurückbegibt; oder ein zweiter Beobachter würde konstatieren können, daß Alles in Ruhe bleibt, während der erste den Ort wechselt. Wenn also vielleicht auch nicht vor der unreflektierten Anschauung, würde sich doch bald vor der wissenschaftlichen Untersuchung herausstellen können, welches die physikalisch konstanten Raumverhältnisse sind, etwa so wie wir selbst durch wissenschaftliche Untersuchungen wissen, daß die Sonne feststeht und die Erde rotiert, trotzdem der sinnliche Schein fortbesteht, daß die Erde stillsteht und die Sonne in 24 Stunden einmal um sie herumläuft.

Dann aber würde diese ganze vorausgesetzte transzendentale Anschauung a priori in den Rang einer  Sinnestäuschung,  eines  objektiv falschen Scheins  herabgesetzt werden, von der wir uns zu befreien und die wir zu vergessen suchen müßten, wie es bei der scheinbaren Bewegung der Sonne der Fall ist. Es würde dann ein Widerspruch sein zwischen dem, was nach der angeborenen Anschauung als räumlich gleichwertig erscheint, und dem, was in den objektiven Phänomenen sich als solches erweist. Unser ganzes wissenschaftliches und praktisches Interesse würde an das letztere geknüpft sein. Die transzendentale Anschauungsform würde die physikalisch gleichwertigen Raumverhältnisse nur so darstellen, wie eine ebene Landkarte die Oberfläche der Erde, sehr kleine Stücke und Streifen richtig, größere dagegen notwendig falsch. Es würde sich dann nicht bloß um die  Erscheinungsweise  handeln, die ja notwendig eine Modifikation des darzustellenden Inhalts bedingt, sondern darum, daß die Beziehungen zwischen Erscheinung und Inhalt, die für engere Grenzen eine Übereinstimmung zwischen beiden herstellen, auf weitere Grenzen ausgedehnt einen  falschen Schein  geben würden.

Die Folgerung, welche ich aus diesen Betrachtungen ziehe, ist diese: Wenn es wirklich eine uns angeborene und unvertilgbare Anschauungsform des Rums mit Einschluß der Axiome gäbe, so würden wir zu ihrer objektiven wissenschaftlichen Anwendung auf die Erfahrungswelt erst berechtigt sein, wenn durch Beobachtung und Versuch konstatiert wäre, daß die nach der vorausgesetzten transzendentalen Anschauung gleichwertigen Raumteile auch physisch gleichwertig seien. Diese Bedingung trifft zusammen mit RIEMANNs Forderung, daß das Krümmungsmaß des Raumes, in dem wir leben, empirisch durch Messung bestimmt werden müsse.

Die bisher ausgeführten Messungen dieser Art haben keine merkliche Abweichung des Wertes dieses Krümmungsmaßes von Null ergeben. Als tatsächlich richtig innerhalb der bis jetzt erreichten Grenzen der Genauigkeit des Messens können wir die Euklidische Geometrie also allerdings ansehen.


§ 2.

Die Erörterungen des ersten Paragrapen blieben ganz im Gebiet des Objektiven und des realistischen Standpunktes des Naturforschers, wobei die begriffliche Fassung der Naturgesetze der Endzweck ist und die Kenntnis durch Anschauung nur eine erleichternde Hilfe, bezüglich ein zu beseitigender falscher Schein.

Herr Professor LAND glaubt nun, daß ich bei meinen Auseinandersetzungen die Begriffe des  Objektiven  und des  Realen  verwechselt hätte, daß bei meiner Behauptung, die geometrischen Sätze könnten an der Erfahrung geprüft und durch sie bestätigt werden, unbegründeterweise vorausgesetzt sei (Mind II, Seite 46) "daß empirisches Wissen durch die bloße Wichtigkeit oder durch Falschheit erlangt wird und nicht durch bestimmte Bewußtseinsoperationen, die den Reizen der verschiedensten Impulse aus einer unbekannten Realität folgen". Wenn Herr Prof. LAND meine Arbeiten über Sinnesempfindungen gekannt hätte, würde er gewußt haben, daß ich selbst mein Leben lang gegen eine solche Voraussetzung, wie er sie mir unterschiebt, gekämpft habe. Ich habe vom Unterschied des Objektiven und Realen in meinem Aufsatz nicht gesprochen, weil mir in der vorliegenden Untersuchung gar kein Gewicht auf diesen Unterschied zu fallen schien. Umd diese meine Meinung zu begründen, wollen wir jetzt, was in der realistischen Ansicht hypothetisch ist, fallen lassen und nachweisen, daß die bisher aufgestellten Sätze und Beweise auch dann noch einen vollkommen richtigen Sinn haben, daß man auch dann noch nach der physischen Gleichwertigkeit von Raumgrößen zu fragen und darüber durch Erfahrung zu entscheiden berechtigt ist.

