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FRITZ MAUTHNER
Schriftliche Sprache
II-43

"Ich fürchte, wir sind allesamt Chinesen und wissen es nicht."

Kein Mensch mit Ausnahme einiger weniger Spezialforscher sieht in den Buchstaben etwas anderes als Lautzeichen. Der Irrtum besteht nur darin, daß der naive Mensch, der Nichtphonetiker, sich einbildet, der bestimmte Buchstabe entspreche einem bestimmten Laut. Ich brauche hier nicht zu wiederholen, daß es bestimmte Laute kaum in derselben Sprache gibt, geschweige denn in verschiedenen Sprachen. Die Aufgabe, etwa die Schnalzlaute afrikanischer Mundarten mit unserem Alphabet sichtbar zu machen, ist unlösbar. Aber auch die Anwendung des gleichen Alphabets z.B. für das Französische und das Englische beruht doch nur darauf, daß das eine Volk nichts vom hörbaren Alphabet des anderen Volkes weiß. Auch das große, künstliche, verschiedentlich aufgestellte Alphabet der Phonetiker ist nur ein Ungefähr, abgesehen davon, daß es technisch ist, daß es keinem Volke geläufig geworden ist. HERMANN PAUL hat einmal hübsch gesagt, die Sprache verhalte sich zu der Schrift wie die Linie zu der Zahl. Das künstliche große Alphabet der Phonetiker erinnert mich an die Formeln, mit denen die mathematische Analyse Linien durch Zahlen ausdrückt; nur daß im unendlich Kleinen der Sprache die gesetzliche Stetigkeit fehlt.

Unsere Schriftzeichen, wie sie in jeder Sprache nach der üblichen Orthographie angewandt werden, weisen eine große Zahl von Mängeln auf, die sich historisch erklären lassen. Es ereignete sich ja regelmäßig, daß das Alphabet einer fremden Sprache der Muttersprache untergelegt wurde, und es ist klar, daß es dabei ohne Gewaltsamkeit nicht abgehen konnte. Es ereignete sich ferner, daß die Schreibung eines Worts konstanter blieb als die Aussprache; die gesamte Orthographie, soweit sie nicht dem unerreichbaren Ideal einer phonetischen Rechtschreibung nahe kommt, würde sich so historisch erklären lassen. Aber das alles scheint mir nur die sekundären Mängel der Schrift zu betreffen. Ihr wesentlicher Mangel liegt in der Gleichgültigkeit unseres Ohres für kleinere Unterschiede oder vielmehr in unserer Unfähigkeit, die Unterschiede, die wir wohl hören und unbewußt mit den Sprachwerkzeugen nachahmen, bewußt in Begriffe zu fassen. Ich glaube beinahe, daß da die metaphorische Tätigkeit unseres Geistes mit tätig ist. Wie gesagt ist, daß die scheinbare Schallnachahmung, die sich durch viele sprachwissenschaftliche Werke hindurchschleppt, nur auf einer falschen Analogie, auf einem ungefähren Bilde, auf einer Metapher beruht, so mag es in der psychologischen Wirklichkeit eines Volkes zugegangen sein, als es sich in seiner Armut, die man gern Sparsamkeit nennt, damit begnügte, halbwegs ähnliche Laute mit einem einzigen Lautzeichen auszudrücken. Die meisten Menschen erfahren diese Tatsache überhaupt erst, wenn sie Phonetik studieren. Daß das  ch  ein vollkommen anderer Laut ist in Bach und in Bäche, darauf muß man erst aufmerksam gemacht werden, trotzdem der Unterschied für mein Bewegungsgefühl nicht geringer ist als der zwischen  R  und  L.  Spricht man gar einem Ostpreußen das Wort "Buchchen" nach, so stoßen die beiden ungleichen Laute hart aufeinander; und dennoch wird es mir ein Ostpreuße kaum glauben, daß die beiden Konsonanten so verschieden sind, wie etwa  R  und  L  in "Erle".

