Mauthner's Rezeption der Zeitgenossen I I
Beiden Seiten führten ihren Kampf mit unangemessenen, übertriebenen Mitteln. Während MAUTHNERs Freunde und Anhänger vor lauter Bewunderung seine wissenschaftlichen Schwächen und Fehler, die keinesfalls geleugnet werden können, sehr großzügig übersahen oder bagatellisierten und seine betont antiwissenschaftliche Einstellung dafür umso kräftiger feierten, machten es sich viele Vertreter der wissenschaftlichen Fachdisziplinen zu leicht, wenn sie MAUTHNERs Werk entweder einfach ignorierten oder von vornherein als dilettantische Verirrung eines inkompetenten Verfassers disqualifizierten. Die bloße Bewunderung für den Mut eines Nichtfachmanns verfehlte die erforderliche Angemessenheit eines gerechten Werturteils ebenso wie der billige Vorwurf:
Auf dem Umweg über diese Rezeption durch eine stattlich Anzahl namhafter Kritiker und Feuilletonisten konnte wohl auch am ehesten die Wirkung auf die zeitgenössische deutsche Literatur erfolgen, wenn nicht ohnehin persönliche Beziehungen die Bekanntschaft der MAUTHNERschen Werke und das Interesse für seine sprachkritischen Ideen garantierten. Es war wiederum FRIEDRICH STERNBURG, der schrieb:
JULIUS BAB hat geschildert, wie sehr dieser Erwartungshorizont dem Werk MAUTHNERs entgegenkam. In seiner MAUTHNER-Feier zu dessen 70. Geburtstag teilt er "ein kleines Stück erlebter Wirklichkeit" mit, indem er von heftigen Disputen aus der eigenen Studentenzeit berichtet:
Und ich weiß, wir fühltens nicht nur, wir sprachen es aus, mehr als einmal: da unten, bei den Müttern allen Denkens, bei den Worten müßte ein Kritiker beginnen, der die Wahrheit wollte. Unser ganzes Vokabular, unsere ganze Denkmöglichkeit müßte er in Zweifel, in Entscheidung ziehen, vom tiefsten an bis in die letzten Verzweigungen hinein. Aber wer hätte die Kraft? wer den Mut? wer die ungeheuerliche Ausdauer und Geduld? Und plötzlich wies der eine schweigend in die Auslage eines Schaufensters. Ich glaube wir wurden beide blaß. Wir waren einen Augenblick still; atmeten tief, und dann sagte der andere: Da ist es ja. Da lag ein großer Band: Beiträge zu einer Kritik der Sprache von FRITZ MAUTHNER "(40).
Die Kontroverse um die Un- bzw. Antiwissenschaftlichkeit MAUTHNERs wurde nicht in erster Linie über inhaltliche, sondern über formale Elemente seines Werkes geführt. Mehr als das sprachtheoretische Programm und dessen thematische Durchführung erzeugte die besondere sprachliche, stilistische Form der MAUTHNERschen Schriften Differenzen und Beurteilung und Bewertung durch die verschiedenen Gruppierungen der Rezipienten. Die positiven Stimmen würdigten MAUTHNERs Schreibweise als wohltuende und fruchtbare Gegenreaktion gegen das herkömmliche, anachronistische Professorendeutsch.
