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WALTER ESCHENBACH
Mauthner's Rezeption
der Zeitgenossen

I I

Die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts
Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Sprache und Denken
Die Kommunikationskrise
Überwindung der Sprachkrise
"Einen entscheidenden kritischen Einwand behielten sich jedoch fast alle Rezensenten Mauthners vor, auch seine überzeugtesten Befürworter und Anhänger: die Einschränkung und Zurücknahme der absoluten Radikalisierung und Verschärfung, die Mauthner den sprachkritischen Gedanken verliehen hatte."

Beiden Seiten führten ihren Kampf mit unangemessenen, übertriebenen Mitteln. Während MAUTHNERs Freunde und Anhänger vor lauter Bewunderung seine wissenschaftlichen Schwächen und Fehler, die keinesfalls geleugnet werden können, sehr großzügig übersahen oder bagatellisierten und seine betont antiwissenschaftliche Einstellung dafür umso kräftiger feierten, machten es sich viele Vertreter der wissenschaftlichen Fachdisziplinen zu leicht, wenn sie MAUTHNERs Werk entweder einfach ignorierten oder von vornherein als dilettantische Verirrung eines inkompetenten Verfassers disqualifizierten. Die bloße Bewunderung für den Mut eines Nichtfachmanns verfehlte die erforderliche Angemessenheit eines gerechten Werturteils ebenso wie der billige Vorwurf:
    "Überhaupt sind die sogenannten  wissenschaftlichen  Termini in einem solchen Werke im Grund nur störend und überflüssig. Viele dieser MAUTHNERschen Aphorismen wären ansich ganz vortrefflich, wenn sie nicht auf  wissenschaftlichen  Stelzen einher schritten"(38).
Wir ersehen aus diesem Dualismus, daß die Wirkung MAUTHNERs durch berufs- und fachsoziologische Vorurteile nicht unwesentlich verzerrt und fehlgeleitet wurde. Was ihm in der potentiellen Rezipientenschicht wissenschaftlicher Fachgelehrter an Bedeutung und Beachtung verlorenging, konnte er durch das verstärkte Interesse einer breiten, literarisch interessierten Leserschaft wieder ausgleichen.

Auf dem  Umweg  über diese Rezeption durch eine stattlich Anzahl namhafter Kritiker und Feuilletonisten konnte wohl auch am ehesten die Wirkung auf die zeitgenössische deutsche Literatur erfolgen, wenn nicht ohnehin persönliche Beziehungen die Bekanntschaft der MAUTHNERschen Werke und das Interesse für seine sprachkritischen Ideen garantierten. Es war wiederum FRIEDRICH STERNBURG, der schrieb:
    "Und ich glaube, es ist keine Schande für ihn, daß er gerade in der weiten und breiten Bildungswelt bei den philosophischen Laien sein anschwellendes Publikum hat. So ungefähr ist es SCHOPENHAUER ergangen"(39).
Innerhalb dieser komplexen komlexen Leserschicht, die zudem die wissenschafliche Tradition der Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert nicht sehr genau gekannt haben dürfte, war die Wirkung der MAUTHNERschen Sprachkritik sehr beachtlich und nachhaltig, weil man hier - weithin vielleicht zum ersten Mal - die radikale theoretische Formulierung gewisser sprachkritischer Fragestellungen und Tatbestände vorfand, die man selbst bereits undeutlich und halbbewußt geahnt hatte. MAUTHNER traf den allgemeinen Zeitgeist und die Bewußtseinssituation des gebildeten Bürgertums der Jahrhundertwende recht gut.

JULIUS BAB hat geschildert, wie sehr dieser Erwartungshorizont dem Werk MAUTHNERs entgegenkam. In seiner MAUTHNER-Feier zu dessen 70. Geburtstag teilt er "ein kleines Stück erlebter Wirklichkeit" mit, indem er von heftigen Disputen aus der eigenen Studentenzeit berichtet:
    "Am Ende war ein Wort - und wir stockten. Wir erkannten, daß unser Streit um irgend ein Wort ging, das wir beide mit ganz verschiedenem Gefühl ausgestattet haben, und daß es keine weitere Instanz gab, keine Entscheidung über den  rechten  Sinn dieses Worts. (...)

