p-4p-4W. WundtF. HillebrandK. LamprechtLeontjew/LuriaJ. Eisenmeier    
 
OTTMAR DITTRICH
(1865-1951)
[mit NS-Vergangenheit]
Die Probleme der Sprachpsychologie

"Für Sprachwissenschaft wird es immer eine grundlegende Erkenntnis bleiben müssen, daß die Sprache nicht bloß eine Ausdrucks-, sondern zugleich eine Eindrucksleistung ist, daß Mitteilsamkeit zu ihrem Wesen gehört und daß darum hiervon auch in ihrer Definition nicht abgesehen werden darf."

"Es könnte sinngemäßer scheinen, der individuellen eine soziale Psychologie gegenüberzustellen. Doch würde dieser Name wegen der besonderen Bedeutung, den man dem Begriff Gesellschaft im Unterschied von der staatlichen Gemeinschaft und zum Teil sogar im Gegensatz zu dieser angewiesen hat, leicht zu Mißverständnissen führen."

Jede Wissenschaft, die sich auf ihre Prinzipien und damit auf sich selbst besinnt, bedarf von Zeit zu Zeit einer Revision ihrer Grundbegriffe; sonst bleibt sie unfehlbar hinter gleichzeitigen Entwicklung der anderen Wissenschaften zurück.

Insbesondere gilt dies von den sogenannten Grenzwissenschaften, die gleichsam mit je einem Fuß in zwei größeren Wissenschaftsgebieten stehen; sie sind in besonders hohem Grad auch auf die Gesamtentwicklung des Ganzen gewiesen, dem sie so doppelseitig angehören.

In dieser Lage befindet sich, wie schon ihr Name sagen sollte, auch die Sprachpsychologie: sie bildet einen integrierenden Teil einerseits der Sprachwissenschaft, andererseits der Psychologie, und ihre Grundbegriffe sind darum auch teils in diesem, teils in jenem größeren Gebiet der Wissenschaft verankert.

Aber nicht jedem sagt der Name "Sprachpsychologie" das, was er uns eben gesagt hat. Die meisten vielmehr und darunter gerade solche, die selbst wertvollste Beiträge zu dieser Disziplin geliefert haben, fassen ihn derzeit noch anders auf. Sie sind der Meinung, die Sprachpsychologie sei, das besage ihr genus proximum [nächst höhere Gattung - wp] und ihre differentia specifica [spezifischer Unterschied - wp], nur ein Teil der Psychologie; mit der Sprachwissenschaft, die wesentlich Sprachgeschichte ist, habe sie nur als außenstehende sogenannte Hilfswissenschaft zu tun.

Eine solche, wie wir sagen müssen, einseitige Auffassung ihres Namens bedeutet aber zugleich eine einseitige Auffassung der Aufgabe der Sprachpsychologie und ist somit für ihre gedeihliche Weiterentwicklung keineswegs gleichgültig. Schon rein praktisch nicht. Es wird ihr dadurch von Seiten der Sprachforscher eine Fülle von Interesse entzogen, dessen sie auf die Dauer nicht entraten kann. Es ist ja nur allzu menschlich: Was mir nur gelegentlich hilft, das benutze ich, soweit es mir eben gelegentlich benutzbar scheint, im Übrigen aber ist mir sein Schicksal höchst indifferent, jedenfalls aber berührt es meine vitale Interessensphäre in keiner Weise. Und wer kann es unter diesen Umständen beispielsweise einem Sprachistoriker verargen, wenn er, mit den anscheinend eben nur gelegentliche Hilfe der Sprachpsychologie erfordernden Aufgaben seiner Disziplin vollauf beschäftigt sie nur als ein im übrigen indifferentes Mittel zum Zweck behandelt und sich sonst nicht weiter um sie kümmert? Auf diese Weise geht aber offenbar der Sprachpsychologie nicht nur eine Fülle von Interesse, sondern auch von positiver, höchst ersprießlich werden könnender Mitarbeit der Sprachforscher verloren.

Aber auch an Kritik, die jeder Wissenschaft heilsam ist, entgeht dadurch unserer Disziplin allzu viel. Denn abermals: Wer will es einem Sprachistoriker, der die Sprachpsychologie wie die Psychologie überhaupt nur als gelegentliche außenstehende Hilfswissenschaft ansieht, verargen, wenn er deren ihm autoritativ entgegentretende Lehren en bloc [als Ganzes - wp] oder, was ja noch bequemer ist, in kritikloser Auswahl, eklektisch, einfach hinnimmt? Oder aber: wenn er, psychologisch nur einseitig oder eklektisch geschult, Kritik doch nur auf dieser Basis übt? Auch dies beides muß aber doch offenbar, wird es zu einer Dauererscheinung, allmählich einen geradezu unheilvollen Einfluß auf die Entwicklung nicht nur der Sprachgeschichte, sondern auch der Sprachpsychologie gewinnen.

