![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
||||
(1865-1951) [mit NS-Vergangenheit] Die Probleme der Sprachpsychologie
Jede Wissenschaft, die sich auf ihre Prinzipien und damit auf sich selbst besinnt, bedarf von Zeit zu Zeit einer Revision ihrer Grundbegriffe; sonst bleibt sie unfehlbar hinter gleichzeitigen Entwicklung der anderen Wissenschaften zurück. Insbesondere gilt dies von den sogenannten Grenzwissenschaften, die gleichsam mit je einem Fuß in zwei größeren Wissenschaftsgebieten stehen; sie sind in besonders hohem Grad auch auf die Gesamtentwicklung des Ganzen gewiesen, dem sie so doppelseitig angehören. In dieser Lage befindet sich, wie schon ihr Name sagen sollte, auch die Sprachpsychologie: sie bildet einen integrierenden Teil einerseits der Sprachwissenschaft, andererseits der Psychologie, und ihre Grundbegriffe sind darum auch teils in diesem, teils in jenem größeren Gebiet der Wissenschaft verankert. Eine solche, wie wir sagen müssen, einseitige Auffassung ihres Namens bedeutet aber zugleich eine einseitige Auffassung der Aufgabe der Sprachpsychologie und ist somit für ihre gedeihliche Weiterentwicklung keineswegs gleichgültig. Schon rein praktisch nicht. Es wird ihr dadurch von Seiten der Sprachforscher eine Fülle von Interesse entzogen, dessen sie auf die Dauer nicht entraten kann. Es ist ja nur allzu menschlich: Was mir nur gelegentlich hilft, das benutze ich, soweit es mir eben gelegentlich benutzbar scheint, im Übrigen aber ist mir sein Schicksal höchst indifferent, jedenfalls aber berührt es meine vitale Interessensphäre in keiner Weise. Und wer kann es unter diesen Umständen beispielsweise einem Sprachistoriker verargen, wenn er, mit den anscheinend eben nur gelegentliche Hilfe der Sprachpsychologie erfordernden Aufgaben seiner Disziplin vollauf beschäftigt sie nur als ein im übrigen indifferentes Mittel zum Zweck behandelt und sich sonst nicht weiter um sie kümmert? Auf diese Weise geht aber offenbar der Sprachpsychologie nicht nur eine Fülle von Interesse, sondern auch von positiver, höchst ersprießlich werden könnender Mitarbeit der Sprachforscher verloren. Aber auch an Kritik, die jeder Wissenschaft heilsam ist, entgeht dadurch unserer Disziplin allzu viel. Denn abermals: Wer will es einem Sprachistoriker, der die Sprachpsychologie wie die Psychologie überhaupt nur als gelegentliche außenstehende Hilfswissenschaft ansieht, verargen, wenn er deren ihm autoritativ entgegentretende Lehren en bloc [als Ganzes - wp] oder, was ja noch bequemer ist, in kritikloser Auswahl, eklektisch, einfach hinnimmt? Oder aber: wenn er, psychologisch nur einseitig oder eklektisch geschult, Kritik doch nur auf dieser Basis übt? Auch dies beides muß aber doch offenbar, wird es zu einer Dauererscheinung, allmählich einen geradezu unheilvollen Einfluß auf die Entwicklung nicht nur der Sprachgeschichte, sondern auch der Sprachpsychologie gewinnen. Und so ist es dann auch durchaus mit Freude zu begrüßen, daß WUNDT, dem wir für die erste, einem modernen Stand der Psychologie und Sprachgeschichte angemessene Darstellung der Sprachpsychologie zu unvergänglichem Dank verpflichtet sind, seine ursprüngliche Auffassung von der gebührenden Stellung der Sprachpsychologie wenigstens prinzipiell geändert hat. Praktisch allerdings ist er ihr - ebenfalls wieder begreiflicherweise - auch bis heute noch treu geblieben. Aber prinzipiell zumindest, wie gesagt, sehen wir ihn schon seit 1901, seit der Schrift "Sprachgeschichte und Sprachpsychologie", nicht mehr auf dem Standpunkt, daß die Sprachpsychologie, wie er in seiner "Völkerpsychologie" gewollt ht, "in erster Linie zur Verwertung der Tatsachen der Sprache für die Psychologie" (1) da ist. Sondern, so spricht er er sich weiter in jener Schrift aus,