Die einzige Voraussetzung, welche wir festhalten, ist die des Kausalgesetzes, daß nämlich die mit dem Charakter der Wahrnehmung in uns zustande kommenden Vorstellungen nach festen Gesetzen zustande kommn, so daß, wenn verschiedene Wahrnehmungen sich uns aufdrängen, wir berechtigt sind, daraus auf die Verschiedenheit der realen Bedingungen zu schließen, unter denen sie sich gebildet haben. Übrigens wissen wir über diese Bedingungen selbst, über das eigentlich Reale, was den Erscheinungen zugrunde liegt, nichts; alle Meinungen, die wir sonst darüber hegen mögen, sind nur als mehr oder minder wahrscheinliche Hypothesen zu betrachten. Die vorangestellte Voraussetzung dagegen ist das Grundgesetz unseres Denkens; wenn wir sie aufgeben wollten, so würden wir damit überhaupt darauf Verzicht leisten, diese Verhältnisse denkend begreifen zu können.

Ich hebe hervor, daß über die Natur der Bedingungen, unter denen Vorstellungen entstehen, hier gar keine Voraussetzungen gemacht werden sollen. Ebensogut, wie die realistische Ansicht, deren Sprache wir bisher gebraucht haben, wäre die Hypothese des subjektiven Idealismus zulässig. Wir könnten annehmen, daß all unser Wahrnehmen nur ein Traum sei, wenn auch ein in sich höchst konsequenter Traum, in dem sich Vorstellung aus Vorstellung nach festen Gesetzen entwickelt. In diesem Fall würde der Grund, daß eine neue scheinbare Wahrnehmung eintritt, nur darin zu suchen sein, daß in der Seele des Träumenden Vorstellungen bestimmter anderer Wahrnehmungen und etwa auch Vorstellungen von eigenen Willensimpulsen bestimmter Art vorausgegangen sind. Was wir in der realistischen Hypothese Naturgesetze nennen, würden in der idealistischen Gesetze sein, welche die Folge der mit dem Charakter der Wahrnehmung aufeinander folgenden Vorstellungen regeln.

Nun finden wir als Tatsache des Bewußtseins, daß wir Objekte wahrzunehmen glauben, die sich an bestimmten Orten im Raum befinden. Daß ein Objekt an einem bestimmten besonderen Ort erscheint und nicht an einem anderen, wird abhängen müssen von der Art der realen Bedingungen, welche die Vorstellung hervorrufen. Wir müssen schließen, daß andere reale Bedingungen hätten vorhanden sein müssen, um zu bewirken, daß die Wahrnehmung eines anderen Ortes des gleichen Objekts eintrete. Es müssen also im Realen irgendwelche Verhältnisse oder Komplexe von Verhältnissen bestehen, welche bestimmen, an welchem Ort im Raum uns ein Objekt erscheint. Ich will diese, um sie kurz zu bezeichnen,  topogene Momente  nennen. Von ihrer Natur wissen wir nichts, wir wissen nur, daß das Zustandekommen räumlich verschiedener Wahrnehmungen eine Verschiedenheit der topogenen Momente voraussetzt.

Daneben muß es auf dem Gebiet des Realen andere Ursachen geben, welche bewirken, daß wir zu verschiedener Zeit am gleichen Ort verschiedene stoffliche Dinge von verschiedenen Eigenschaften wahrzunehmen glauben. Ich will mir erlauben, diese mit dem Namen der  hylogenen Momente  zu bezeichnen. Ich wähle diese neuen Namen, um alle Einmischung von Nebenbedeutungen abzuschneiden, die sich an gebräuchliche Worte knüpfen könnten.