Und so ist es dann auch durchaus mit Freude zu begrüßen, daß WUNDT, dem wir für die erste, einem modernen Stand der Psychologie und Sprachgeschichte angemessene Darstellung der Sprachpsychologie zu unvergänglichem Dank verpflichtet sind, seine ursprüngliche Auffassung von der gebührenden Stellung der Sprachpsychologie wenigstens prinzipiell geändert hat. Praktisch allerdings ist er ihr - ebenfalls wieder begreiflicherweise - auch bis heute noch treu geblieben. Aber prinzipiell zumindest, wie gesagt, sehen wir ihn schon seit 1901, seit der Schrift "Sprachgeschichte und Sprachpsychologie", nicht mehr auf dem Standpunkt, daß die Sprachpsychologie, wie er in seiner "Völkerpsychologie" gewollt ht, "in erster Linie zur Verwertung der Tatsachen der Sprache für die Psychologie" (1) da ist. Sondern, so spricht er er sich weiter in jener Schrift aus,
    "wo das heute (nämlich in seiner Völkerpsychologie) Gebotene noch Mängel haben sollte, wird der sicherste Weg, diese Mängel zu tilgen, darin bestehen, daß die Sprachwissenschaft selbst sich der Sprachpsychologie als eines ihr von Rechts wegen zukommenden Gebietes annimmt. Denn je mehr es geschieht, daß sich die Eigenschaften des Sprachhistorikers und des Sprachpsychologen in einer Person vereinigen, um so näher werden wir auch dem Ziel kommen, wo die Sprachpsychologie als eine ebenbürtige und unentbehrliche Genossin der Sprachgeschichte anerkannt sein wird."
Nur haben wir daran im Sinne des vorher Gesagten noch eine gewiß auch der Intention von WUNDT entsprechende Modifikation vorzunehmen: Wir verlangen von der Sprachwissenschaft, die dann von selbst zumindest nach einer Seite hin aus dem Rahmen der bloßen Sprachgeschichte heraustreten würde, daß sie sich der Sprachpsychologie als eines auch ihr von Rechts wegen zukommenden Gebietes annimmt.

Denn lauert auf der einen Seite die Gefahr der selbst WUNDT nicht entgangen ist, daß die Tatsachen der Sprache allzu sehr nur für die Psychologie als solche verwertet werden, so würde die Überlassung unserer Disziplin an die Sprachwissenschaft allein zu noch weit unterwünschteren Folgen führen können. Zumindest fehlt es nicht an einem, die Möglichkeiten nach dieser Richtung hin in grellem Licht erscheinen lassenden Beispiel, das auch von WUNDT selbst gelegentlich zum Angriffspunkt berechtigter Kritik gemacht worden ist, und das wir darum auch hier für unseren Zweck etwas ausführlicher behandeln wollen.

BERTHOLD DELBRÜCK hat in seinen, ihrerseits die Darstellung WUNDTs in wesentlichen Punkten kritisierenden "Grundfragen der Sprachforschung" (1901 die Ansicht geltend gemacht, die Alternative "STEINTHAL-WUNDT" oder "HERBART-WUNDT" sei eine rein praktische Frage, nämlich die, "ob einem Sprachforscher, der etwa von STEINTHAL zu WUNDT (oder von HERBART zu WUNDT) übergehen wollte, nicht an irgendeinem Punkt seines wissenschaftlichen Betriebes aus der neuen Lehre ernsthafte Schwierigkeiten erwachsen würden". "Geraten wir nicht", fährt er dann fort (2),
    "so könnte ein Anhänger Paul fragen, in Bedrängnis, wenn wir die ganze Anschauung von den im Umbewußten vorhandenen Einzelvorstellungen, Reihen und Systemen aufgeben, welche uns doch in der Sprachwissenschaft nachweislich so gute Dienste leisten? Diese Besorgnis wäre unbegründet. In der Praxis leisten nämlich dem Sprachforscher der Wundtsche dunklere Teil des Bewußtseins und die Anlagen ungefähr (man bemerke dieses ungefähr!) dasselbe wie der dunkle Raum des Unbewußten mit seinen aufbewahrten Gebilden in der früheren Anschauung. Das sei an zwei einfachen Beispielen gezeigt. Wenn wir uns auf einen Namen besinnen und ihn nach manchmal qualvollem Suchen endlich finden, so merken wir - sagt Herbart -, wie die im Unbewußten weilende Vorstellung sich dort langsam und unter Hindernissen hebt, vielleicht auch wieder zurücksinkt, dann aber plötzlich ins Bewußtsein tritt. Bei Wund aber heißt es: «Beim Besinnen auf eine entschwundene Sache ist häufig neben dem regelmäßig vorhandenen Spannungsgefühl der spezielle Gefühlston der vergessenen Vorstellung schon lebhaft gegenwärtig, während sie selbst noch im dunklen Hintergrund des Bewußtseins weilt.» (3) Wir Sprachforscher reden von einem bestimmten Deklinations-, Konjugations-, Vorstellungsschema, dessen tatsächliches Vorhandensein in der Seele wir daran merken, daß unser Sprachgefühl gegen jede einmal versuchte Abweichung reagiert. WUNDT aber sagt: «Wir tragen gewissermaßen paradigmatische Vorstellungsreihen als latente Kräfte in uns, deren Latenz [Vorhandensein einer Sache, die noch nicht in Erscheinung getreten ist - wp] aber darin besteht, daß sie uns nicht, wie die Paradigmen der wirklichen Grammatik, in Gestalt bestimmter einzelner Vorstellungen gegeben sind, sondern daß sie nur in der Form elementarer funktioneller Anlagen in uns liegen, von denen jeweils diejenigen aktuell werden, die durch die gegebene Bewußtseinslage begünstigt sind.» (4) Man sieht: für den Praktiver läßt sich mit beiden Theorien leben."
Es mag wohl sein, daß dies für den "Praktiker" zutrifft, dem der dunklere Teil des Bewußtseins und die Anlagen WUNDTs "ungefähr" dasselbe leisten wie der dunkle Raum des Unbewußten mit seinen aufbewahrten Gebilden des HERBART-STEINTHALschen psychologischen Systems. Aber der Theoretiker, zu dem der Sprachforscher eben als solcher, wenn er es nicht schon ist, doch einmal werden muß, sobald er sich mit Sprachpsychologie, Sprachphysiologie und anderen theoretischen, nicht historischen Teilen seiner Wissenschaft abgibt? Dieser wird doch die tiefen Unterschiede nicht zu verkennen imstande sein, die unter der oberflächlichen Vergleichung DELBRÜCKs verborgen liegen. Er wird im Beispiel von der Besinnung den fundamentalen Gegensatz der HERBART-STEINTHALschen Vorstellungsmechanik gegen die voluntaristisch-emotionale Grundauffassung WUNDTs ausgeprägt finden. Im Beispiel von den paradigmatischen Vorstellungsreihen wird er dies, daß WUNDT kurz vorher (5) sagt, eine Assoziation findet überhaupt nicht zwischen Vorstellungen, sondern nur zwischen Vorstellungselementen statt, mit den von WUNDT behaupteten elementaren funktionellen Anlagen zusammenhalten, und es wird ihm als das ungleich Wesentlichere und WUNDT wieder sehr dezidiert von HERBART Scheidende erscheinen. Kurz: man wird WUNDT darin beistimmen müssen, daß, da doch schließlich nur die eine oder andere dieser Lehren wahr sein kann, DELBRÜCKs Indifferentismus in letzter Konsequenz immerhin sehr nahe an die bedenkliche Lehre von der doppelten Wahrheit streift. (6)