Denn lauert auf der einen Seite die Gefahr der selbst WUNDT nicht entgangen ist, daß die Tatsachen der Sprache allzu sehr nur für die Psychologie als solche verwertet werden, so würde die Überlassung unserer Disziplin an die Sprachwissenschaft allein zu noch weit unterwünschteren Folgen führen können. Zumindest fehlt es nicht an einem, die Möglichkeiten nach dieser Richtung hin in grellem Licht erscheinen lassenden Beispiel, das auch von WUNDT selbst gelegentlich zum Angriffspunkt berechtigter Kritik gemacht worden ist, und das wir darum auch hier für unseren Zweck etwas ausführlicher behandeln wollen. BERTHOLD DELBRÜCK hat in seinen, ihrerseits die Darstellung WUNDTs in wesentlichen Punkten kritisierenden "Grundfragen der Sprachforschung" (1901 die Ansicht geltend gemacht, die Alternative "STEINTHAL-WUNDT" oder "HERBART-WUNDT" sei eine rein praktische Frage, nämlich die, "ob einem Sprachforscher, der etwa von STEINTHAL zu WUNDT (oder von HERBART zu WUNDT) übergehen wollte, nicht an irgendeinem Punkt seines wissenschaftlichen Betriebes aus der neuen Lehre ernsthafte Schwierigkeiten erwachsen würden". "Geraten wir nicht", fährt er dann fort (2),
Dabei wird es aber natürlich keinesfalls sein Bewenden haben dürfen. Sondern man wird sich ernsthaft die Frage vorlegen müssen, wie es zu vermeiden ist, daß derlei Versuche, mit "ungefähren" und "für die Praxis ausreichenden" Übereinstimmungen zu arbeiten, in der Wissenschaft fürderhin noch eine Stelle finden. Uns scheint dazu einzig der schon vorher angedeutete Weg gangbar: Man sehe die Sprachpsychologie nicht einseitig entweder nur als eine der Psychologie zugehörige oder aber als eine an die Sprachwissenschaft von der Psychologie abzutretende Disziplin an, sondern als eine echte und rechte Grenzwissenschaft, die einerseits an der Sprachwissenschaft, andererseits an der Psychologie Anteil hat. Denn dann und nur dann wird man sich auch veranlaßt sehen, an den Vertreter dieser Wissenschaft ganz bestimmte, auch über die Forderung WUNDTs der Personalunion von Sprachhistoriker und Sprachpsychologen noch hinausgehende Anforderungen zu stellen, die sich kurz folgendermaßen formulieren lassen. Erstens: Im Hinblick auf die spezifisch psychologische Seite seiner Aufgabe wird der Sprachpsychologe schon als Sprachforscher nicht nur Sprachhistoriker im heutigen Sinn des Wortes bleiben dürfen. Als solcher wäre er wesentlich nur "historischer Grammatiker", und dies ist unzulänglich. Wir müssen in dieser Hinsicht durchaus der Forderung von PAUL KRETSCHMER beistimmen, daß die Tendenz der Sprachgeschichte über die Grammatik hinaus in letzter Linie auf den Zusammenhang der Sprache mit der gesamten geistigen Entwicklung der Nationen, wir würden noch allgemeiner sagen: der Menschheit zu gehen hat (7). Aber indem dieser Tendenz nachgegeben wird, tritt zugleich notwendig die Forderung auf, daß der Sprachhistoriker in Personalunion mit nichthistorischen Wissenschaften wie theoretischer Ethnologie, Anthropogeographie, Soziologie, Kulturwissenschaft im allgemeinen, insbesondere auch Philosophie eintritt, wie ihm die Personalunion mit der Physiologie zumindest im Sinne der Phonetik ja längst natürlich ist. Auf diese Art aber kann es schließlich auch nicht ausbleiben, daß er auch die nichthistorischen Disziplinen der Sprachwissenschaft, wie Sprachethnologie, -anthropogeographie usw., zumindest keimhaft mit anzulegen hilft. Und er wird so zumindest der Tendenz nach und es alles selbst fordernd, endlich den ganzen weiten Kreis dessen umspannen, was uns als Sprachwissenschaft in einem zulänglichen Sinn des Wortes, zunächst noch mit Ausschluß der Sprachpsychologie selbst, vorzuschweben hat (8). Soll aber außerdem zweitens auch die Sprachpsychologie in diesen wissenschaftlichen Organismus eingefügt und in der gebührenden Weise gefördert