cr-3Harriet StraubDas GlaserhäusleTestamentAus der Wüste 
 
MANFRED BOSCH
Harriet Straub - Hedwig Mauthner
... und nicht fliehen vor erkannten Wahrheiten

"Aber wenn alle Bäume Schreibrohre und das Meer und noch sieben Meere dazu Tinte wären, wie's im Koran heißt, könnte ich nicht ausschreiben, was ich gegen Europa auf dem Herzen habe."

"Fünf Jahre bin ich jetzt hier, und ich habe noch keinen Tag ohne immer neues Entzücken gehabt. Ich möchte den Menschen mal hier haben, der von der  toten Wüste  spricht. Das ist das lebendigste, grausamste, schmeichlerischste, tobendste, bezauberndste Ungeheuer, das übermenschliche Phantasie sich vorstellen kann. Da ist wohl große atembeklemmende Stille manchmal, aber das ist die Stille, die Kraft sammelt zu vernichtendem Anprall, kein Tod."

In einer Erzählung, die im Kriegsjahrgang 1916 des "Bodenseebuchs" erschien, hat HARRIET STRAUB Frauenleben in der bürgerlichen Ehe exemplarisch verdeutlicht. Am Beispiel einer Frau namens Grete und ihres Mannes ("Dr. Hans") kontrastiert sie die Behandlung der Frau als Umworbene mit ihrem späteren Schicksal: zunächst in Gedichten als "Göttin mit dem Gnadenlächeln" apostrophiert, lernt Grete sich in die Zwänge der Ehe zu fügen und sich abzufinden, um alsbald ihre Wünsche und Ansprüche im selben Atemzug, in dem sie sie vorbringt, selber als "unwichtig" wieder zurückzunehmen. Die Erzählung trägt denn auch den Titel, den man ihr ob dieses Verhaltens alsbald gibt: "Frau Unwichtig".

Dabei führte sie ihre Erzählfigur so selbständig erzogen vor, wie sie selber war, Grete hatte zu Hause schon "einen großen viereckigen Tisch gehabt, auf dem ihre Lieblingsbücher Platz fanden und ein paar Bilder und Raum genug war zum Schreiben". Beim Einzug ins neue Haus hatte Hans ihr "als besondere Aufmerksamkeit" ein Schreibtischchen geschenkt - "damit du auch in deinem neuen Heim nicht aufgibst, dein Tagebuch zu führen; und mögest du viel Glück auf den Blättern festhalten, damit Kinder und Enkel noch daraus Lebensmut schöpfen". Zwar war Grete ihrem Mann "dankbar gerührt um den Hals gefallen"; doch HARRIET STRAUB legt ihr eine bittere Empfindung in den Sinn: "Warum hat Hans eigentlich einen Schreibtisch, an dem man schreiben kann und ich einen Damenschreibtisch, ein Möbel, das sehr hübsch aussieht, aber alles eher ist, als ein Schreibtisch?"(1)

Obwohl die beiden Bücher und wenigen verstreuten Beiträge, die die bis vor wenigen Jahren zu Unrecht vergessene HARRIET STRAUB hinterließ, an keinem "Damenschreibtisch" entstanden sind, darf man bei dem Mißverhältnis der beiden Möbel doch einen Augenblick an die Situation der Autorin selber denken. Denn auch ihre Ehe mit dem damals berühmten Sprachphilosophen und Schriftsteller FRITZ MAUTHNER verwies sie einmal ganz in den Schatten ihres Mannes. Auch HARRIET STRAUB hat Bemerkenswertes geschrieben - und ihr Einfluß auf das Spätwerk FRITZ MAUTHNERs ist bis heute nur ansatzweise gewürdigt worden.

Hedwig Silles-O'Cunningham Und doch taugt HARRIET STRAUB nur bedingt als Beleg für "weibliche Verkennung im Schatten berühmter Männer", an dem sich feministisches Selbstverständnis festmachen könnte. Dafür ist ihre geistige Kontur zu vielschichtig und zu komplex, ihre Biographie zu widersprüchlich. Als MARIA HEDWIG LUITGARDIS STRAUB am 20. Januar 1872 als Tochter eines Notars in Emmendingen geboren, läßt sich das prägende katholische Milieu des Elternhauses bereits an ihren Vornamen ablesen. Es fand seine Fortsetzung in einer Klosterschulerziehung und der Bekanntschaft mit dem Freiburger Katecheten BEUTTER, der auf die Entwicklung der Dreizehnjährigen großen Einfluß nahm.