Dabei wird es aber natürlich keinesfalls sein Bewenden haben dürfen. Sondern man wird sich ernsthaft die Frage vorlegen müssen, wie es zu vermeiden ist, daß derlei Versuche, mit "ungefähren" und "für die Praxis ausreichenden" Übereinstimmungen zu arbeiten, in der Wissenschaft fürderhin noch eine Stelle finden.

Uns scheint dazu einzig der schon vorher angedeutete Weg gangbar: Man sehe die Sprachpsychologie nicht einseitig entweder nur als eine der Psychologie zugehörige oder aber als eine an die Sprachwissenschaft von der Psychologie abzutretende Disziplin an, sondern als eine echte und rechte Grenzwissenschaft, die einerseits an der Sprachwissenschaft, andererseits an der Psychologie Anteil hat. Denn dann und nur dann wird man sich auch veranlaßt sehen, an den Vertreter dieser Wissenschaft ganz bestimmte, auch über die Forderung WUNDTs der Personalunion von Sprachhistoriker und Sprachpsychologen noch hinausgehende Anforderungen zu stellen, die sich kurz folgendermaßen formulieren lassen.

Erstens: Im Hinblick auf die spezifisch psychologische Seite seiner Aufgabe wird der Sprachpsychologe schon als Sprachforscher nicht nur Sprachhistoriker im heutigen Sinn des Wortes bleiben dürfen. Als solcher wäre er wesentlich nur "historischer Grammatiker", und dies ist unzulänglich. Wir müssen in dieser Hinsicht durchaus der Forderung von PAUL KRETSCHMER beistimmen, daß die Tendenz der Sprachgeschichte über die Grammatik hinaus in letzter Linie auf den Zusammenhang der Sprache mit der gesamten geistigen Entwicklung der Nationen, wir würden noch allgemeiner sagen: der Menschheit zu gehen hat (7). Aber indem dieser Tendenz nachgegeben wird, tritt zugleich notwendig die Forderung auf, daß der Sprachhistoriker in Personalunion mit nichthistorischen Wissenschaften wie theoretischer Ethnologie, Anthropogeographie, Soziologie, Kulturwissenschaft im allgemeinen, insbesondere auch Philosophie eintritt, wie ihm die Personalunion mit der Physiologie zumindest im Sinne der Phonetik ja längst natürlich ist. Auf diese Art aber kann es schließlich auch nicht ausbleiben, daß er auch die nichthistorischen Disziplinen der Sprachwissenschaft, wie Sprachethnologie, -anthropogeographie usw., zumindest keimhaft mit anzulegen hilft. Und er wird so zumindest der Tendenz nach und es alles selbst fordernd, endlich den ganzen weiten Kreis dessen umspannen, was uns als Sprachwissenschaft in einem zulänglichen Sinn des Wortes, zunächst noch mit Ausschluß der Sprachpsychologie selbst, vorzuschweben hat (8).

Soll aber außerdem zweitens auch die Sprachpsychologie in diesen wissenschaftlichen Organismus eingefügt und in der gebührenden Weise gefördert werden, so kann dies - analoge Forderungen werden auf für die Sprachethnologie usw. zu stellen sein - nur folgendermaßen geschehen. Der Sprachpsychologe, auf der einen Seite Sprachforscher in dem eben angebenen Umfang, wird auf der anderen Seite auch fachmäßig geschulter und selbständig forschender Psychologe sein und als solcher seinen Kreis ebenfalls so weit wie möglich spannen müssen, damit zugleich auch seine ursprüngliche sprachhistorische Enge noch vollends überwindend: Er wird, um die Möglichkeit allseitiger Erfüllung seiner Aufgabe zu besitzen, darauf gewiesen sein, nicht nur die allgemein- und gemeinpsychologischen, sondern auch die differential- und pathopsychologischen sowie die kinder- und tierpsychologischen Probleme aus eigener Anschauung zu kennen und nötigenfalls auch selbstforschend zu fördern.