    Und ich weiß, wir fühltens nicht nur, wir sprachen es aus, mehr als einmal: da unten, bei den Müttern allen Denkens, bei den Worten müßte ein Kritiker beginnen, der die Wahrheit wollte. Unser ganzes Vokabular, unsere ganze Denkmöglichkeit müßte er in Zweifel, in Entscheidung ziehen, vom tiefsten an bis in die letzten Verzweigungen hinein.

    Aber wer hätte die Kraft? wer den Mut? wer die ungeheuerliche Ausdauer und Geduld? Und plötzlich wies der eine schweigend in die Auslage eines Schaufensters. Ich glaube wir wurden beide blaß. Wir waren einen Augenblick still; atmeten tief, und dann sagte der andere:  Da ist es ja.  Da lag ein großer Band:  Beiträge zu einer Kritik der Sprache  von FRITZ MAUTHNER "(40).
Weil das Buch zu teuer gewesen sei, um es zu kaufen, dauerte es eine gewisse Zeit, bis man es ausleihen und lesen konnte.
    "Und es hielt vieles, vieles von dem, was wir uns versprochen hatten. Aber hätte es das auch weniger getan, und mögen einzelne seiner Wendungen auch zu überwinden sein, in seinem eigenen Geiste zu überwinden; ich werde immer glauben, daß die Lebenskraft, der Lebenswert, das unvergängliche Verdienst eines Buches, seine tiefste Notwendigkeit und Zeitberechtigung erwiesen ist, wenn solchen jungen Wahrheitssuchern beim Anblick seines bloßen Titels der Atem stockt und das Herz schneller schlägt"(41).
MAUTHNERs Werk fiel in eine "Zeit der großen Worte", die aber zugleich auch eine Epoche vermehrter Sprachreflexion und erhöhten Sprachbewußtseins war; nicht nur im engen Sinn der philosophischen Erkenntnistheorie, sondern im umfassenden Rahmen der ästhetischen, semantischen und pragmatischen Funktion der Sprache. In dieser Ausweitung der Betrachtungsweise auf die allgemeine Sprachsituation, die vom Gefühl einer Inflation der Sprache ebenso geprägt war wie von der Überschätzung und dem Mißbrauch der Macht der Worte, stößt man auf den tatsächlichen geistigen, kulturellen und politischen Hintergrund der Rezeption MAUTHNERs, die sich nicht innerhalb einer begrenzten, wissenschaftlich vorgebildeten Leserschaft abgespielt hat, sondern weit über den Kreis der eigentlich betroffenen Fachgelehrten hinausging. Die kritische Wendung gegen die Sprache konnte von vielen sprachinteressierten Zeitgenossen als ein längst notwendiger Reinigungsakt der bestehenden Sprachzustände aufgenommen werden.