Wie STRAUB aus diesem religiös bestimmten Umfeld, dem sie in Form ihres "Beutter-Büchleins"(2) von 1909 literarischen Tribut gezollt hat, den Weg in die Gymnasialkurse HELENE LANGEs in Berlin fand, läßt sich bislang ebensowenig rekonstruieren wie die Umstände, die zu der nur einen Tag währenden Ehe der achtzehnjährigen Abiturientin mit einem Chemiker führten.

Immerhin läßt sich der Beitrag "Die Lüge" in ihren "Zerrissenen Briefen" als biographisch verschlüsselte Botschaft lesen, worin ihre ganze Radikalität des Zweifels am bisherigen Glauben deutlich wird. "Oft genug hab' ich Dir", sagt dort STRAUBs alter ego über jenen Freiburger Katecheten, "von meiner schwärmerischen Verehrung für diesen gütigen Menschen und kindlich gläubigen Priester gesprochen. Ich hab Dir oft erzählt, wie ich durch Jahre keine andern Gedanken in Kopf und Herz hatte als die von ihm mir eingepflanzten, daß ich ihm blind gehorchte, und daß ich verhältnismäßig leichter von Religion und Gott mich frei machen konnte in den Jahren der beginnenden Zweifel, als von dem Einfluß dieses Mannes."(3)

Wir haben es hier mit einem radikalen Bruch in ihrer Erziehung zu tun, der nicht nur an der Begegnung mit der bürgerlichen Frauenbewegung in Berlin abzulesen ist, sondern auch an der selbstbewußten Zielstrebigkeit, mit der HEDWIG STRAUB ein Frauenstudium aufnahm, das damals alles andere als selbstverständlich war.

Von Zürich, wo sie zunächst Philosophie studierte, um alsbald zur Medizin überzuwechseln. ging sie an die Sorbonne. Dort promovierte sie als eine der ersten Medizinerinnen, anschließend wurde sie von der französischen Regierung angestellt, um im Rahmen des Kolonialisierungsprogramms als Ärztin zu arbeiten und die gesundheitlichen Verhältnisse der Beduinenstämme in der Sahara zu erforschen.

Knapp zehn Jahre lang widmete sie sich dieser Aufgabe, und daß sie dabei ihr besonderes Augenmerk auf die Situation der Frauen richtete, läßt sich in dem Erinnerungsbericht nachlesen, den sie unter dem Titel "Die Araber in Algerien" im "Bodenseebuch" des Jahres 1925 darüber veröffentlicht hat.

Beendet wurde HEDWIG STRAUBs Aufenthalt in Nordafrika durch ihre Bekanntschaft mit dem englischen Adligen SILLES-O'CUNNINGHAM, mit dem sie um 1900 ihre zweite Ehe einging und den sie auf seinen Reisen in die Kolonien begleitete. Doch die Mitglieder seiner Pairsfamilie sahen in der Heirat mit der Bürgerlichen einen Verstoß gegen die gesellschaftliche Konvention und betrieben erfolgreich die Annullierung dieser Verbindung.

Über die Stationen Stockholm und Kopenhagen, über die sonst nichts bekannt ist, kehrte sie 1904 zur Vertiefung ihres Medizinstudiums nach Freiburg zurück. Hier lernte sie den Philosophen und Schriftsteller FRITZ MAUTHNER kennen, der, fast sechzigjährig, sich nach Freiburg zurückgezogen hatte, um durch die Aufnahme eines mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiums seine philosophische Sprachskepsis auf eine neue Basis zu stellen.