Daß unter diesen Umständen von Alternativen wie "HERBART-WUNDT" oder "STEINTHAL-WUNDT" nicht mehr die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Der auch als Psycholog selbständig arbeitende Sprachforscher, insbesondere Sprachpsychologe wird niemals - er wäre ja sonst nicht Forscher - in die Lage kommen, das eine oder andere psychologische System en bloc anzunehmen. Er wird sich, wie dies beispielsweise auch schon von STEINTHAL geschehen ist, sein System unter Umformung sogar des ihm nächstverwandten bestehenden Systems selbst erarbeiten. So ist es, um nur noch ein weiteres Beispiel heranzuziehen, auch mir selbst in der "Allgemeinpsychologischen Grundlegung" meiner "Grundzüge der Sprachpsychologie" ergangen, und hätte ich sie heute, nach zehn Jahren, noch einmal zu schreiben, so würden die inzwischen erarbeiteten Abweichungen von WUNDT und von meiner eigenen damaligen Darstellung unzweifelhaft noch beträchtlicher ausfallen, als es schon jene Abweichungen von WUNDT waren.

Aber auch für die Sprachpsychologie als solche ergibt sich daraus, daß der Sprachpsychologe - hier wendet sich also das Blatt - nicht nur Psychologe, sondern auch Sprachforscher zu sein hat, eine erhebliche Selbständigkeit gegenüber der sonstigen Psychologie.

Ein Beispiel mag dies, uns zugleich schon in die konreten Probleme der Sprachpsychologie hineinführend, klar machen.

Die Sprache wird bekanntlich von Psychologen nahezu übereinstimmend als "Ausdrucksbewegung" definiert und es ist keineswegs ein Sonderfall dieser Zuordnung zu allgemeineren psychophysischen Tatsachen, wenn z. B. wiederum WUNDT seine sprachpsychologischen Erörterungen so beginnt:
    "Die psychophysischen Lebensäußerungen, denen die Sprache als eine besondere, eigenartig entwickelte Form zugezählt werden kann, bezeichen wir ihrem allgemeinen Begriffe nach als Ausdrucksbewegungen. Jede Sprache besteht in Lautäußerungen oder in anderen sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die, durch Muskelwirkungen hervorgebracht, innere Zustände, Vorstellungen, Gefühle, Affekte, nach außen kundgeben." (9)
Dies ist aber eine vom Standpunkt der Sprachwissenschaft durchaus nicht zu rechtfertigende Auffassung. Für diese, die Sprachwissenschaft nämlich, wird es vielmehr immer eine grundlegende Erkenntnis bleiben müssen, daß die Sprache nicht bloß eine Ausdrucks-, sondern zugleich eine Eindrucksleistung ist, daß Mitteilsamkeit zu ihrem Wesen gehört und daß darum hiervon auch in ihrer Definition nicht abgesehen werden darf.
    "In der Erscheinung", so heißt es in dieser Hinsicht bei Wilhelm von Humboldt, "entwickelt sich ... die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an anderen versuchend geprüft hat." (10)
Und noch deutlicher bei STEINTHAL:
    "Tatsächlich stattgehabte, obwohl gar nicht beabsichtigte, Äußerung durch einen erpreßten Ruf, Verständnis desselben durch den Hörenden, und infolge der Beobachtung des Erfolgs auch durch den Rufenden: dies erzeugt Sprache, dies ist die Konzeption derselben, die Apperzeption des Lautes als eine bedeutungsvollen, mitteilbaren. So befestigt sich der Drang und erhebt sich allmählich die Absicht zur Mitteilung. Demnach ist es schon uranfänglich keine bloße Assoziation des Reflexlautes mit der Wahrenehmung, worauf Sprache beruth; sondern diese rein mechanisch sich vollziehende Assoziation wird durch den Überblick über die ganze Reihe: Wahrnehmung, daran geknüpfter Wunsch, aus beiden entspringender Laut, Wirkung desselben auf den Hörenden, und andererseits: gehörter Laut, Achtung auf den Rufenden, Umblick über die Lage der Sache und Personen, Vermutung über den Wunsch des Rufenden und Bestätigung dieser Vermutung durch den Erfolg des demnach eingerichteten Benehmens, nämlich die Befriedigung beider, - durch die beiderseitige Überschau dieser beiden Reihen, sage ich, wird die Assoziation apperzipiert. Damit hat aber einer den anderen apperzipiert, sich in dessen Bewußtsein gesetzt und das Bewußtsein des anderen in sich gesetzt. Nicht bloß Objektives ist gedeutet, wie in der Wahrnehmung eines Dings geschieht, sondern Subjektives. An der Deutung des Lautes erwacht die Deutung des Subjekts, sowohl des anderen als seiner selbst." (11)
Oder schließlich, in Form der seinerzeit von mir selbst aufgestellten Definition gefaßt:
    "Sprache ist die Gesamtheit aller jemals aktuell gewordenen bzw. aktuell werden könnenden Ausdrucksleistungen der menschlichen bzw. tierischen Individuen, insofern sie von mindestens einem anderen Individuum zu verstehen gesucht werden (können)." (12)
Diese, wie man sieht, zunächst nur autoritativ gestützte Definition der Sprache zu begründen und gegen naheliegende Einwände zu verteidigen, dazu wird später noch Gelegenheit sein. Vorläufig ist es uns nur von Wichtigkeit, ihre, ihr gleichzeitig mehr als Beispiels-, ja geradezu fundamentalen Wert verleihenden Konsequenzen für den psychologischen Sondercharakter und das System der Sprachpsychologie zu verfolgen.