Wenn wir nun irgendetwas wahrnehmen und behaupten, was eine gegenseitige Abhängigkeit von Raumgrößen aussagt, so ist zweifelsohne der tatsächliche Sinn einer solchen Aussage nur der, daß zwischen gewissen topogenen Momenten, deren eigentliches Wesen uns aber unbekannt bleibt, eine gewisse gesetzmäßige Verbindung stattfindet, deren Art uns ebenfalls unbekannt ist. Eben deshalb sind SCHOPENHAUER und viele Anhänger von KANT zu der unrichtigen Folgerung gekommen, daß in unseren Wahrnehmungen räumlicher Verhältnisse überhaupt kein realer Inhalt sei, daß der Raum und seine Verhältnisse nur transzendentaler Schein sind, ohne daß ihnen irgendetwas Wirkliches entspricht. Wir sind aber jedenfalls berechtigt, auf unsere räumlichen Wahrnehmungen dieselben Betrachtungen anzuwenden, wie auf andere sinnliche Zeichen z. B. die Farben. Blau ist nur eine Empfindungsweise; daß wir aber zu einer gewissen Zeit in einer bestimmten Richtung Blau sehen, muß einen realen Grund haben. Sehen wir zu einer Zeit dort Rot, so muß dieser reale Grund verändert sein.

Wenn wir beobachten, daß verschiedenartige physikalische Prozesse in kongruenten Räumen während gleicher Zeitperioden verlaufen können, so heißt das, daß auf dem Gebiet des Realen gleiche Aggregate und Folgen gewisser hylogener Momente zustande kommen und ablaufen können in Verindung mit gewissen bestimmten Gruppen verschiedener topogener Momente, solcher nämlich, die uns die Wahrnehmung physisch gleichwertiger Raumteile geben. Und wenn uns dann die Erfahrung belehrt, daß jede Verbindung oder jede Folge hylogener Momente, die in Verbindung mit der einen Gruppe topogener Momente bestehen oder ablaufen kann, auch mit jeder physikalisch äquivalenten Gruppe anderer topogener Momente möglich ist, so ist das jedenfalls ein Satz, der einen realen Inhalt hat, und die topogenen Momente beeinflussen also unzweifelhaft den Ablauf realer Prozesse.

Im oben angegebenen Beispiel mit den zwei gleichseitigen Dreiecken handelt es sich nur
    1) um die Gleichheit oder Ungleichheit, d. h. physische Gleichwertigkeit oder Nicht-Gleichwertigkeit von Punktabständen;

    2) um die Bestimmtheit oder Nicht-Bestimmtheit der topogenen Momente gewisser Punkte.
Diese Begriffe von Bestimmtheit und von Gleichwertigkeit in Bezug auf gewisse Folgen können aber auch auf Objekte von übrigens ganz unbekannten Wesen angewendet werden. Ich schließe daraus, daß die Wissenschaft, welche ich physische Geometrie genannt habe, Sätze von realem Inhalt enthält, und daß ihre Axiome bestimmt werden, nicht von bloßen Formen des Vorstellens, sondern von Verhältnissen der realen Welt.

Dies berechtigt uns noch nicht, die Annahme einer Geometrie, die auf eine transzendentale Anschauung gegründet ist, für unmöglich zu erklären. Man könnte z. B. annehmen, daß eine Anschauung von der Gleichheit zweier Raumgrößen ohne physische Messung unmittelbar durch die Einwirkung der topogenen Momente auf unser Bewußtsein hervorgebracht wird, daß also gewisse Aggregate topogener Momente auch in Bezug auf eine psychische, unmittelbar wahrnehmbare Wirkung äquivalent sind. Die ganze Euklidische Geometrie läßt sich herleiten aus der Formel, welche die Entfernung zweier Punkte als Funktion ihrer rechtswinkligen Koordinaten gibt. Nehmen wir an, daß die Intensität jener psychischen Wirkung, deren Gleichheit als Gleichheit der Enfernung zweier Punkte im Vorstellen erscheint, in derselben Weise von irgendwelchen drei Funktionen der topogenen Momente jedes Punktes abhängt, wie die Entfernung im Euklidischen Raum von den drei Koordinaten eines jeden, so müßte das System der reinen Geometrie eines solchen Bewußtseins die Axiome des EUKLID erfüllen, wie auch übrigens die topogenen Momente der realen Welt und ihre physische Äquivalenz sich verhielten. Es ist klar, daß in diesem Fall die Übereinstimmung zwischen psychischer und physischer Gleichwertigkeit der Raumgrößen nicht allein aus der Form der Anschauung entschieden werden könnte. Und wenn sich eine Übereinstimmung herausstellen sollte, so wäre diese als eine Naturgesetz, oder, wie ich es in meinem populären Vortrag bezeichnet habe, als eine prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie zwischen der Vorstellungswelt und der realen Welt aufzufassen, ebensogut, wie es auf Naturgesetzen beruth, daß die von einem Lichtstrahl beschriebene gerade Linie mit der von einem gespannten Faden gebildeten zusammenfällt.