werden, so kann dies - analoge Forderungen werden auf für die Sprachethnologie usw. zu stellen sein - nur folgendermaßen geschehen. Der Sprachpsychologe, auf der einen Seite Sprachforscher in dem eben angebenen Umfang, wird auf der anderen Seite auch fachmäßig geschulter und selbständig forschender Psychologe sein und als solcher seinen Kreis ebenfalls so weit wie möglich spannen müssen, damit zugleich auch seine ursprüngliche sprachhistorische Enge noch vollends überwindend: Er wird, um die Möglichkeit allseitiger Erfüllung seiner Aufgabe zu besitzen, darauf gewiesen sein, nicht nur die allgemein- und gemeinpsychologischen, sondern auch die differential- und pathopsychologischen sowie die kinder- und tierpsychologischen Probleme aus eigener Anschauung zu kennen und nötigenfalls auch selbstforschend zu fördern. Daß unter diesen Umständen von Alternativen wie "HERBART-WUNDT" oder "STEINTHAL-WUNDT" nicht mehr die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Der auch als Psycholog selbständig arbeitende Sprachforscher, insbesondere Sprachpsychologe wird niemals - er wäre ja sonst nicht Forscher - in die Lage kommen, das eine oder andere psychologische System en bloc anzunehmen. Er wird sich, wie dies beispielsweise auch schon von STEINTHAL geschehen ist, sein System unter Umformung sogar des ihm nächstverwandten bestehenden Systems selbst erarbeiten. So ist es, um nur noch ein weiteres Beispiel heranzuziehen, auch mir selbst in der "Allgemeinpsychologischen Grundlegung" meiner "Grundzüge der Sprachpsychologie" ergangen, und hätte ich sie heute, nach zehn Jahren, noch einmal zu schreiben, so würden die inzwischen erarbeiteten Abweichungen von WUNDT und von meiner eigenen damaligen Darstellung unzweifelhaft noch beträchtlicher ausfallen, als es schon jene Abweichungen von WUNDT waren. Aber auch für die Sprachpsychologie als solche ergibt sich daraus, daß der Sprachpsychologe - hier wendet sich also das Blatt - nicht nur Psychologe, sondern auch Sprachforscher zu sein hat, eine erhebliche Selbständigkeit gegenüber der sonstigen Psychologie. Ein Beispiel mag dies, uns zugleich schon in die konreten Probleme der Sprachpsychologie hineinführend, klar machen. Die Sprache wird bekanntlich von Psychologen nahezu übereinstimmend als "Ausdrucksbewegung" definiert und es ist keineswegs ein Sonderfall dieser Zuordnung zu allgemeineren psychophysischen Tatsachen, wenn z. B. wiederum WUNDT seine sprachpsychologischen Erörterungen so beginnt:
Was erstens diesen psychologischen Sondercharakter angeht, so ist es ja bekanntlich auch in den Kreisen der Sprachforscher, wenn man nicht auf unzeitgemäße Anhänger der PAULschen Polemik dagegen (13) reflektieren will, längst gang und gäbe geworden, die Sprachpsychologie als einen Teil der sogenannten Völkerpsychologie anzusehen. Und in der Tat scheint es, als könne man sich dieser Einordnung gerade um der soeben gemachten Auffassung der Sprache willen in keiner Weise entziehen, ohne zugleich in jene Art Polemik zurückzufallen und schlechthin zu behaupten, was an der Sprachentwicklung
Denn es ist ja ganz klar: Selbst wenn - was übrigens auch vom derzeitigen Vertreter der Völkerpsychologie, WUNDT, bereitwillig anerkannt wird -
WUNDT selbst hat den Bedenken die wir in dieser Hinsicht hegen, zum Teil bereits Ausdruck gegeben, wenn er (16) sagt:
Alle diese Kreise und Verbände, in die der Einzelne zufolge "Jahrtausende alter Errungenschaften und Erbschaften" hineingestellt ist, Familie und Volk, Berufs- und Beschäftigungs-, Neigungs- und Interessenkreis und -verband bedeuten, so geltend gemacht, immerhin noch mehr oder weniger große Massen von Individuen und "Massenpsychologie", ein Ausdruck, der von GUSTAVE Le BON (17) in einem engeren Sinn gebraucht worden ist, wäre darum gar keine so unebene Bezeichnung für die in Rede stehende Art Psychologie. Offenbar wird damit zugleich zweierlei allzu einseitig betont: einmal die Jahrtausende alte Bedingtheit derartiger Massen und ihrer Wirkungen auf den Einzelnen, der so allzusehr als deren passives, kaum einer eigenen Aktion fähiges psychisches Produkt erscheint; sodann aber auch, insbesondere wiederum durch den Ausdruck "Völkerpsychologie", die größere Masse, wodurch die Minimalbedingung der Gemeinschaft, die Zweiheit der Individuen, die daran beteiligt sind, nahezu zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt wird. Beides jedoch, einerseits die historisch-passivistische Betonung der Massenfunktion, andererseits die massenfunktionistische Zurückdrängung der Minimalbedingung insbesondere der sprachlichen Gemeinschaft, ruft zusammen unser, wie gesagt, Hauptbedenken gegen die Einordnung der Sprachpsychologie in die Völkerpsychologie hervor, und wir haben nur noch vollends kurz zu begründen, warum. Dabei wird sich übrigens, nebenbei bemerkt, ungezwungen auch gleich unser System der Sprachpsychologie ergeben. Eine historistisch-passivistische Betonung der Massenfunktion haben wir es genannt, wenn die Jahrtausende alte Bedingtheit von Massen und deren Wirkungen auf den Einzelnen als prinzipielle allgemeine Bedingung für das Zustandekommen spezielle auch von Sprache hingestellt wird. Und wir begründen unsere Ablehnung dieser Auffassung damit, daß dadurch die prinzipielle Möglichkeit des Entstehens von Sprache als Verständigung auch schon zwischen nur zwei Individuen von vornherein ausgeschlossen wird. Diese Möglichkeit aber besteht doch unzweifelhaft, wenn man dabei auch nicht gerade an Adam und Eva im Paradies zu denken braucht, und just, wenn man dabei nicht an jene beiden denkt. Sie besteht jederzeit, wo eine parallele psychophysische Organisation von nur zwei Individuen gegeben ist, und es ist nicht einzusehen, weshalb dazu außerdem eine Jahrtausende alte Massengemeinschaft, aus der die beiden Individuen herausgewachsen wären und unter deren unmittelbar bestimmenden Einfluß sie auch im Augenblick der Sprachbildung stünden, nötig sein sollte. Verständigen sich die beiden untereinander, so brauchen sie dazu weder die sie sonst umgebende Masse gleichorganisierter Individuen noch eine Masse, die vor ihnen dagewesen ist, am wenigsten schon Jahrtausende lang, sondern sie genügen einander selbst, und das Zwiegespräch oder der von einem ausgestoßene und vom andern verstandene Ruf bleiben immer eine sprachliche Leistung, deren Möglichkeit in diesem Fall durchaus nur an die Zweiheit, keineswegs an eine Vielheit von Individuen gebunden ist. Dies also, was übrigens ohne Zwang auch schon aus einer früher angeführten Äußerung STEINTHALs herausgelesen werden kann, steht wohl nunmehr ohne jeden Zweifel fest: Zweiheit von Individuen ist zur Entstehung von Sprache eine unerläßliche Bedingung, Vielheit oder Massen von Individuen dagegen nicht, und dies steht ganz im Einklang mit meiner oben gegebenen Definition: "Sprache ist die Gesamtheit aller jemals aktuell gewordenen bzw. aktuell werden könnenden Ausdrucksleistungen der menschlichen bzw. tierischen Individuen, insofern sie von mindestens einem anderen Individuum zu verstehen gesucht werden (können)." Dadurch leuchtet aber wohl auch ohne weiteres Folgendes ein: Erstens: Der bereits früher im Vorbeigehen von mir gebrauchte und auch von mir selbst ursprünglich (18) geprägte Ausdruck Gemeinpsychologie scheint uns, da er die Gemeinschaft zweier sowohl als beliebig vieler Individuen umspannt und gar nichts über die Art der Gemeinschaft präjudiziert, geeigneter als "Völkerpsychologie", um die Oberdisziplin innerhalb der Psychologie zu kennzeichnen, der die Sprachpsychologie zunächst unterzuordnen ist. Ausdrücke wie "Gemeinleben, Gemeinwille, Gemeineigentum, Gemeingeist, Gemeinveranstaltung, Gemeinwirtschaft, gemeinwirtschaftlich", die neuerdings in Werken über "Volkswirtschaft" und "Politik" gewissermaßen zur teilweisen Korrektur dieser Titel auftauchen, machen, sämtlich auch schon auf eine Zweiheit von Individuen anwendbar, vollends deutlich, was mit jener Bezeichnung "Gemeinpsychologie" gesagt sein soll und schlagen vielleicht auch uns gelegentlich geäußerte ästhetische Bedenken dagegen nieder. Gar nicht mehr lange davon zu reden also, daß der Terminus "Gemeinpsychologie" sich als Korrelat zur Bezeichnung "Allgemeinpsychologie" (anstelle von "Individualpsychologie") offensichtlich besser empfiehlt als "Völkerpsychologie", wird es schon so endgültig deutlich: Die Sprachpsychologie ist, ganz ebenso wie eine richtig, d. h. nur mit Rücksicht auf den besonderen Gemeinschaftskreis "Volk", "Nation", eine abgegrenzte Völkerpsychologie, als ein Teil der Gemeinpsychologie anzusehen, und diese ihrerseits bildet zusammen mit der Allgemeinpsychologie, Differentialpsychologie, Pathopsychologie usw. das Ganze der Psychologie. Unter diesen Umständen drängt sich jedoch abermals die mögliche Nur-Zweiheit aber doch Mindestens-Zweiheit von Individuen als psychologische Grundbedingung der Sprache gebieterisch unserer Beachtung auf und führt uns zugleich endlich zu den fundamentalen Konsequenzen, die wir daraus für das System der Sprachpsychologie zu ziehen haben und zu diesem System selbst. Daß es sich dabei in der Tat um fundamentale Konsequenzen handelt, möge man vor allem aus folgendem ermessen. Zu der oben wiederholt angeführten Definition der Sprache steht in direktestem Bezug, so daß aus ihr geradezu jene Sprachdefinition abgeleitet werden kann, eine Definition des sprachlichen konkreten Grundgebildes, das man als "Satz" zu bezeichnen pflegt,, eine Satzdefinition also, die, von mir seit 1902, in ihrem Kerngedanken unverändert, immer wieder vertreten, in ihrer letzten allgemeinsten Fassung folgendermaßen lautet:
Was ber den zweiten von WUNDT gemachten Einwand betrifft, daß in der "Anerkennung der Richtigkeit" eine erkenntnistheoretische Bedingung zu liegen scheint, die für den Satz als psychologisches Gebilde unzulässig ist, so weist dieser Einwand besser vielleicht als irgendeine positive Begründung unsererseits es tun könnte, gerade auf die fundamentale Lücke hin, die im System der Sprachpsychologie entsteht, sobald man sich diese nicht sowohl spezifisch erkenntnistheoretische, sondern vielmehr auch eminent gemein- und sprachpsychologische Bedingung nicht in ihrer vollen Wichtigkeit vor Augen hält. Denn es fällt damit, d. h. wenn man die sprachpsychologische Wichtigkeit dieser Bedingung verkennt, nichts weniger als das ganze Problem des Sprachverständnisses und der Spracherlernung von Seiten des Angesprochenen sowie das Zentralproblem der dem Sprechenden und Angesprochenen gemeinsamen Bedeutung des Gesprochenen aus dem Kreis der sprachpsychologischen Problem, die wir von unserer nun wohl zur Genüge gekennzeichneten Grundauffassung aus als die mindestens gegenwärtig allerwichtigsten Probleme der Sprachpsychologie bezeichnen müssen, und die wir zusammen - es sind deren, beiläufig bemerkt, noch mehr - als deren phylontogenetische Probleme bezeichnen wollen (20); "phylontogenetische" darum, weil, wenn auch am sprachlichen Grundphänomen prinzipiell nur je zwei Individuen beteiligt zu sein brauchen, dabei doch offenbar bereits der Keim zur Beteiligung einer größeren Masse (einer Schar, phylon) von Individuen gelegt wird, aber andererseits auch immer noch deutlich die Wirsamkeit des Einzelindividuums (on) ersichtlich ist. Ergänzend müssen wir aber auch gleich noch hinzufügen: Es befindet sich dabei, indem der sprachliche Eindruck vom Ausgesprochenen aufgenommen und von ihm so