HANS LINDAU hat diese allgemeine Reaktion auf MAUTHNERs Werk in einer knappen Formulierung vielleicht am treffendsten charakterisiert:
Was sich bei der heutigen wissenschaftlichen Erforschung MAUTHNERs als Symptom eines generellen Wissenschaftsproblems darstellt - die Frage welche Fachrichtung eigentlich für sein Gesamtwerk kompetent sei: die philosophische, psychologische, sprachwissenschaftlich- linguistische oder literaturwissenschaftliche -, war zu Lebzeiten des Autors kein Hindernis, sondern eher ein Vorteil für das Anfangsstadium der Rezeption. Man stellte sich nicht die eigentlich unfruchtbare Kompetenzfreage, man schätzte an MAUTHNERs Gesamtwerk ganz im Gegenteil gerade die Vielseitigkeit, die gegenseitigen Verweise, Einflüsse und Parallelen, die neue Bezüge zwischen Erkenntnistheorie, Psychologie, Naturwissenschaft, Kunst und Literatur herstellten. Die zeitgenössische Rezeption verstand MAUTHNERs gesamte schriftstellerische Produktion noch weitgehend als das Ergebnis eines einheitlichen Schaffensprozesses. Der Schriftsteller war ihnen zugleich Dichter, Journalist und Philosoph. Was uns heutigen Interpreten eher als Selbstüberschätzung eines "Universal-Schriftstellers", als das rastlose Suchen eines vielseitigen Geistes nach den ihm adäquaten Gattungen und Themenbereichen erscheint, wirkte zu MAUTHNERs Lebzeiten durch die integrierende Funktion seiner Persönlichkeit als organische und harmonische Einheit eines Lebenswerkes.
Die Frage der sachlichen und fachlichen Kompetenz MAUTHNERs für das schwierige Unternehmen einer sprachkritischen Erkenntnistheorie und das Problem seiner für wissenschaftliche Werke zumindest ungewöhnliche Schreibweise waren die beiden umstrittensten Komplexe innerhalb der zeitgenössischen Rezeption. Beide Kontroversen, bzw. Polemiken, haben die Aufmerksamkeit des breiten Lesepublikums jedoch eher angeregt als eingeschränkt. Einen entscheidenden kritischen Einwand behielten sich jedoch fast alle Rezensenten MAUTHNERs vor, auch seine überzeugtesten Befürworter und Anhänger: die Einschränkung und Zurücknahme der absoluten Radikalisierung und Verschärfung, die MAUTHNER den sprachkritischen Gedanken verliehen hatte. So sehr man den Weg seiner Argumentation und die zahlreichen Gedanken und Hinweise oft grundsätzlich bejahte, so eindeutig weigerten sich die meisten Leser, die agnostizistische und resignative Schlußfolgerung MAUTHNERs nachzuvollziehen. ALFRED KLAR, der Prager Jugendfreund, hat diese "optimistische" Abänderung der MAUTHNERschen Theorie klar und deutlich hervorgehoben:
Es zeigte sich auch in dieser Auseinandersetzung über MAUTHNER - wie in MAUTHNERs Werk selbst -, daß die gesteigerte erkenntnistheoretische Sprachkritik neben einem dichtungssprachlichen Sprachbegriff einhergehen konnte, der zwar die Spezifika der Dichtungssprache, ihren Unbestimmtheitscharakter und ihre metaphorische Eigenschaft vor allem, stark hervorhob, eine grundsätzliche literarische Sprachskepsis jedoch nicht kannte. Die Integration der erkenntnistheoretischen und dichtungsspezifischen Faktoren der Sprachkrise wurde auch von den an der Diskussion Beteiligten, zu denen LANDAUER, MAUTHNER selbst, RUDOLF KURTZ, ALFRED KERR, RENÉ SCHICKELE, RICHARD SCHAUKAL und SAMUEL LUBLINSKI gehörten, noch nicht geleistet(62). Jede Betrachtungsweise der Rezeptionsverhältnisse gelangt so immer wieder zu der annähernd gleichen Schlußfolgerung: MAUTHNER war zweifellos ein vielbeachteter, bekannter und auch gelesener Autor, der vornehmlich im Umkreis zeitgenössischer Literaten und Kritiker eine Art Signalfunktion für das Phänomen der Sprachkritik besaß. Sein Name und der Titel seines Werkes standen an erster Stelle und stellvertretend für eine allgemeine, weitreichende Zeitströmung. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, daß einem nachhaltigen und spürbaren Einfluß seiner Theorie auf die Literatur der Jahrhundertwende Grenzen gesetzt waren, weil einerseits eine Vielzahl der philosophisch- erkenntnistheoretischen Fragestellungen MAUTHNERs bereits bekannt waren, und weil andererseits die poetologische, dichtungsrelevante Konsequenz in seiner Sprachauffassung ausblieb. Aus diesem ambivalenten Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner, unspezifischer Wertschätzung und Anerkennung auf der einen und relativer Wirkungslosigkeit oder gar Ablehnung in speziellen Fragen auf der anderen Seite ist die Rezeptionsgeschichte MAUTHNERs nicht zu entlassen. Die Ungereimtheiten und Gegensätze, die bei der Durchsicht des vorhandenen Materials zur Wirkung MAUTHNERs auftreten, sollen und dürfen nicht verwischt werden. Die Aufnahme der MAUTHNERschen Werke erfolgte keineswegs einheitlich und geradlinig, sondern höchst unterschiedlich und wechselhaft. Demgemäß bedarf die Herstellung seiner Rezeptionsgeschichte immer wieder neuer Differenzierungen. Als Grundstruktur der Wirkungsgeschichte erkennen wir aber eine permanente Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch und der zum Teil unwissenschaftlichen Darbietung, zwischen der wahrscheinlich zu hoch gesteckten Aufgabe und ihrer betont literarischen Verarbeitung. Klärendes und Erhellendes finden sich in MAUTHNERs Sprachkriti sehr nahe bei Trivialitäten und Banalitäten; deshalb fielen die einzelnen Urteile auch so konträr und kontrovers aus. Wirksamkeit und Wirkungslosigkeit einzelner Passagen sind nicht eindeutig festzulegen. LUDWIG MARCUSE hat in seinem Nachruf MAUTHNERs Rolle glaubwürdig charakterisiert:
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
38) "Kritik der Sprache", Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) 39) Berliner Tageblatt vom 10.9. 1911 40) "Mauthner-Feier" in 'Die Schaubühne', 18.11. 1909, Seite 531 41) "Mauthner-Feier" in 'Die Schaubühne', 18.11. 1909, Seite 531f Der "sprachkritische Erwartungshorizont" der Zeit um 1900 kommt auch in dem ersten Korreferat zum Ausdruck, das die Zeitschrift "Gesellschaft" zu MAUTHNERs Werk veröffentlichte. "In der Tat gewinnt die Sprache, das Wort, im heutigen praktischen Leben eine Bedeutung, wie sie eine solche wohl noch nie in der Weltgeschichte gehabt hat. Wohin wir blicken, ist man dabei, sich aus der Sprache, dem Wort, ein 'Werkzeug' zu allen möglichen Zwecken zu schaffen. Sie beginnt allmählich die wahre Rolle eines 'Mittlers' zwischen allen menschlichen Worten anzunehmen. (...) Es scheint, daß das tief inne wohnende Bedürfnis des Menschen, zwischen sich und den Dingen nach einem 'Mittel', einem 'Mittler' zu suchen, sich in nie geahntem Grade auf die Sprache geworfen hat, die auch damit eine Last von 'Verantwortlichkeit' überkommt, wie nie zuvor." (in 'Gesellschaft', 6.12.1902, Seite 407f) 42) PAUL NIKOLAS COSSMANN, Fritz Mauthner als Philosoph, in 'Das literarische Echo', 5.Jhg., Heft 8, Januar 1903 43) EDUARD ENGEL, Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie, in 'Hamburger Fremdenblatt', 5.11.1911 44) RIC