Die Kontroverse um die Un- bzw. Antiwissenschaftlichkeit MAUTHNERs wurde nicht in erster Linie über inhaltliche, sondern über formale Elemente seines Werkes geführt. Mehr als das sprachtheoretische Programm und dessen thematische Durchführung erzeugte die besondere sprachliche, stilistische Form der MAUTHNERschen Schriften Differenzen und Beurteilung und Bewertung durch die verschiedenen Gruppierungen der Rezipienten. Die positiven Stimmen würdigten MAUTHNERs Schreibweise als wohltuende und fruchtbare Gegenreaktion gegen das herkömmliche, anachronistische Professorendeutsch.
    "Das Äußere, die literarische Form, unterscheidet sich wesentlich von dem, was man an wissenschaftlichen Werken gewohnt ist"(42).
Der essayistisch-aphoristische Stil wurde als zusätzliches formales Element der Sprachkritik empfunden.
    "Der Unterschied zwischen dem Philosophen aus freier Eigenwahl FRITZ MAUTHNER und den Philosophen in irgendwelcher Amtsstellung ist unter anderem der, daß der freie Schriftsteller MAUTHNER einen Stil schreibt, der das geschriebene Wort durchweg dem Verständnis des Lesers vermittelt, während noch heute mit wenigen Ausnahmen - ich nenne rühmend EUCKEN - die berufsmäßigen Philosophen durch ihre Schreibweise eine Schranke zwischen sich und der bildungsbedürftigen Leserwelt aufrichten"(43).
Der gleiche Sachverhalt konnte aber auch gerade umgekehrt beurteilt werden.
    "Der burschikose Einschlag, der für das Zynische von heute charakteristisch ist, läßt leider nicht immer einen literarischen Genuß aufkommen, (...) Mit dieser literarischen Absicht seines Stils stellt sich MAUTHNER ebenso herausfordernd außerhalb der Schultradition wie SCHOPENHAUER, mit dem er auch die Polemik gegen die "Professorenphilosophie" teilt, doch ohne die Innigkeit seines Hasses zu erreichen"(44).
Für die einen war in MAUTHNERs Sprachkritik "ein bestimmter Zeitungs- und Börsenjargon schlechthin unerträglich"(45); die anderen schwärmten:
    "MAUTHNER weiß  pikant und verständlich  zu plaudern, das heißt: er handhabt die Sprache mit der seltenen Künstlerschaft eines SCHOPENHAUER und NIETZSCHE; die es nicht können, nennen's Feuilletonismus"(46).
Sogar LEO SPITZER, der Universitätsgelehrte, rühmte den Stil MAUTHNERs:
    "Noch ein Umstand hindert das lernende Publikum, sich mit MAUTHNER zu befassen: man lache nicht: - sein  guter Stil.  MAUTHNER schreibt zu geistreich-spitz, zu paradox-leichtfedernd, als daß man ihn in wissenschaftlichen Kreisen für  tief  hielte"(47).
Demgegenüber erschien in den ablehnenden Kritiken ein verzerrtes Bild von MAUTHNERs Stil und Sprache.
    "Endlich hat MAUTHNER den fatalen Ehrgeiz, um jeden Preis jene gewisse Berliner Schnoddrigkeit zu bewähren, halb belustigende, halb ärgernde Witzeleien - und besitzt in hohem Grade, was wir Juden mit einem bezeichnenden hebräischen Worte  Chutzpe  nennen. Das ist oft nicht recht würdig. Ausdrücke geraten häufig zu stark, zu superlativisch"(48).
Die Frage der jüdischen Spezifika in MAUTHNERs Denken und Schreiben wird eigentlich nur in dieser einen Rezension - eines Juden interessanterweise - so kritisch hervorgehoben.
    "Die größere Gruppe von Einwänden, die sich gegen MAUTHNERs Arbeit erheben müssen, hätte sich einer Psychologie der spezifisch  jüdischen  Intelligenz anzugliedern; jener Talente, die dem modernen Journalismus nahezu einheitliches Gepräge geben. Hier ist FRITZ MAUTHNER eben ein  Typus"  (49).
Aus all diesen Zitaten ergibt sich für uns ein sehr uneinheitliches, schillerndes Bild der Wirkung MAUTHNERs, von totaler Ablehnung bisz zu höchster Bewunderung reichend. Selbst wenn man annehmen muß, daß die umfangreichsten Bände nur von einer ziemlich kleinen Schicht wirklich interessierten Leser ganz zu Ende gelesen und aufmerksam studiert worden sind, bleibt doch das Faktum einer recht beachtlichen Resonanz und Ausstrahlung bestehen, wie es die ausführlichen und engagierten Besprechungen bezeugen. Der Quantitäts- und Qualitätsgrad der Rezensionen läßt zweifellos Rüchschlüsse auf das Ausmaß und Niveau der Rezeption ingesamt zu.