Was erstens diesen psychologischen Sondercharakter angeht, so ist es ja bekanntlich auch in den Kreisen der Sprachforscher, wenn man nicht auf unzeitgemäße Anhänger der PAULschen Polemik dagegen (13) reflektieren will, längst gang und gäbe geworden, die Sprachpsychologie als einen Teil der sogenannten Völkerpsychologie anzusehen. Und in der Tat scheint es, als könne man sich dieser Einordnung gerade um der soeben gemachten Auffassung der Sprache willen in keiner Weise entziehen, ohne zugleich in jene Art Polemik zurückzufallen und schlechthin zu behaupten, was an der Sprachentwicklung
    "psychisch ist, vollzieht sich innerhalb der Einzelseele nach den allgemeinen Gesetzen der individuellen Psychologie; all das aber, wodurch die Wirkung des einen Individuums auf das andere ermöglicht wird, ist nicht psychisch." (14)
Aber ein solcher Rückfall ist keineswegs nötig. Man kann sehr wohl der Ansicht sein, Sprachpsychologie fällt nicht unter Völkerpsychologie, ohne darum behaupten zu müssen, sie seit ein Teil der Individual- oder besser gesagt der Allgemeinpsychologie, d. h. jenes Zweiges der Psychologie, dem nur die jedem normalen Individuum als solchem, ohne Sondergemeinschaft mit anderen Individuen, eignenden psychischen Tatsachen zur Erforschung zufallen. Ebenso wie man ganz wohl mit HERMANN PAUL der Ansicht sein kann, daß all das, wo durch die Wirkung eines Individuums auf das andere ermöglicht wird, nicht psychisch ist, ohne darum die Völkerpsychologie als eine Art Gemeinpsychologie, der gerade die nur aus der Sondergemeinschaft von Individuen erwachsenden psychischen Tatsachen zur Erforschung zufallen, perhorreszieren [ablehnen - wp] müssen.

Denn es ist ja ganz klar: Selbst wenn - was übrigens auch vom derzeitigen Vertreter der Völkerpsychologie, WUNDT, bereitwillig anerkannt wird -
    "die geistigen Erzeugnisse, die durch das Zusammenleben der Glieder einer Volksgemeinschaft entstehen ... allerdings nichts sind, was jemals außerhalb individueller Seelen vor sich gehen könnte" (15),
so bleibt es darum nicht weniger richtig, daß, wie es an der angeführten Stelle weiter heißt,
    "die Volksseele im empirischen Sinne nicht aus einer bloßen Summe individueller Bewußtseinseinheiten besteht, deren Kreise sich mit einem Teil ihres Umfangs decken. Sondern auch bei ihr resultieren aus dieser Verbindung eigentümliche psychische und psychophysische Vorgänge, die im Einzelbewußtsein allein entweder gar nicht oder zumindest nicht in der Ausbildung entstehen könnten in der sie sich infolge der Wechselwirkung der Einzelnen entwickeln."
Warum also, darf wohl jetzt endlich gefragt werden, widersetzen wir uns trotzdem der unbedingten Einordnung der Sprachpsychologie in die Völkerpsychologie, wenn doch von dieser anscheinend allen Anforderungen Rechnung getragen wird, die auch wir selbst an einem Hauptteil der Psychologie stellen müssen, der der Sprachpsychologie als einer seiner Unterdisziplinen direkt überzuordnen wäre?

WUNDT selbst hat den Bedenken die wir in dieser Hinsicht hegen, zum Teil bereits Ausdruck gegeben, wenn er (16) sagt:
    "Indem auf diese Weise die Völkerpsychologie den Menschen in all den Beziehungen, die über die Grenze des Einzeldaseins hinausführen, und die auf die geistige Wechselwirkung als ihre allgemeine Bedingung zurückweisen, zum Gegenstand ihrer Untersuchungen nimmt, bezeichnet nun freilich jener Name nur unvollständig und einseitig den Inhalt dieser Wissenschaft. Der Einzelne ist nicht bloß Mitglied einer Volksgemeinschaft. Als nächster Kreis umschließt ihn die Familie; und durch den Ort, den Geburt und Lebensschicksal ihm anweisen, durch Beruf und Beschäftigung, durch Neigungen und Interessen befindet er sich in noch anderen, mannigfach sich durchkreuzenden Verbänden, deren jeder wieder von der erreichten besonderen Kulturstufe mit ihren jahrtausende alten Errungenschaften und Erbschaften abhängt. All das wird durch den Ausdruck Völkerpsychologie natürlich nur unvollkommen angedeutet, und es könnte darum sinngemäßer scheinen, der individuellen eine soziale Psychologie gegenüberzustellen. Doch würde dieser Name wegen der besonderen Bedeutung, den man dem Begriff Gesellschaft im Unterschied von der staatlichen Gemeinschaft und zum Teil sogar im Gegensatz zu dieser angewiesen hat, leicht zu Mißverständnissen führen. Auch ist das Volk jedenfalls der wichtigste der Lebenskreise, aus denen die Erzeugnisse gemeinsamen geistigen Lebens hervorgehen. Wir werden daher die Bezeichnung Völkerpsychologie hier umso mehr beibehalten können, als sie in einem der hier angewandten annähernd entsprechenden Sinne nun einmal eingeführt ist."
Aber diese Bedenken, die übrigens WUNDT, wie man sieht, nicht allzu tragisch nimmt, und die auch wir, wären sie die einzigen, die sich geltend machen lassen, nicht allzu tragisch nehmen wrden, erschöpfen den Kreis dessen nicht, was sich gegen die a-potiori [der Hauptsache nach - wp] Verwendung des Ausdrucks "Völkerpsychologie" sagen läßt. Dabei bleibt vielmehr gerade das Bedenken noch ungenannt, welches uns, und nicht nur von unserem sprachpsychologischen Standpunkt aus, sondern überhaupt als das Hauptbedenken dagegen erscheinen möchte, die "Völkerpsychologie" als ein einwandfreies Korrelat zur Individual- oder besser Allgemeinpsychologie gelten zu lassen.