Spätestens ab 1908 arbeitete sie an seinem Projekt "Wörterbuch der Philosophie" mit, dem STRAUBs stupende Sprachenkenntnis zugute kam. Aus dieser intensiven Zusammenarbeit entstand schließlich der Gedanke einer Lebensgemeinschaft, zu der MAUTHNER mit dem Erwerb des westlich von Meersburg, am Steilabhang des Bodenseeufers gelegenen "Glaserhäusle" im Sommer 1909 die Grundlage schuf. Am 26. Februar 1910 hat HEDWIG STRAUB ihn in dritter Ehe in Meersburg geheiratet Trauzeugen waren der Sozialist GUSTAV LANDAUER und der Germanist ROMAN WOERNER, der zum gemeinsamen Freiburger Freundeskreis gehört hatte.

Wann genau HEDWIG STRAUB, die sich als Schriftstellerin HARRIET STRAUB nannte, ihre eigene literarische Arbeit aufgenommen hat, ist biographisch wie vieles andere bislang nicht beantwortet.(4)

Möglicherweise darf man aus dem anglophonen Vornamen auf ein Datum schließen, das sich mit ihrer zweiten Ehe verbindet; die Chronologie ihrer Veröffentlichungen freilich, die mit zwei Prosabänden vor dem Ersten Weltkrieg einsetzt und mit verstreuten Beiträgen in Periodika und Anthologien nach 1930 langsam ausklingt, spricht eher für die schreibanregende Atmosphäre, die vom Leben mit FRITZ MAUTHNER ausging. In dieser intellektuell fordernden Spannung mag manches Eigene seinen Ursprung oder doch eine förderlich-ermunternde Begleitung gefunden haben.

So etwa jene Dorfgeschichten, die 1912 im renommierten Verlag Georg Müller unter dem Titel "Rupertsweiler Leut" erschienen - Erzählungen, die sich von einer liebevoll-kleinmalerisehen Schreibmanier im traditionellen heimatlichen Stil allein durch ein ungewöhnliches Maß weiblichen Selbstbewußtseins abheben. STRAUB bringt es meist in anekdotisch wirkender Erzählweise und mit instinktiver List zur Geltung, wie um die Dorfwelt als männlich beherrschte Domäne bewußt zu machen und aufzubrechen. Zugleich hat STRAUBs erzählerischer Zugriff nichts Distanziertes, obschon der Blick der Autorin unverkennbar von außen auf die dörfliche Welt fällt; und ganz bewußt hat STRAUB Frauen in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen gerückt, die in ihrer milieusicheren Darstellung und authentischen Figurenzeichnung sichtlich von der eigenen Erfahrung und frühen Beobachtungsgabe der Autorin profitieren.

Wirkt das fiktive Dorf Rupertsweiler nach Milieu und Mentalität seiner Bewohner repräsentativ für die kleine südbadische Welt zwischen Rheinebene und Schwarzwald, so sind STRAUBs nur ein Jahr darauf erschienene "Zerrissene Briefe" schon deshalb welthaltiger und gewichtiger, weil diese nicht allein mehr patriarchalische Gesellschafts- und Partnerschaftsformen attackieren, sondern beinahe alle überkommenen Gewißheiten der abendländischen Zivilisation in eine kritische Befragung mit einbeziehen. Nicht von ungefähr sind die "Zerrissenen Briefe" meistenteils im Gestus von Aufkündigung und Abrechnung gegenüber lieb- oder einfach auch nur selbstverständlich gewordenen Übereinkünften geschrieben, die doch meist nur Bequemlichkeiten des Denkens darstellen.

Gleich der erste Brief, der mit seinem Titel "Aus der Wüste" auch die Position (und nicht etwa nur den "Ort") der Schreiberin verrät, greift frontal das hochmütige Selbstverständnis des Europäers an und entlarvt seinen Glauben, daß vor allem er sei es, der Kultur repräsentiere, als Borniertheit. Was STRAUB dabei - gerade aus ihrer Randständigkeit heraus - an Gegenpositionen verdeutlicht, hat an Aktualität nichts eingebüßt, gehört doch, was sie vor 80 Jahren schrieb, noch immer zu den vertrauten Zweifeln: die Fragwürdigkeit der Unterwerfung der Natur, die Mißachtung und Mißhandlung der Tiere, das Mißtrauen in die Wirksamkeit moderner Medizin, der Abscheu vor der Inflation der Worte, der Zweifel an der Ghettoisierung der Irren, das Mißbehagen an der Verkümmerung unserer Fähigkeiten durch extreme Spezialisierung, die Trauer über den Verlust des unbefangenen Blicks für unsere Umwelt, die Lächerlichkeit menschlichen Omnipotenzgehabes und die Gefährlichkeit unseres unbegrenzten Glaubens an die instrumentelle Vernunft. Doch nicht auf einen Katalog kulturbedingter Defizite legt es STRAUBs imaginäre Entgegnung an einen Europäer an, sondern auf die Verdeutlichung jenes blinden Flecks in unserer Wahrnehmung, der uns behindert, sobald wir unsere Wirklichkeit zur "Wahrheit" erheben.