Haben wir diese Ungenauigkeit unserer Buchstaben, in Übereinstimmung mit der heutigen Wissenschaft, erst erkannt, so werden wir einsehen, daß für den geübten Leser die Druckschrift nicht nur durch seine Übung zu lauter Wortzeichen werden mußte, sondern auch durch die Mangelhaftigkeit des Alphabets. Erkennt er doch erst aus dem Worte, wie der Buchstabe auszusprechen sei, und nicht umgekehrt. Ja selbst der Zusammenhang des Satzes wird ihn mitunter über die Aussprache aufklären. Ist ihm das Wortbild nicht geläufig, so wird er beim Anblick des Wortbildes "erblassen" stocken und nicht gleich wissen, ob er erb-lassen oder er-blassen zu lesen habe. Ja wir bemerken an diesem Beispiel wieder, daß unsere Schrift für wichtige Unterschiede der Aussprache, wie die Silbentrennung, gar keine Zeichen besitzt. Wir trennen aber wenigstens die Teile der Rede, die wir als verschiedene Worte empfinden. Wir schreiben "Erblasser", wir schreiben (als) er blasser (wurde)". Es gibt aber hochentwickelte Sprachen, deren Schrift die Worte nicht trennt. Sollen wir annehmen, daß eine solche Sprache (wie das Sanskrit) vollendetere Buchstabenschrift sei, weil sie keine Wortbilder bietet, oder daß sie noch hinter der Wortschrift zurückstehe, weil sie ihren Büchermenschen ganze Satzbilder auf einmal gibt? Ich fürchte, wir sind allesamt Chinesen und wissen es nicht.

Diese kleine Bemerkung, daß nämlich die starke Ungenauigkeit der Schriftzeichen im Verhältnis zu den Lautzeichen die Buchstabengruppen erst recht zu Wortbildern, also zu Teilen einer Schriftsprache im engeren Sinne gemacht hat, brauche ich bloß auszusprechen, um der Zustimmung jedes Fachmannes gewiß zu sein. Die Tatsache ist aber von unerschöpflicher Wichtigkeit für die Entwicklung der Sprache in der Richtung nach einer Schriftsprache im engern Sinne, die ich nun weiter "schriftliche Sprache" nennen werde. Man stelle sich einmal vor, in wie entsetzlicher, ja lächerlicher Weise die Natur verarmen müßte, wenn es in den Willen oder in die Gewohnheit der Menschen gegeben wäre, Tierformen oder Pflanzenformen, z.B. Blattformen, nach den wenigen Typen zu beschränken, welche die schematische Tätigkeit der Botaniker aufgestellt hat. Ich finde in einer guten Übersicht 36 solche verschiedene Blattformen namentlich aufgezählt. Ich will entgegenkommend sein und annehmen, diese Anzahl ließe sich (durch Verbindung mit der Anzahl der schematischen Blattrandformen) auf die Zahl von 200 bringen. Wir hätten dann in der ganzen ungeheuren Natur, in der sich nicht zwei Blätter am selben Baume gleichen, wohlgezählte 200 verschiedene Sinneseindrücke. Ganz ähnlich ist es mit der Sprache geworden, seitdem eine schriftliche Sprache mit ihren 24 Buchstaben die tausendfältig verschiedene Aussprache schematisch eingeschränkt hat. Und wir können durch einen glücklichen Zufall historisch belegen, daß die Schematisierung der Sprache seit der Einführung der Schrift Fortschritte gemacht hat. Wir wissen, daß in alten und neuen Sprachen die Laute eines Wortes sich verändern, je nach dem Laut, der auf sie folgt, sei es der Laut einer Bildungssilbe des Wortes selbst, sei es der Anlaut des folgenden Wortes im Satze. Nun verlangte die Orthographie des Sanskrit z.B., die auch darin streng phonetisch war, daß der Ablaut eines Wortes je nach seiner Aussprache, das heißt nach der Wirkung des ihm folgenden Anlauts, mit verschiedenen Buchstaben geschrieben wurde. Man denke sich das heutige Französisch mit seinen unaufhörlichen Hinüberziehungen so geschrieben - phonetisch also -, und der gebildete Franzose wird einem neuen, verwirrenden, schwer oder doch langsamer verständlichen Sprachbilde gegenüberstehen.

Aber ich brauche die Beispiele nicht so weit herzuholen. Noch im Mittelhochdeutschen war die Orthographie phonetisch genug, um die Aussprache desselben Wortstammes verschieden zu schreiben. "Neigen - er neicte." In den modernen Sprachen hat die Etymologie gesiegt. Wir schreiben "neigte". Die Folge aber ist, daß wir Oberdeutschen ein schlechtes Gewissen dabei haben, wenn wir dieses  g  wie ein  k  aussprechen. Auf der Schulbank ist es uns eingeprügelt worden, daß der Buchstabe  g  so und nicht anders ausgesprochen werde; wir behalten darum zeitlebens die Neigung, ihn auch dort wie ein  g  auszusprechen, wo die lebendige Sprache den Laut des Wortstammes in ein  k  verwandelt hat. Im Mittelhochdeutschen schrieb man  tac  und sagte wie heute noch jeder naive Oberdeutsche  Tak . Die schriftliche Sprache hat aber auf die Gemeinsprache, die sogenannte Schriftsprache der Gebildeten, eingewirkt, und heute sagt jeder oberdeutsche Schauspieler "Tach", weil ihm die genaue Aussprache "Tag" (mit einem reinen  g  als Auslaut) doch zu beschwerlich ist.