Alle diese Kreise und Verbände, in die der Einzelne zufolge "Jahrtausende alter Errungenschaften und Erbschaften" hineingestellt ist, Familie und Volk, Berufs- und Beschäftigungs-, Neigungs- und Interessenkreis und -verband bedeuten, so geltend gemacht, immerhin noch mehr oder weniger große Massen von Individuen und "Massenpsychologie", ein Ausdruck, der von GUSTAVE Le BON (17) in einem engeren Sinn gebraucht worden ist, wäre darum gar keine so unebene Bezeichnung für die in Rede stehende Art Psychologie. Offenbar wird damit zugleich zweierlei allzu einseitig betont: einmal die Jahrtausende alte Bedingtheit derartiger Massen und ihrer Wirkungen auf den Einzelnen, der so allzusehr als deren passives, kaum einer eigenen Aktion fähiges psychisches Produkt erscheint; sodann aber auch, insbesondere wiederum durch den Ausdruck "Völkerpsychologie", die größere Masse, wodurch die Minimalbedingung der Gemeinschaft, die Zweiheit der Individuen, die daran beteiligt sind, nahezu zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt wird.

Beides jedoch, einerseits die historisch-passivistische Betonung der Massenfunktion, andererseits die massenfunktionistische Zurückdrängung der Minimalbedingung insbesondere der sprachlichen Gemeinschaft, ruft zusammen unser, wie gesagt, Hauptbedenken gegen die Einordnung der Sprachpsychologie in die Völkerpsychologie hervor, und wir haben nur noch vollends kurz zu begründen, warum. Dabei wird sich übrigens, nebenbei bemerkt, ungezwungen auch gleich unser System der Sprachpsychologie ergeben.

Eine historistisch-passivistische Betonung der Massenfunktion haben wir es genannt, wenn die Jahrtausende alte Bedingtheit von Massen und deren Wirkungen auf den Einzelnen als prinzipielle allgemeine Bedingung für das Zustandekommen spezielle auch von Sprache hingestellt wird. Und wir begründen unsere Ablehnung dieser Auffassung damit, daß dadurch die prinzipielle Möglichkeit des Entstehens von Sprache als Verständigung auch schon zwischen nur zwei Individuen von vornherein ausgeschlossen wird. Diese Möglichkeit aber besteht doch unzweifelhaft, wenn man dabei auch nicht gerade an Adam und Eva im Paradies zu denken braucht, und just, wenn man dabei nicht an jene beiden denkt. Sie besteht jederzeit, wo eine parallele psychophysische Organisation von nur zwei Individuen gegeben ist, und es ist nicht einzusehen, weshalb dazu außerdem eine Jahrtausende alte Massengemeinschaft, aus der die beiden Individuen herausgewachsen wären und unter deren unmittelbar bestimmenden Einfluß sie auch im Augenblick der Sprachbildung stünden, nötig sein sollte. Verständigen sich die beiden untereinander, so brauchen sie dazu weder die sie sonst umgebende Masse gleichorganisierter Individuen noch eine Masse, die vor ihnen dagewesen ist, am wenigsten schon Jahrtausende lang, sondern sie genügen einander selbst, und das Zwiegespräch oder der von einem ausgestoßene und vom andern verstandene Ruf bleiben immer eine sprachliche Leistung, deren Möglichkeit in diesem Fall durchaus nur an die Zweiheit, keineswegs an eine Vielheit von Individuen gebunden ist.

Dies also, was übrigens ohne Zwang auch schon aus einer früher angeführten Äußerung STEINTHALs herausgelesen werden kann, steht wohl nunmehr ohne jeden Zweifel fest: Zweiheit von Individuen ist zur Entstehung von Sprache eine unerläßliche Bedingung, Vielheit oder Massen von Individuen dagegen nicht, und dies steht ganz im Einklang mit meiner oben gegebenen Definition: "Sprache ist die Gesamtheit aller jemals aktuell gewordenen bzw. aktuell werden könnenden Ausdrucksleistungen der menschlichen bzw. tierischen Individuen, insofern sie von mindestens einem anderen Individuum zu verstehen gesucht werden (können)."

Dadurch leuchtet aber wohl auch ohne weiteres Folgendes ein: Erstens: Der bereits früher im Vorbeigehen von mir gebrauchte und auch von mir selbst ursprünglich (18) geprägte Ausdruck Gemeinpsychologie scheint uns, da er die Gemeinschaft zweier sowohl als beliebig vieler Individuen umspannt und gar nichts über die Art der Gemeinschaft präjudiziert, geeigneter als "Völkerpsychologie", um die Oberdisziplin innerhalb der Psychologie zu kennzeichnen, der die Sprachpsychologie zunächst unterzuordnen ist. Ausdrücke wie "Gemeinleben, Gemeinwille, Gemeineigentum, Gemeingeist, Gemeinveranstaltung, Gemeinwirtschaft, gemeinwirtschaftlich", die neuerdings in Werken über "Volkswirtschaft" und "Politik" gewissermaßen zur teilweisen Korrektur dieser Titel auftauchen, machen, sämtlich auch schon auf eine Zweiheit von Individuen anwendbar, vollends deutlich, was mit jener Bezeichnung "Gemeinpsychologie" gesagt sein soll und schlagen vielleicht auch uns gelegentlich geäußerte ästhetische Bedenken dagegen nieder.