In ihrer Gegenrede - denn alle zerrissenen Briefe STRAUBs sind letztlich Reaktionen - erscheint die Wüste als ein geeigneter Ort, diesen blinden Fleck zu gewahren, ja sie wird nachgerade zum Resonanzboden aller Zweifel gegenüber einer sich selbst überschätzenden Kultur. Und nur, was dieser den Kampf angesagt hat, läßt sie aus Europa zu sich herüberdringen: "Nur einen, einen einzigen habe ich lachen gehört, aus seinem dicken schweren Werk heraus (das mein armes Lastkamel nun immer mitschleppen muß, denn nur langsam kann ich es lesen), der lacht über die Worte "Gesetze" und "Zweck" und "Ziel" und "sollen" und hat den Trug, der hinter den Worten steckt, eingesehen und aufgedeckt. Das Lachen klingt mir manchmal hier in der Wüste in die große Stille hinein. Hört man's in Europa auch, oder ist da der Tageslärm zu groß?"(5)

Die Stille der Wüste hat für HARRIET STRAUB jedenfalls den Axthieb vielfach verstärkt, den sie an den Wurzeln der alten Götzen vernimmt, und sie bekennt, gar zu eine dabeizusein, wenn diese zusammenfallen. "Können Sie mir aber dagegen auch versprechen", fragt sie ihren imaginären Adressaten, "daß ich samt meiner neueroberten Unkultur, d. h. meiner natürlichen Gott- und Pietätlosigkeit, meinem frommen Vertrautsein mit der Natur, drüben auch werde atmen und leben können, bei Euch "Christen"?(6)

Mit ihren radikalen Infragestellungen macht sie indes auch nicht bei der Frauenrechtsbewegung halt, obschon zwei ihrer zerrissenen Briefe - "Befreiung" und "Modern" - eben deren Kurs einzuschlagen scheinen. Insbesondere "Befreiung", der Briefwechsel "mit einem gleichermaßen gutwilligen wie schlecht verstehenden Heiratskandidaten", räumt, mit den Worten von LUDGER LÜTKEHAUS, "in schönster Gnadenlosigkeit im Rollenhaushalt der Geschlechter auf; der nicht zustande gekommene Polterabend findet wenigstens literarisch statt".(7)

Keine Frage, daß STRAUB mit den Frauenrechtlerinnen eine Ehe ablehnt, die "einem Mann das Leben auspolstern" (8) soll, der Weg ins Freie führt für sie über ein Selbstverständnis, das die Frauen sich selber geben. "Was sind wir? Der Mann hat bestimmt, was weiblich ist. Sind wir das? Werft endlich aus euch hinaus, was der Mann aufgehäuft hat in euerer Seele, in euerem Körper. Und seht Euch das Kulturideal des Mannes an, seht euch an, was er geleistet hat, und fragt euch: können wir da mittun, wollen wir da mittun?"(9) Von solcher Folgerichtigkeit und Radikalität sind nicht alle zerrissenen Briefe. Im Nachwort zu seiner Neuausgabe spricht LUDGER LÜTKEHAUS von einem "allzu larmoyant" wirkenden Ton mancher Stücke, ja "von der fatalen Innigkeit eines gerade aus der geistlichen Gartenlaube in die Pietätlosigkeit entsprungenen Nesthäkchens"(10) - ein Urteil, das die Bedeutung des Buchtitels um eine Variante bereichert: der Riß geht durch die Briefe selbst, durch ihre Autorin, die in ihren Briefen schon avancierteste Positionen vertritt, während sie sich in anderen noch mit (biographisch ergiebiger) familiärer Erbmasse und mentalen Traumata auseinanderzusetzen hat. Zu diesen Widersprüchen STRAUBs gehört auch, daß sie - wie viele Schriftsteller und auch FRITZ MAUTHNER - im Ersten Weltkrieg nationalen Suggestionen erlag.