Man mag daraus sehen, wie kleinlich und künstlich die Bestrebungen sind, die historisch gewordene Orthographie einer Sprache durch eine phonetische Schreibung zu ersetzen. Das Bedürfnis ist natürlich selbst in den Augen der Phonetiker verschieden in den verschiedenen Kultursprachen. Die Übereinstimmung zwischen Sprache und Schrift scheint im Italienischen ausreichend, im Französischen schon geringer, ungenügend im Deutschen, ganz ungenügend im Englischen. Um die Kleinlichkeit dieser Bestrebungen zu begreifen, muß man vor allem festhalten, daß die lebendige Sprache sich in ihren Lautveränderungen unaufhörlich und in jeder Sekunde unmerklich entwickelt und daß die Einführung einer neuen Rechtschreibung immer nur nach größeren Zeitabschnitten, wenn die Veränderungen sehr merklich geworden sind, vor sich gehen kann, und zwar absichtlich, vom grünen Tische aus, während der Lautwandel der Sprache unabsichtlich geschieht. Vom grünen Tische aus ist eine Veränderung der Orthographie immer geschehen; heute ist das offenbar; aber auch früher ging jede solche neue Orthographie schließlich doch vom grünen Schreibtische einflußreicher Schriftsteller aus. Dafür bekommt jetzt das ganze Volk die Neuschreibung von verzweifelten Schulmeistern eingeprügelt. Die Wirkung ist nun regelmäßig folgende: je geübter ein Mensch im Gebrauche der alten Orthographie ist, das heißt je mehr er beim Lesen und Schreiben mit bloßen Wortbildern zu tun hat, desto lästiger wird es ihm sein, sich an die neue Schreibung zu gewöhnen. Ich für mein Teil gestehe, daß ich die neue Orthographie nicht einer Viertelstunde Lernens wert gehalten habe und es gern der Druckerei überlasse, die Wortbilder meiner Schrift in die Wortbilder der neuen Orthographie zu verwandeln. Die ganze erwachsene Generation wird also, soweit sie in Wortbildern, in einer schriftlichen Sprache zu denken gewöhnt ist durch die Neuschreibung nicht gefördert, sondern bestenfalls gestört. Die neue Generation aber hat ein paar Dutzend kleine Ausgleichungen und Bequemlichkeiten erworben, von denen es mir doch fraglich ist, ob sie die ausgeteilten Prügel wert sind. Denn wirklich Phonetisch kann eine Schreibung wegen der Mängel unseres Alphabets überhaupt nicht werden. Der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift ist, wie ich hoffentlich überzeugend dargelegt habe, ein schreiender. Und selbst wenn man das große künstliche, phonetische Alphabet anstatt unserer armen vierundzwanzig Buchstaben einführen wollte, so wäre der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift nur etwas gemildert, nicht aber aufgehoben.

Wie es schon oft über die Grenze des Aussagbaren hinausgeht, mit den Mitteln der Sprache über die Sprache selbst klar zu werden, so ist es nun vollends ein vernichtendes Unternehmen, in schriftlicher Sprache über die schriftliche Sprache denken zu wollen. So mag es dem unseligen Nordpolfahrer zumute sein, wenn er in seinen Träumen dort oben die Achse der Erde zu finden hoffte, dann aber in Wirklichkeit nichts erblickt, nichts, nichts, nichts als eisige Öde, den Tod der Natur und seinen eigenen Tod. Nur freilich könnte vor der Verzweiflung der resignierte Gedanke retten, daß er nur in seiner armen Sprache diese Eisfelder und dieses sein eigenes Auslöschen den Tod zu nennen gewöhnt ist, daß die wirkliche Natur im ewigen Eis und in seinem erstarrten Leichnam nicht anders lebt als in der Üppigkeit der Tropen.