Gar nicht mehr lange davon zu reden also, daß der Terminus "Gemeinpsychologie" sich als Korrelat zur Bezeichnung "Allgemeinpsychologie" (anstelle von "Individualpsychologie") offensichtlich besser empfiehlt als "Völkerpsychologie", wird es schon so endgültig deutlich: Die Sprachpsychologie ist, ganz ebenso wie eine richtig, d. h. nur mit Rücksicht auf den besonderen Gemeinschaftskreis "Volk", "Nation", eine abgegrenzte Völkerpsychologie, als ein Teil der Gemeinpsychologie anzusehen, und diese ihrerseits bildet zusammen mit der Allgemeinpsychologie, Differentialpsychologie, Pathopsychologie usw. das Ganze der Psychologie.

Unter diesen Umständen drängt sich jedoch abermals die mögliche Nur-Zweiheit aber doch Mindestens-Zweiheit von Individuen als psychologische Grundbedingung der Sprache gebieterisch unserer Beachtung auf und führt uns zugleich endlich zu den fundamentalen Konsequenzen, die wir daraus für das System der Sprachpsychologie zu ziehen haben und zu diesem System selbst.

Daß es sich dabei in der Tat um fundamentale Konsequenzen handelt, möge man vor allem aus folgendem ermessen.

Zu der oben wiederholt angeführten Definition der Sprache steht in direktestem Bezug, so daß aus ihr geradezu jene Sprachdefinition abgeleitet werden kann, eine Definition des sprachlichen konkreten Grundgebildes, das man als "Satz" zu bezeichnen pflegt,, eine Satzdefinition also, die, von mir seit 1902, in ihrem Kerngedanken unverändert, immer wieder vertreten, in ihrer letzten allgemeinsten Fassung folgendermaßen lautet:
    "Ein Satz ist ein modulatorisch abgeschlossenes Ausdruckszeichen, wodurch der Empfänger einer sprachlichen Mitteilung (kurz: der Angesprochene) veranlaßt wird, eine vom Sprechenden als richtig anerkennbare relativ abgeschlossene subjektiv-prädikative Giederung eines Bedeutungstatbestandes zu versuchen."
Der darin enthaltene Kerngedanke, daß zu jeder konkretesten sprachlichen Leistung mindestens zwei Individuen, ein Sprecher und ein Angesprochener (mit Bezug auf die Lautsprache insbesondere: ein Hörender) nötig sind - ein Kerngedanke übrigns, der, wie wir oben gesehen haben, in der Sprachwissenschaft durchaus nicht so neu ist -, hat aber durch WUNDT von der zweiten Auflage seiner Völkerpsychologie, also von 1904 an, Widerspruch erfahren. Und zwar begründet WUNDT seinen auch direkt gegen die obige Satzdefinition gerichteten Widerspruch speziell mit Bezug auf die Lautsprache kurz so:
    "Ich halte", sagt er an der hierfür in Betracht kommenden Stelle (19), "die Aufnahme des Hörenden wie die der Anerkennung einer richtigen Bedeutung für unzulässige Verengungen des (Satz-)Begriffs. Mag immerhin zur ersten Entstehung von Sätzen der Lautsprache das Zusammenwirken von Sprechendem und Hörendem psychologisch unerläßlich sein, nachdem einmal das sprechende Denken da ist, bleibt es nicht an diese Bedingung gebunden; und eine allgemeine Satzdefinition muß auf den im einsamen Denken gebildeten Satz ebenso wie auf den in der Unterredung entstehenden anwendbar sein. Nicht weniger scheint mir in der Anerkennung der Richtigkeit eine erkenntnistheoretische Bedingung zu leigen, die für den Satz als psychologisches Gebilde unzulässig ist."
Dem ersten Einwand bin ich bereits 1903, in meinen "Grundzügen der Sprachpsychologie", von vornherein begegnet, indem ich dort (Bd. I, § 87) sagte:
    "Daß bei Anwendung der Sprache im stillen Denken kein anderes Individuum als Empfänger da sei, ist natürlich nicht richtig: man macht sich dann eben selbst mittels der Sprache etwas klar, und Geber und Empfänger sind in einer Person oszillativ vereinigt."
Und es bedarf angesichts dessen kaum der Bemerkung, daß so selbst dieser sprachliche Sonder- und Ausnahmezustand für die Richtigkeit unserer Grundauffassung vom Mitteilsamkeitswesen der Sprache Zeugnis ablegt. Es muß also dabei bleiben, daß, wie schon weiter oben geltend gemacht wurde, die Sprache wesentlich nicht bloß Ausdrucks-, sondern zugleich Eindrucksleistung, und zwar von Individuum zu Individuum, von Sprechendem zu Angesprochenem sei, und es kann darum auch aus der Satzdefinition der Anteil des Angesprochenen keinesfalls eliminiert werden.

Was ber den zweiten von WUNDT gemachten Einwand betrifft, daß in der "Anerkennung der Richtigkeit" eine erkenntnistheoretische Bedingung zu liegen scheint, die für den Satz als psychologisches Gebilde unzulässig ist, so weist dieser Einwand besser vielleicht als irgendeine positive Begründung unsererseits es tun könnte, gerade auf die fundamentale Lücke hin, die im System der Sprachpsychologie entsteht, sobald man sich diese nicht sowohl spezifisch erkenntnistheoretische, sondern vielmehr auch eminent gemein- und sprachpsychologische Bedingung nicht in ihrer vollen Wichtigkeit vor Augen hält.