So betrieb sie in ihrer bereits erwähnten Erzählung "Frau Unwichtig", die sie 1916 veröffentlichte, angesichts der vermeintlichen Erfordernisse des Krieges die Rücknahme ihrer eigenen Forderungen. Wie hatte es noch 1913 in den "Zerrissenen Briefen" geklungen? Ich möchte den Klagelaut jeder einzelnen Frau, die, zertreten unter den Gesetzen des Mannes, seufzt, sammeln, sammeln das Schluchzen der Frauen, die vernichtet sind in ihrem innersten Wachstum durch die Lasten, die der Mann ihr auferlegt, sammeln die Gebete, die um Erlösung flehen aus der Prostitution von Körper und Geist, in die der vom Mann geschaffene Staat jede, früher oder später jede Frau einspannen möchte, und der Notschrei, gesammelt von Tausenden und Abertausenden sollte über die Erde gellen, daß alle hören müßten: steht still, ihr Frauen, horcht in euch. hört nicht auf das Getöse der Manneswelt, ( ... ) horcht auf die Stimme des Lebens, die in euch gewachsen ist."(11) An diese Entschiedenheit erinnert STRAUB noch einmal, als sie in ihrer Erzählung Grete anläßlich der Einberufung ihres Sohnes trotzig sagen läßt: "Was geht mich der Staat an? Nichts ist wichtig, nur mein Junge muß erhalten bleiben" - doch nimmt sie diese frühere Einsicht nur auf, um sie zu verleugnen. Als Grete die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhält, da hört sie eben doch auf das "Getöse der Manneswelt": "Es ist ja nur wichtig, daß unser Vaterland erhalten bleibt, der Boden auf dem Deutschlands Kinder einzig wachsen und gedeihen können."

Was ihre Beteiligung an FRITZ MAUTHNERs Projekten betrifft, so hat dieser "an mehr als einer Stelle der fleissigen, entsagungsvollen Mitarbeit seiner Frau gedacht".(12) Doch vielleicht folgenreicher als die koproduktive Mitwirkung war ihr indirekter Einfluß auf den Philosophen. WILHELM RESTLE, der im Todesjahr MAUTHNERs die Meersburger Pfarrei übernahm und enger Freund HEDWIG MAUTHNERs wurde, hat in einem Nachruf geurteilt,
MAUTHNER habe den "mystischen Ausklang seines sonst so radikalen Skeptizismus von ihr empfangen".(13) Den unübersehbaren Beleg dafür bildet MAUTHNERs 1913 erschienenes Werk "Der letzte Tod des Gautama Buddha", das Geist und Gehalt der MAUTHNERschen Grabinschrift "Vom Menschsein erlöst" unüberhörbar intoniert und dem ein vielsagendes Widmungsgedicht für HARRIET STRAUB vorangestellt ist:
    Meiner lieben Frau

    Francisci Schülerin, des einen und des andern, Hast Du die Heiligen mir ganz nah gebracht, Die arm und selig über die Erde wandern, Wie Tierlein fromm und klug und unbedacht.

    Die Antwort auf deine christlichen Legenden Vernimm jetzt: eines gütigen Menschensohns Selbstüberwinden, Entsagen und Vollenden. Nicht wahr, du hörst den Nachklang deines Tons?

    Sonst wäre die Sage ungesagt geblieben, Wer sich kein Echo weckt, ist stumm. Ich habe dir das Büchlein zugeschrieben. Du weisst, warum.
Dieses Gedicht und sein Dank an HEDWIG MAUTHNER erschließen sich erst über die Lektüre des "Gautama Buddha", in dem dieser den Tieren als seinen "lieben Meisterlein" und "lieben Lehrerlein" dankt, "weil ihr nicht wisset, daß ihr Meisterlehrer seid, weil ihr keine Schulen gründet, keine Predigten predigt, keine Worte wortet, weil ihr euch selber treu seid. Ich dank euch schön für die schweigenden Lehren eures Daseins"(14)