HANS LINDAU hat diese allgemeine Reaktion auf MAUTHNERs Werk in einer knappen Formulierung vielleicht am treffendsten charakterisiert:
    "Es ist eine machtvolle Idee, mag die Ausführung nun ausfallen, wie sie wolle, die Problemstellung bleibt eine sehr hohe, vielleicht das Augenmaß eines Sterblichen weit überschreitende; denn von welchem Standpunkt aus soll Einer, der in der Sprache lebt, die Sprache aus den Angeln heben? Wo soll er stehen und zufassen?"(50)
Die Anerkennung für eine ungewöhnliche Anstrengung wurde MAUTHNER fast nie verweigert.
    "Ein solches Buch schreibt man überhaupt nicht, weil man ein Buch schreiben will - dazu ist das Unternehmen zu gefahrvoll -, sondern weil man muß; einer mußte in diesen Abgrund hinabspringen, nicht angeseilt an die wohltätige Sprache: wir müssen MAUTHNER danken, daß er diesen Sprung gewagt hat, den die Geschichte der Philosophie verzeichnen wird"(51).
Die Rezeption MAUTHNERs war also - neben aller sachlichen Kritik im einzelnen - stets geprägt von einer grundlegenden Wertschätzung des ungeheuren Unterfangens, dem ehrlichen Respekt vor einer unvergleichlichen Arbeitsleistung. RUDOLF UNGER faßte dieses Urteil in die Sätze:
    "Dies Buch ist nur für wenige geschrieben. Aber wäre es nicht wahrhaftig zu wünschen, daß jeder sich zu diesen wenigen rechnet?" (52)
Hinzu kam, daß die Wirkung des Sprachkritikers MAUTHNER zu seinen Lebzeiten immer noch stark verbunden war mit der Bekanntheit des Schriftstellers und Literaten MAUTHNER. Das beschränkte sich nicht auf die Tatsache der Identität des Verfassers, sondern betraft vielmehr eine innere Verwandtschaft zwischen den theoretischen und erzählenden Schriften, die man in den zeitgenössischen Rezensionen wiederholt festzustellen glaubte.

Was sich bei der heutigen wissenschaftlichen Erforschung MAUTHNERs als Symptom eines generellen Wissenschaftsproblems darstellt - die Frage welche Fachrichtung eigentlich für sein Gesamtwerk kompetent sei: die philosophische, psychologische, sprachwissenschaftlich- linguistische oder literaturwissenschaftliche -, war zu Lebzeiten des Autors kein Hindernis, sondern eher ein Vorteil für das Anfangsstadium der Rezeption. Man stellte sich nicht die eigentlich unfruchtbare Kompetenzfreage, man schätzte an MAUTHNERs Gesamtwerk ganz im Gegenteil gerade die Vielseitigkeit, die gegenseitigen Verweise, Einflüsse und Parallelen, die neue Bezüge zwischen Erkenntnistheorie, Psychologie, Naturwissenschaft, Kunst und Literatur herstellten.