Ich habe also zu untersuchen, worin sich in seiner Psychologie, das heißt in seiner Wirklichkeit oder seiner Wirkung, das gedruckte Wortbild z. B. "Baum" von dem gesprochenen Worte z.B. "Baum" unterscheidet.

Ich muß nun daran erinnern, wie wenig konkreten Wert ich schon dem gesprochenen Worte "Baum" beilege. Es bezeichnet einen außerordentlich umfassenden und dementsprechend einen sehr inhaltsarmen Begriff . Ein konkretes Wort ist "Baum" nur für das Kind, welches es zum erstenmal hört und anwendet. Ich zeige dem Kinde z.B. den müden Fliederbaum vor meinem Hause, spreche dazu das Wort aus, das Kind wiederholt es, aber nur wie einen Eigennamen: "Baum" ist ihm in diesem Augenblicke einzig und allein diese Pflanze an dieser Stelle in dieser Jahreszeit. Das ist Ursprache, das ist beinahe Zeigefingersprache, Eigennamensprache, vorbegriffliche Sprache. Ein Abgrund trennt diese Bedeutung von dem Begriffe "Baum", wie das Kind ihn später gebraucht, wenn es erwachsen ist und seine Muttersprache beherrscht oder gar Botanik studiert hat. Vielleicht wird es dann sogar meinen Fliederstamm gar nicht mehr unter den Begriff Baum bringen wollen, wird ihn vielmehr zu den "Sträuchern" rechnen. Wir wissen von einem anderen Gedankengange her, daß unser Begriff "Baum" eigentlich nicht vorstellbar ist; er ist nur durch Beispiele vorstellbar, von denen jedes mehr ist als der Begriff und an denen kein einziges wahmehmbares Merkmal dem Begriff "Baum" entspricht. So rein begrifflich angewendet wird das Wort, wenn wir die armselige Tautologie sagen: "die Linde ist ein Baum". Etwas konkreter scheint der Begriff zu werden, wenn der Gebrauch des Wortes, wie in der Erzählung, sich geradezu an die Phantasie wendet. "Auf dem Gipfel des kahlen Berges erblickte ich einen Baum." Das sollte doch vorstellbar sein, denn wir sollen uns ja dabei etwas vorstellen. Man gebe aber einem Maler die Aufgabe, die Vorstellung zu fixieren. Er wird entweder ein Beispiel hinmalen, eine Eiche oder sonst einen bestimmten Baum, oder er wird das Bild ebenso unklar lassen müssen, wie der Begriff es auch in diesem Falle ist. Ein moderner Maler aber wird den Versuch gar nicht wagen. Er wird im antworten: es sei ihm unmöglich, einen begrifilichen Baum zu malen; auch aus der weitesten Entfernung, auch in der Trübung habe noch jeder Baum seinen ausgesprochenen Charakter, den er, wenn auch noch so verschwommen, festhalten müsse.

In der lebendigen Rede kann jedoch "Baum" auch etwas Wohlbekanntes bezeichnen. Entweder befinden wir uns vor einem Baumindividuum und wollen es nennen, oder wir sprechen von diesem Baumindividuum, wenn es nicht gegenwärtig ist, genau so wie von einer dritten Person, oder endlich es war in einer Erzählung von einem Baumindividuum die Rede und wir erinnern daran nachträglich mit dem zusammenfassepden Worte. Dann ist die lebendige Sprache eigentlich zur vorbegrifflichen Sprache zurückgekehrt und hat das Wort als Eigennamen gebraucht. In diesem letzten Falle bringen wir wie zu jedem Eigennamen eine Stimmung hinzu, die sich im Ton der Stimme und in den begleitenden Umständen, in dem Ausdruck unsers Gesichts und in den Gesten, wenn auch noch so leise, äußert.