Die Empfänglichkeit MAUTHNERs für die "schweigenden Lehren" sind nicht denkbar ohne seine Frau, die gegenüber GRETE GULBRANSSON einmal bekannte, daß MAUTHNER früher "kein Gedanke übrig war für Tiere, Natur, Frauen" und daß ihm "dies alles erst nach und nach unmerklich in ihrem Beisammensein" zugefallen sei. GULBRANSSON fühlte sich mit HEDWIG MAUTHNER eins in der "Sehnsucht nach dem Zusammenklang dem Weltgeist (oder wie man es nun nennen mag). Sie (HEDWIG MAUTHNER), scheut sich nur, ihn Gott zu titulieren. Überhaupt hat sie die merkwürdige Wortscheu mit ihrem Manne gemein. Sie haben sich beide so intensiv mit der Sprache beschäftigt, daß sie die Harmlosigkeit ihr gegenüber ein für allemal verloren haben."(15)

Nicht anders ist auch die auffallende Zurückhaltung der Autorin STRAUB zu verstehen. Während MAUTHNER zeitlebens von seiner Feder leben mußte, hat sie sich nie als Berufsschriftstellerin verstanden; und wenn MAUTHNER anläßlich der Sichtung seiner Arbeiten für die sechsbändige Ausgabe seiner "Ausgewählten Schriften" von 1919 bekannte, mehr geschrieben zu haben als "die innere Not der zwingenden Sehnsucht fordert",(16) so mag sie schon ihre tiefe Begegnung mit der muslimischen Kultur vor jeder Überschätzung literarischer Betriebsamkeit bewahrt haben.

Was bislang an Veröffentlichungen von ihr bekannt geworden ist, bewegt sich deshalb im Rhythmus der Jahre: eine einfühlsame Studie zur DROSTE ist darunter, aus deren Nachlaß sie das noch zu Rettende in Sicherheit brachte, als 1914 der banausische Erbe der letzten Zwillingstochter JOSEPH LASSBERGs tagelang seine Öfen mit ihrer Hinterlassenschaft heizte; die Erzählung "Der schwarze Panther", die nach Gestus und Tendenz zum Umkreis der "Zerrissenen Briefe" zählt; die bereits genannte Erinnerungsstudie "Die Araber in Algerien"; eine für ihre Schöpfungsliebe bezeichnende "Umbrische Legende" sowie, neben einigem anderen, der für ihr Verständnis wichtige Essay "Vom mystischen Weg und Irrweg".

Als FRITZ MAUTHNER im Juni 1923 starb, galten ihre Anstrengungen dem Erhalt des Glaserhäusle. Nicht immer waren die, die ihr dabei helfen wollten, von lauteren Absichten beseelt: Mitte der zwanziger Jahre wurde sie Opfer eines Hochstaplers, der eine Fritz-Mauthner-Akademie zu gründen vorgab und mit 25 000 Mark, die er im Namen der Stiftung aufgenommen hatte, nach Amerika verschwand.(17)

Nach 1933 wurde ihr als Witwe eines Juden ihre Rente abgesprochen, und der Versuch, ihr das Glaserhäusle zu nehmen, konnte nur dank finanzieller Hilfe der Freunde, darunter GERHART HAUPTMANN, durchkreuzt werden, der damit HEDWIG und FRITZ MAUTHNER "einen winzigen Teil des Dankes abtragen zu können" meinte, "den ich gern schulde".(18) "Sie kennen ja unser kleines Märchenhaus", schrieb HEDWIG MAUTHNER Anfang April 1933 dankbar an HAUPTMANN, "nicht daß ich es verlassen sollte, war das Schwerste, ich werde es ja doch bald verlassen, wenn ich endlich zur Ruhe gehen darf, daß es aber unter Spott und Verachtung als Judenhaus in Banausenhände kommen sollte, das machte mich elend. Nun glückt es mir dank Ihrer Hilfe und noch einiger Freunde FRITZ MAUTHNERs es definitiv frei zu machen und es nun in sichere Hut zu geben. Auch wenn ich nicht mehr da bin, wird es jetzt bleiben als das, was es ist, ein Heim für Menschen, die in der Stille arbeiten wollen."(19)