Die zeitgenössische Rezeption verstand MAUTHNERs gesamte schriftstellerische Produktion noch weitgehend als das Ergebnis eines einheitlichen Schaffensprozesses. Der Schriftsteller war ihnen zugleich Dichter, Journalist und Philosoph. Was uns heutigen Interpreten eher als Selbstüberschätzung eines "Universal-Schriftstellers", als das rastlose Suchen eines vielseitigen Geistes nach den ihm adäquaten Gattungen und Themenbereichen erscheint, wirkte zu MAUTHNERs Lebzeiten durch die integrierende Funktion seiner Persönlichkeit als organische und harmonische Einheit eines Lebenswerkes.
    "Heute, da wir auf MAUTHNERs Laufbahn zurückblicken, ist der Zusammenhang zwischen jenen Satiren, die ihm zuerst einen literarischen Namen machten und seiner Sprachkritik, die ihn in die vordere Reihe unserer bedeutenden, tiefanregenden Denker stellt, ein unverkennbarer. Jenes Buch war seine erste Sprachkritik" (53).
Auch JULIUS BAB ehrte MAUTHNERs Werk zu dessen 70. Geburtstag "nicht in dichterischer, noch in journalistischer, noch in wissenschaftlicher Terminologie", weil es "nicht von einem Dichter oder Journalisten oder Gelehrten stammt, sondern von einem, der diesen drei verwandt, aber ein andrer, ein unvergleichlich Eigener, Lebendiger ist" (54).

Die Frage der sachlichen und fachlichen Kompetenz MAUTHNERs für das schwierige Unternehmen einer sprachkritischen Erkenntnistheorie und das Problem seiner für wissenschaftliche Werke zumindest ungewöhnliche Schreibweise waren die beiden umstrittensten Komplexe innerhalb der zeitgenössischen Rezeption. Beide Kontroversen, bzw. Polemiken, haben die Aufmerksamkeit des breiten Lesepublikums jedoch eher angeregt als eingeschränkt.

Einen entscheidenden kritischen Einwand behielten sich jedoch fast alle Rezensenten MAUTHNERs vor, auch seine überzeugtesten Befürworter und Anhänger: die Einschränkung und Zurücknahme der absoluten Radikalisierung und Verschärfung, die MAUTHNER den sprachkritischen Gedanken verliehen hatte. So sehr man den Weg seiner Argumentation und die zahlreichen Gedanken und Hinweise oft grundsätzlich bejahte, so eindeutig weigerten sich die meisten Leser, die agnostizistische und resignative Schlußfolgerung MAUTHNERs nachzuvollziehen.