Denn es fällt damit, d. h. wenn man die sprachpsychologische Wichtigkeit dieser Bedingung verkennt, nichts weniger als das ganze Problem des Sprachverständnisses und der Spracherlernung von Seiten des Angesprochenen sowie das Zentralproblem der dem Sprechenden und Angesprochenen gemeinsamen Bedeutung des Gesprochenen aus dem Kreis der sprachpsychologischen Problem, die wir von unserer nun wohl zur Genüge gekennzeichneten Grundauffassung aus als die mindestens gegenwärtig allerwichtigsten Probleme der Sprachpsychologie bezeichnen müssen, und die wir zusammen - es sind deren, beiläufig bemerkt, noch mehr - als deren phylontogenetische Probleme bezeichnen wollen (20); "phylontogenetische" darum, weil, wenn auch am sprachlichen Grundphänomen prinzipiell nur je zwei Individuen beteiligt zu sein brauchen, dabei doch offenbar bereits der Keim zur Beteiligung einer größeren Masse (einer Schar, phylon) von Individuen gelegt wird, aber andererseits auch immer noch deutlich die Wirsamkeit des Einzelindividuums (on) ersichtlich ist.

Ergänzend müssen wir aber auch gleich noch hinzufügen: Es befindet sich dabei, indem der sprachliche Eindruck vom Ausgesprochenen aufgenommen und von ihm so zu deuten versucht wird, daß diese Deutung ein relatives Verständnis des Gesprochenen darstellt, der Angesprochene offenbar in einer augenblicklichen Abhängigkeit von der sprachlichen Leistung des ihn Ansprechenden, also allgemein: des Sprechenden. Denn nur so wird auch wenigstens vorläufig deutlich, was unter diesen Umständen mit einer weiteren, zweiten wichtigen Reihe von Problemen der Sprachpsychologie auf sich hat, nämlich mit deren ontogenetischen Problemen.

Ist es nämlich auch, wie wir gesehen haben, durchaus richtig, daß sich der Angesprochene im Hinblick auf sein Verständnis des Gesprochenen in einer augenblicklichen Abhängigkeit vom Sprechenden befindet und begründet sich hauptsächlich darauf das phylontogenetische Verhältnis der beiden, so ist darum doch auch folgendes nicht weniger richtig: Alles Sprechen ist insofern ein rein ontogenetischer, also dem Einzelindividuum als solchem zukommender Akt, als der Sprechende, um etwa einen Satz oder ein Wort zu bilden, zunächst keinerlei sprachlicher Nachhilfe von Seiten des Angesprochenen bedarf und daher also von diesem sprachlich augenblicklich unabhängig zu denken ist. Satz- und Wortbildung des Sprechenden also sind in diesem Sinne wesentlich ontogenetische Probleme der Sprachpsychologie.

Und schließlich drittens wird man als phylogenetische Probleme diejenigen Aufgaben der Sprachpsychologie anzusehen haben, welche die natürlich auch von mir nicht etwa zu leugnenden, sondern im Gegenteil als ein außerordentlich wichtiger Faktor der Sprachentwicklung anzuerkennenden Massenwirkungen, also Wechselwirkungen größerer oder kleinerer die Zweiheit übersteigenden Massen von sprechenden Individuen betreffen. Und hier kommen dann freilich auch die unter Umständen Jahrtausende alten kulturellen und sonstigen Voraussetzungen solcher Massenfunktionen zu ihrer gebührenden Geltung, ohne daß, sind nur zuvor jene anderen Problemreihen, die phylontogenetische und ontogenetische, hinreichend anerkannt und für sich bearbeitet, noch die Gefahr einer einseitigen historistisch-passivistischen Bevorzugung dieser letzten vor jenen beiden ersten Problemreihen bestünde.
LITERATUR Ottmar Dittrich, Die Probleme der Sprachpsychologie und ihre gegenwärtigen Lösungsmöglichkeiten,Leipzig 1913
    Anmerkungen
    1) WILHELM WUNDT, Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Seite 4; das folgende Zitat Seite 110.
    2) BERTHOLD DELBRÜCK, Grundfragen der Sprachforschung, Seite 42f
    3) WUNDT, Grundriß der Psychologie, dritte Auflage, Seite 257
    4) WUNDT, Völkerpsychologie, erste Auflage, Bd. I, Seite 464
    5) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 462
    6) WUNDT, Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Seite 17
    7) Vgl. PAUL KRETSCHMER, Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache, 1896, Seite 4f.
    8) Vgl. dazu DITTRICH, "Grundzüge der Sprachpsychologie", Bd. I, 1903, § 88f und "Die Grenzen der Sprachwissenschaft", 1905.
    9) WUNDT, Völkerpsychologie I, dritte Auflage, Seite 43
    10) WILHELM von HUMBOLDT, Sprachphilosophische Werke, 1848, Seite 281f (hg. von STEINTHAL).
    11) STEINTHAL, Abriß der Sprachwissenschaft, Bd. I, zweite Auflage, 1881, Seite 374f.
    12) DITTRICH, Grundzüge der Sprachpsychologie, Bd. I, § 86.
    13) HERMANN PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, zweite Auflage, 1886, Seite 13 und so unverändert bis zur vierten Auflage 1909 und wohl, nach PAULs sonstiger Art, von ihm aus unwiderruflich.
    14) PAUL, a. a. O., Seite 13.
    15) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 9
    16) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 1f
    17) GUSTAVE Le BON, Psychologie es foules, sechste Auflage 1911
    18) DITTRICH, Grundzüge der Sprachpsychologie I, § 3.
    19) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 246
    20) Vgl. dazu und zum Folgenden meine "Grundzüge der Sprachpsychologie", Bd. I, § 143, Anm., und meinen Aufsatz über "Sprachwissenschaft und Psychologie" in Germ.Roman. Monatsschrift II, 1910, Seite 631f.