Als treuer Freund des Hauses bewährte sich auch der katholische Pfarrer WILHELM RESTLE, der spätere Universalerbe HEDWIG MAUTHNERs, der sie lange Jahre subsidierte - was im Ort zu manchem Gerücht Anlaß gab. Als HEDWIG MAUTHNER 73jährig am 20. Juni 1945 im Glaserhäusle starb, zählte er die Frau mit dem "ungewöhnlichen Lebensweg" in seinem Nachruf mit zu denen, mit deren Namen es auf immer verbunden bleiben wird: "Hier im Glaserhäusle ist nicht nur die große Dichterin ANETTE lebendig geblieben, wie sie mit ihrem Gatten LEVIN im Garten sitzt und voll ahnender Sehnsucht hinüberschaut zum Säntis und hinab zum See: hier lebt auch FRITZ MAUTHNER nach, der in täglich 14-stündiger Arbeit all die Wortschälle und Phrasen zertrümmerte, die die Menschen immer wieder betören und in unsägliches Unglück stürzen; hier waltet auch weiter HEDWIG MAUTHNER, die edle Frau mit dem scharfen Verstande und dem gütigen Herzen, die das einsame Häuschen zu dem machte, was es heute ist und bleiben soll, zu einer Insel des Friedens, zu einer Stätte geistiger Arbeit und Forschung."(20)

Wohl ist HEDWIG MAUTHNER als Vestalin des Glaserhäusle im Gedächtnis zu behalten, die sie für ihre Freunde schon zu Lebzeiten war; vor allem aber gilt es immer noch, in HARRIET STRAUB eine außerordentliche Schriftstellerin zu entdecken.
LITERATUR - Manfred Bosch, Bohème am Bodensee, Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil am Bodensee 1997
    Anmerkungen
  1. H. Straub, Frau Unwichtig. In Bodenseebuch 1916, Seite 114
  2. Hedwig 0' Cunningham, Beutter-Büchlein. Erinnerungen an unseren Katecheten. Als Manuskript gedruckt. Freiburg 1909
  3. Harriet Straub, Zerrissene Briefe. München 1913, Seite 146f
  4. Die schwierig zu rekonstruierende biographische Situation der Autorin wurde grundlegend erhellt durch Felicitas Barg (Hamburg / Meersburg) und Herbert Burkhardt (Emmendingen).
  5. Harriet Straub, Zerrissene Briefe. München 1913, Seite 30
  6. Harriet Straub, Zerrissene Briefe. München 1913, Seite 30f
  7. Ludger Lütkehaus, Nachwort in H. Straub, Zerrissene Briefe. Gekürzte Neuausgabe Freiburg 1990, Seite 128
  8. Harriet Straub, Zerrissene Briefe. München 1913, Seite 78
  9. Harriet Straub, Zerrissene Briefe. München 1913, Seite 84ff
  10. Ludger Lütkehaus, Nachwort in H. Straub, Zerrissene Briefe. Gekürzte Neuausgabe Freiburg 1990, Seite 126
  11. Harriet Straub, Zerrissene Briefe. München 1913, Seite 86f
  12. Wilhelm Restle, Hedwig Mauthner in Bodenseebuch 1946, Seite 97
  13. Wilhelm Restle, Hedwig Mauthner in Bodenseebuch 1946, Seite 97
  14. Fritz Mauthner, Der letzte Tod des Gautama Buddha. München 1913, Seite 86
  15. Grete Gulbransson, Bodensee-Verzauberung. Das liebe Ich und die Zeitgenossen. In: Velhagen und Klasings Monatshefte 40 (1926), Heft 9, Seite 343
  16. Fritz Mauthner, Nachwort zum sechsten Band in ders., Ausgewählte Schriften. Stuttgart 1919, Seite 353
  17. Hedwig Mauthner, Fritz Mauthners Erbe in Die Weltbühne 22 (1926), Nr. 32, Seite 220f
  18. Zit. nach Joachim Kühn, Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk. Berlin/ New York 1975, Seite 278
  19. Zit. nach: Joachim Kühn, Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk. Berlin/ New York 1975, Seite 278
  20. Wilhelm Restle, Hedwig Mauthner in Bodenseebuch 1946, Seite 97