Ich brauche nicht besonders darauf hinzuweisen, daß diese letzte Anwendung der Sprache allein in der mündlichen Sprache möglich ist. Die schriftliche Sprache kann wohl durch außerordentliche Kunstgriffe diesen Gebrauch nachahmen und ist dann Poesie. Aber sie kann schwarz auf weiß niemals volle Poesie werden. Es drängt den Dichter wie den Leser zur mündlichen Sprache; und auch ein eingefleischter Büchermensch wird beim Lesen eines Gedichtes, wenn er es schon nicht laut liest, doch unwillkürlich stärkere Bewegungsgefühle hervorrufen und darum verspüren als beim Lesen eines wissenschaftlichen Werkes. Hier haben wir, wie ich glaube, den Punkt vor Augen, an welchem sich die eigentliche schriftliche Sprache von der durch Buchstaben vermittelnden lebendigen Sprache scheidet. Ich bitte wohl darauf zu achten. So lange beim Lesen Bewegungsgefühle vorhanden sind, so lange sind wir auf dem chinesischen Standpunkt noch nicht angekommen. Der Unterschied ist freilich so fein, daß die Selbstbeobachtung vorläufig wenigstens versagt. Aber es ist schematisch klar, daß da keine Bewegungsgefühle mitspielen können, wo das Wortbild allein die Gedankenassoziation vermittelt. Oder vielmehr es läßt sich schematisch annehmen, daß bei der Auffassung von Wortbildern andere Gefühle oder Nervenveränderungen in uns entstehen als bei der inneren Artikulation von Worten. Ich weiß, daß dieses letzte Zugeständnis meinem ganzen Gedankengang eine neue Unsicherheit, Unbestimmtheit, ja Ungenauigkeit verleiht; ich wäre aber nicht wahr, wollte ich in einer Kritik der Sprache jemals daran vergessen, daß jedes Wort ungenau und verschwimmend ist.

Worauf es mir ankommt, das ist nun die Tatsache, daß beim mündlichen Sprechen der Zusammenhang zwischen der in Urzeiten zurückliegenden Entstehung des Worts und seinem noch so begrifflichen, toten Gebrauch doch nicht gerissen ist. Alle Milliarden Baumindividuen, welche die Menschheit seit undenkbaren Zeiten wahrgenommen hat, haben ihre Spur in dem Wortlaut  Baum  zurückgelassen. Das Wort ist ein Teil der ungeheuren Erbschaft, die jeder einzelne in seinem Volk erwirbt, um sie zu besitzen. Das Erwerben jedes einzelnen Wortes besteht darin, daß er einen Bruchteil der Sinneseindrücke der Menschheit persönlich mit dem Worte verbunden hat. Er kann im Geschnatter des Alltags das Wort vorstellungslos gebrauchen, er kann es in einer wissenschaftlichen Darlegung vorstellungslos hören oder aussprechen; aber die Vorstellung steht immer an der Schwelle, die leiseste Hemmung, die flüchtigste Aufmerksamkeit, ein Hauch der Erinnerung genügt, um an das Bewegungsgefühl des gesprochenen Worts ein konkretes Beispiel oder eine verschwommene, unklare, echt menschliche Vorstellung eines Baumes zu knüpfen. Die Verbindung zwischen dem Sinneseindruck und ihren Spuren im Bewegungsgefühl ist noch nicht gerissen.

Diese Verbindung reißt aber entzwei, sobald in der schriftlichen Sprache kein Bewegungsgefühl erzeugt wird. Ich weiß natürlich, daß diese Metapher vom Abreißen unrichtig ist, daß sie übertreibt, daß sie die Metapher der Hyperbel ist. Denn wäre die Verbindung tatsächlich zerrissen, so wäre ja die Möglichkeit ausgeschlossen, sich bei der schriftlichen Sprache etwas zu denken, sie wieder in lebendige Sprache zurück zu übersetzen. Es wird also auf eine neue, feinere Verbindung hinauslaufen, die wir mit unserer groben Mikroskopik natürlich nicht nachweisen können. Und die Möglichkeit einer Rückübersetzung in die mündliche Sprache oder in die artikulierte Schriftsprache beweist uns, daß die schriftliche Sprache doch noch nicht den Zusammenhang mit unseren Erkenntnisquellen verloren hat, mit unseren Sinneseindrücken. Diese Möglichkeit, ja die Schnelligkeit, mit welcher eine solche Rückübersetzung unbewußt geschehen kann, erklärt es auch, warum eine literarische Literatur, eine schriftliche Poesie bestehen kann. Die Begabung eines Dichters ließe sich sogar geradezu auf die Formel bringen: sie sei um so größer, je häufiger und schneller der Dichter durch seine Worte den Übergang von der schriftlichen zu der lebendigen Sprache, das heißt zu Vorstellungen hervorrufe.