von CARLOWITZ-HARTITZSCH, Zur Sprachkritik, in 'Der Grenzboten', 2.7.1912, Seite 28 45) 'Kritik der Sprache', Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) Seite 418 46) HEINRICH JACOBS, Fritz Mauthner, in 'Das blaue Heft', Berlin, 4.2.1922, Seite 522 47) Literaturblatt für germanische und romanische Philologie, XL Jhg., Nr. 7/8, Juli-August 1919, Seite 204 DERNBURG schrieb zum dritten Band der Beiträge: "die Schönheit der Sprache in ihrer durchsichtigen Klarheit, ihrem Witz, ihrem beißenden Humor wie in ihrem aus dem Inneren strömenden Pathos treten in dem vorliegenden Band in gesteigertem Maße hervor." (Berliner Tageblatt, 4.1. 1903) EGON FRIEDELL lobte an "Der Atheismus im Abendland": "und vor allem: MAUTHNER ist ein vorzüglicher Schriftsteller, jeder seiner Sätze steht an 'notwendiger' Stelle und sagt so kurz, so einfach und so wohlgefügt, als es überhaupt möglich ist, das, was er auszudrücken hat." (Neues Wiener Journal, 1.8.1920) 48) Kritik der Sprache, Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) Seite 418 MAUTHNERs Werk ist flüchtig gearbeitet. Es gibt da kein milderes Wort. Es ist durch seine Sprunghaftigkeit oft ungemein ermüdend." (a.a.O. Seite 417) 49) Kritik der Sprache, Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) Seite 410 50) Zur Kritik der Sprache, in 'Nord und Sued', Dez. 1901, Seite 113 51) PAUL NIKOLAS COSSMANN, Ein Skeptiker, in 'Literarische Rundschau', Nr.429, 24. August 1901 52) MAUTHNERs "Wörterbuch der Philosophie" in 'Das Literarische Echo', 5.11.1911 53) ALFRED KLAAR, Der Kritiker der Sprache, in 'Vossische Zeitung' Nr. 546, 21.11.1909 (Sonntagsbeilage Nr. 47, Seite 370) 54) "Mauthner-Feier" in 'Die Schaubühne', 18.11. 1909, Seite 530 RICHARD MÜLLER-FREIENFELS urteilte ganz ähnlich: "Denn MAUTHNER ist Dichter, Philosoph und Kritiker, wo er scherzt und karikiert er philosophiert, kritisiert und karikiert auch, wo er dichtet, er treibt Poesie, Kritik und Scherz auch, wo er philosophiert, kurz, von welcher Seite man an ihn herankommt, stets findet man den ganzen MAUTHNER, dessen feinste Eigenart gerade in dieser Vielseitigkeit besteht, und der gerade durch diese Mischung vieler Fähigkeiten zu einer Stellung in unserer Literatur gelangt ist, die abseits der großen Heerstraße liegt und doch soe weit überragend ist, wie wenige." (Berliner Boersen-Courier, 22.11. 1919) 55) ALFRED KLAAR: Der Kritiker der Sprache, in 'Vossische Zeitung Nr.' 546, 21.11.1909 (Sonntagsbeilage Nr. 47, Seite 372) 56) Die Sprache und ihr Richter, in 'Die Nation', Nr. 6, 19.11.1901, Seite 91 57) JULIUS BAB: Fritz Mauthner, in 'Die Welt am Sonntag', 8.7.1923 58) JULIUS BAB: Fritz Mauthner, in 'Die Welt am Sonntag', 8.7.1923 59) vgl. dazu: JULIUS BAB: Kritik der Sprachkunst, in 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 10 (1907) Seite 173-181 60) JULIUS BAB: Kritik der Sprachkunst, in 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 10 (1907) Seite 174 61) JULIUS BAB: Kritik der Sprachkunst, in 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 10 (1907) Seite 181 62) vgl. dazu: 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 12 (1908) Seite 283-336. Auf die einzelnen Verfasser, Artikel und Argumentationen kann hier nicht näher eingegangen werden. 63) LUDWIG MARCUSE in 'Berliner Boersen-Courier', 30.6.1923 "In MAUTHNERs Skepsis gipfelt die historische und psychologische und erkenntnistheoretische Kritik eines Jahrhunderts." (a.a.O.) |