Ich meine damit gezeigt zu haben, daß die Beweisführung, die ich in § 1 in der Sprache der realistischen Hypothese gegeben habe, sich auch ohne deren Voraussetzungen als gültig erweist.

Wenn wir die Geometrie auf Tatsachen der Erfahrung anwenden wollen, wo es sich immer nur um physische Gleichwertigkeit handelt, können nur die Sätze derjenigen Wissenschaft angewendet werden, die ich als physische Geometrie bezeichnet habe. Wer die Axiome aus der Erfahrung herleitet, dem ist unsere bisherige Geometrie in der Tat physische Geometrie, die sich nur auf eine große Menge planlos gesammelter, statt auf ein System methodisch durchgeführter Erfahrungen stützt. Zu erwähnen ist übrigens, daß dies schon die Ansicht von NEWTON war, der in der Einleitung zu den  "Principia"  erklärt: "Geometrie selbst hat ihre Begründung in mechanischer Praxis und ist in der Tat nichts anderes, als derjenige Teil der gesamten Mechanik, welcher die Kunst des Messens genau feststellt und begründet."

Dagegen ist die Annahme einer Kenntnis der Axiome aus transzendentaler Anschauung:
    1) eine  unerwiesene  Hypothese

    2) eine  unnötige  Hypothese, da sie nichts in unserer tatsächlichen Vorstellungswelt zu erklären vorgiebt, was nicht auch ohne ihre Hilfe erklärt werden könnte;

    3) eine für die Erklärung unserer Kenntnis der wirklichen Welt  gänzlich unbrauchbare  Hypothese, da die von ihr aufgestellten Sätze auf die Verhältnisse der wirklichen Welt immer erst angewendet werden dürfen, nachdem ihre objektive Gültigkeit erfahrungsmäßig geprüft und festgestellt worden ist.
KANTs Lehre von den a priori gegebenen Formen der Anschauung ist ein sehr glücklicher und klarer Ausdruck des Sachverhältnisses; aber diese Formen müssen inhaltsleer und frei genug sein, um jeden Inhalt, der überhaupt in die betreffende Form der Wahrnehmung eintreten kann, aufzunehmen. Die Axiome der Geometrie aber beschränken die Anschauungsform des Raumes so, daß nicht mehr jeder denkbare Inhalt darin aufgenommen werden kann, wenn überhaupt Geometrie auf die wirkliche Welt anwendbar sein soll. Lassen wir sie fallen, so ist die Lehre von der Transzendentalität der Anschauungsform des Raumes ohne allen Anstoß. Hier ist KANT in seiner Kritik nicht kritisch genug gewesen; aber freilich handelte es sich dabei um Lehrsätze aus der Mathematik, und dieses Stück kritischer Arbeit mußte durch die Mathematiker erledigt werden.
LITERATUR - Hermann Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Rede gehalten zur Stiftungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1878 in Vorträge und Reden II, Braunschweig 1896
    Anmerkungen
    1) Die Axiome der Geometrie, Leipzig 1877, Kapitel III
    2)  Mind,  a Quaterly Review, London und Edinburgh, Vol. III, Seite 212 (April 1878)
    3) AlBRECHT KRAUSE, Kant und Helmholtz, Lahr 1878
    4) So hatte ich die kürzesten oder geodätischen Linien benannt.
    5) Zum Beispiel bei KRAUSE, a. a. O., Seite 84
    6) Also, um neue Mißverständnisse zu vermeiden, wie sie bei Herrn KRAUSE, a. a. O. Seite 84 vorkommen: nicht ich bin es, "der einen transzendentalen Raum mit ihm eigenen Gesetzen kennt", sondern ich suche hier die Konsequenzen aus der von mir für unerwiesen und unrichtig betrachteten Hypothese KANTs zu ziehen, wonach die Axiome durch transzendentale Anschauung gegebene Sätze sein sollen, um nachzuweisen, daß eine auf solcher Anschauung beruhende Geometrie gänzlich unnütz für objektive Erkenntnis sein würde.
    7) LAND in Mind II, Seite 41. - A. KRAUSE, a. a. O., Seite 62
    8) Siehe meinen Vortrag über die Axiome in der Geometrie in diesem Band, Seite 1.
    9) Über die Axiome der Geometrie, Seite 1