Mir ist es aber hier vor allem um die schriftliche Sprache zu tun, in der namentlich seit Erfindung der Buchdruckerkunst wissenschaftliche Gedankengänge niedergelegt werden und in der der Schüler die Gedankengänge wieder in sich aufzunehmen sucht. Und da muß es doch einmal gesagt werden, daß bei unserem wissenschaftlichen Betrieb, der phantasielose Dutzendmenschen zu Lehrern und zu Schülern macht, das Bücherschreiben und Bücherlesen zu der unfruchtbarsten Tätigkeit geworden ist. Ich nehme kleine und große Genies unter Lehrern und Schülern aus. Für die ist dann aber auch das Bücherschreiben und Bücherlesen eine außerordentliche Anstrengung, weil das Rückübersetzen der schriftlichen Sprache in vorstellbare Begriffe nicht einen Augenblick unterlassen werden darf. Unsere meisten Kompendien jedoch und deren gedächtnismäßige Aneignung stehen noch tiefer, als der Gebrauch der Sprache durch ihre natürlichen Mängel ohnehin gestellt ist. Wir wissen, daß wir uns auch in der lebendigen Sprache nur des menschheitlichen Erkenntnisschatzes erinnern, daß wir ihn durch die Sprache nicht vermehren können.

In der lebendigen Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit aufgestapelt. Die schriftliche Sprache ist auch Gedächtnis, aber sie erinnert nur in Worten an Worte, in Zeichen an Zeichen, während die lebendige Sprache doch wenigstens in Worten an Sinneseindrücke erinnert. Die schriftliche Sprache, wie sie im wissenschaftlichen Fabriksbetrieb unserer Universitäten vorherrscht, füllt die Köpfe mit Gedächtniskram für die Prüfung. Man achte nur darauf, wie tonlos, stimmungslos, weil vorstellungslos, so ein Dutzendkandidat seine Worterinnerungen herunterleiert. Er hat beim sogenannten Studieren das Wortbild "Baum" immer nur als Wortbild vor sich gesehen, er hat nicht ein einzigesmal vielleicht selbst beobachtet, er hat - in manchen krassen Fällen wird es keine Übertreibung sein - wie ein Papagei auswendig gelernt, bei dem doch wirklich eine Verbindung zwischen dem Wortlaut und der menschlichen Wortentstehung selten existiert. In diesen extremen Fällen ist es auch gleichgültig, daß bei der Prüfung und später im Amt die Rückübersetzung der schriftlichen Sprache in eine mündliche Sprache erfolgt. Denn nur die Übersetzung, welche zu Sinneseindrücken hinüberleitet, ist Rückkehr zu nennen. Die bloß mechanische Verlautbarung der schriftlichen Sprache ist wohl eine Übersetzung, aber keine Rückübersetzung. Es ist eine mündliche Sprache, die aber keine Verbindung mehr hat mit der lebendigen Sprache. Auch gute Lehrer, auch gute Schüler werden in schwächeren Stunden so zu Papageien, wenn sie vorstellungslos schreiben oder lesen. Sie können aber auch in solchen Stunden bei gutem Gedächtnis immer noch ihre gegenseitige Zufriedenheit erwerben.

Ich habe vorhin bemerkt, daß die technischen Ausdrücke unserer Wissenschaften den Charakter von außersprachlichen mathematischen Zeichen haben. Sie gehören vollständig der schriftlichen Sprache an. Jetzt sind wir so weit gekommen, um einzusehen, daß dieser formelhafte Charakter der schriftlichen Sprache überhaupt zugesprochen werden muß. Auch die geläufigsten Begriffe des Alltags werden in der rein schriftlichen Sprache, wie sie in den extremen Fällen gelesen und geschrieben wird, zu technischen Ausdrücken, zu mathematischen Gedankenzeichen. Immer erfordert diese schriftliche Sprache eine doppelte Arbeit: die der Sprache überhaupt und die ihrer Verlebendigung. Mit unheimlicher Gewalt hat sich diese schriftliche Sprache seit einigen Jahrhunderten der gebildeten Leute bemächtigt. In schriftlicher Sprache sind jetzt unsere wissenschaftlichen Bücher und viele Gedichte abgefaßt, auch solche Gelehrtenarbeiten und Poesien, welche die Mühe der Verlebendigung lohnen. In schriftlicher Sprache aber schwatzt man auch schon vorstellungslos und gedankenlos in Gesellschaften und in Zeitungen. Innerhalb der Poesie allein ist seit einigen Jahren eine Bewegung vorhanden, die die lebendige Sprache wieder zu Ehren bringen will, eine Bewegung, welche für revolutionär gilt und sich selbst dafür hält, welche aber im Grunde nichts ist als eine Reaktion gegen die Herrschaft der schriftlichen Sprache. Eine solche revolutionäre Reaktion will neben ihren erkenntnistheoretischen Zielen auch diese Kritik der Sprache sein.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906