zu deuten versucht wird, daß diese Deutung ein relatives Verständnis des Gesprochenen darstellt, der Angesprochene offenbar in einer augenblicklichen Abhängigkeit von der sprachlichen Leistung des ihn Ansprechenden, also allgemein: des Sprechenden. Denn nur so wird auch wenigstens vorläufig deutlich, was unter diesen Umständen mit einer weiteren, zweiten wichtigen Reihe von Problemen der Sprachpsychologie auf sich hat, nämlich mit deren ontogenetischen Problemen. Ist es nämlich auch, wie wir gesehen haben, durchaus richtig, daß sich der Angesprochene im Hinblick auf sein Verständnis des Gesprochenen in einer augenblicklichen Abhängigkeit vom Sprechenden befindet und begründet sich hauptsächlich darauf das phylontogenetische Verhältnis der beiden, so ist darum doch auch folgendes nicht weniger richtig: Alles Sprechen ist insofern ein rein ontogenetischer, also dem Einzelindividuum als solchem zukommender Akt, als der Sprechende, um etwa einen Satz oder ein Wort zu bilden, zunächst keinerlei sprachlicher Nachhilfe von Seiten des Angesprochenen bedarf und daher also von diesem sprachlich augenblicklich unabhängig zu denken ist. Satz- und Wortbildung des Sprechenden also sind in diesem Sinne wesentlich ontogenetische Probleme der Sprachpsychologie. Und schließlich drittens wird man als phylogenetische Probleme diejenigen Aufgaben der Sprachpsychologie anzusehen haben, welche die natürlich auch von mir nicht etwa zu leugnenden, sondern im Gegenteil als ein außerordentlich wichtiger Faktor der Sprachentwicklung anzuerkennenden Massenwirkungen, also Wechselwirkungen größerer oder kleinerer die Zweiheit übersteigenden Massen von sprechenden Individuen betreffen. Und hier kommen dann freilich auch die unter Umständen Jahrtausende alten kulturellen und sonstigen Voraussetzungen solcher Massenfunktionen zu ihrer gebührenden Geltung, ohne daß, sind nur zuvor jene anderen Problemreihen, die phylontogenetische und ontogenetische, hinreichend anerkannt und für sich bearbeitet, noch die Gefahr einer einseitigen historistisch-passivistischen Bevorzugung dieser letzten vor jenen beiden ersten Problemreihen bestünde. ![]() ![]()
1) WILHELM WUNDT, Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Seite 4; das folgende Zitat Seite 110. 2) BERTHOLD DELBRÜCK, Grundfragen der Sprachforschung, Seite 42f 3) WUNDT, Grundriß der Psychologie, dritte Auflage, Seite 257 4) WUNDT, Völkerpsychologie, erste Auflage, Bd. I, Seite 464 5) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 462 6) WUNDT, Sprachgeschichte und Sprachpsychologie, Seite 17 7) Vgl. PAUL KRETSCHMER, Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache, 1896, Seite 4f. 8) Vgl. dazu DITTRICH, "Grundzüge der Sprachpsychologie", Bd. I, 1903, § 88f und "Die Grenzen der Sprachwissenschaft", 1905. 9) WUNDT, Völkerpsychologie I, dritte Auflage, Seite 43 10) WILHELM von HUMBOLDT, Sprachphilosophische Werke, 1848, Seite 281f (hg. von STEINTHAL). 11) STEINTHAL, Abriß der Sprachwissenschaft, Bd. I, zweite Auflage, 1881, Seite 374f. 12) DITTRICH, Grundzüge der Sprachpsychologie, Bd. I, § 86. 13) HERMANN PAUL, Prinzipien der Sprachgeschichte, zweite Auflage, 1886, Seite 13 und so unverändert bis zur vierten Auflage 1909 und wohl, nach PAULs sonstiger Art, von ihm aus unwiderruflich. 14) PAUL, a. a. O., Seite 13. 15) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 9 16) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 1f 17) GUSTAVE Le BON, Psychologie es foules, sechste Auflage 1911 18) DITTRICH, Grundzüge der Sprachpsychologie I, § 3. 19) WUNDT, Völkerpsychologie I, Seite 246 20) Vgl. dazu und zum Folgenden meine "Grundzüge der Sprachpsychologie", Bd. I, § 143, Anm., und meinen Aufsatz über "Sprachwissenschaft und Psychologie" in Germ.Roman. Monatsschrift II, 1910, Seite 631f. |