ALFRED KLAR, der Prager Jugendfreund, hat diese "optimistische" Abänderung der MAUTHNERschen Theorie klar und deutlich hervorgehoben:
    "Offen gestehe ich hier, daß ich mich vor dem letzten Schlusse MAUTHNERs nicht zu beugen vermag. (...) Man kann den Klagen aller Großen über die Unvollkommenheit der Sprache beistimmen und den Ausspruch FRIEDRICH von SALLETs unterzeichnen:  "Das Wort, das Sache selber ist, das suchen wir vergebens"  und sich dennoch zu der Hoffnung berechtigt glauben, daß die Schärfung der Sinne und die Vervollkommnung ihres Gebrauches einerseits und die Gewissenhaftigkeit des Gedächtnisses andererseits rastlos im Fortschritte begriffen sind und die Verständigung über schwierige Probleme vertiefen und erweitern können, wenn auch die Erkenntnis eines letzten Grundes ausgeschlossen ist" (55).
Auch der Literaturhistoriker R.M. MEYER gab zu bedenken:
    "Zunächst geht er (MAUTHNER) viel zu weit in dem Urteil über die allgemeine Zweideutigkeit und Unzuverlässigkeit der Sprache" (56).
Anstatt die absolute Sprachverzweiflung und die Behauptung von der Erkenntnislosigkeit alles Wirklichen zu teilen, suchte man mit Vorliebe die "positive Kraft", die "von diesem vielberufenen Verneiner, Zweifler, Zerstörer ausging" (57). Ähnlich wie LANDAUER versuchte BAB, im Anschluß an MAUTHNER Sprachzerstörung eine neue Sprachrekonstruktion anzuregen, die in schöpferisches Handeln übergehen sollte.
    "Hier ging es hindurch zu  neuem  Glauben,  wahren  Gedanken,  echten  Taten! So ungeheuer viel Leben spürten wir aus dem Tod der Ideen, der Wort-Hülsen wachsen. So tiefe Bejahung war in der Wirkung mit dieser Verneinung verkettet!"(58)
BAB war es auch, der in einem programmatischen Aufsatz MAUTHNERs Sprachkritik als Ausgangspunkt für eine Erneuerung und Niveauverbesserung der Literaturkritik seiner Zeit wählte (59). So wie MAUTHNER die Sprache zum zentralen, alleinigen Thema und Gegenstand der Erkenntniskritik gemacht habe, müsse sich nun auch die literarische Kunstkritik mehr als bisher auf das Medium der Dichtkunst, die Sprache, konzentrieren.
    "Kritik von Dichtwerken hätte also in erster Linie es mit den Worten (den Elementen der Sprache) und mit der Sprachbeherrschung (der diese Elemente ordnenden Formkraft) zu tun. Eine fruchtbare Kritik  in poeticis  wäre also eine Kritik der Sprachkunst. Ich wiederhole, daß wir diese (von zaghaften Anfängen vielleicht abgesehen) heute nicht besitzen"(60).
BABs Kritik konnte vielleicht den Teil der zeitgenössischen Literaturkritik, der sich zu sehr auf Inhaltliches oder rein Geisteswissenschaftliches beschränkt hatte, treffen, bedeutete aber insgesamt keineswegs eine adäquate oder stringente Übertragung der MAUTHNERschen Sprachkritik auf die Kritik der Dichtkunst, wie sie auch kaum zu leisten gewesen wäre. Es blieb bei einem bloßen Lippenbekenntnis:
    "Mancherlei Zeichen sind im Lande, daß die Zeit dieser Kritik der Sprachkunst kommen wird. Wenn diese Zeit kommt, so wird auf unseren ersten Dank immer der Mann Anspruch haben, der als ein erster Beweger der Atmosphäre unseres sprachlichen Denkens erschüttert hat: FRITZ MAUTHNER "(61)
Diese "Erschütterung des Denkens" war durch andere Denker und Dichter längst vorbereitet und auch bereits erzeugt worden; MAUTHNER scheint jedoch für eine gewisse Zeit in weiten Kreisen als der Initiator und führende Vertreter der sprachkritischen Richtung gegolten zu haben. An BABs Aufsatz z.B., der als Provokation gedacht war, schloß sich eine lebhafte Diskussion an, in der wiederholt auf MAUTHNERs sprachkritische Gedanken zurückgegriffen wurde - wenngleich auch hier nur andeutungsweise und sehr allgemein.

Es zeigte sich auch in dieser Auseinandersetzung über MAUTHNER - wie in MAUTHNERs Werk selbst -, daß die gesteigerte erkenntnistheoretische Sprachkritik neben einem dichtungssprachlichen Sprachbegriff einhergehen konnte, der zwar die Spezifika der Dichtungssprache, ihren Unbestimmtheitscharakter und ihre metaphorische Eigenschaft vor allem, stark hervorhob, eine grundsätzliche literarische Sprachskepsis jedoch nicht kannte. Die Integration der erkenntnistheoretischen und dichtungsspezifischen Faktoren der Sprachkrise wurde auch von den an der Diskussion Beteiligten, zu denen LANDAUER, MAUTHNER selbst, RUDOLF KURTZ, ALFRED KERR, RENÉ SCHICKELE, RICHARD SCHAUKAL und SAMUEL LUBLINSKI gehörten, noch nicht geleistet(62).

Jede Betrachtungsweise der Rezeptionsverhältnisse gelangt so immer wieder zu der annähernd gleichen Schlußfolgerung: MAUTHNER war zweifellos ein vielbeachteter, bekannter und auch gelesener Autor, der vornehmlich im Umkreis zeitgenössischer Literaten und Kritiker eine Art Signalfunktion für das Phänomen der Sprachkritik besaß. Sein Name und der Titel seines Werkes standen an erster Stelle und stellvertretend für eine allgemeine, weitreichende Zeitströmung.

Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, daß einem nachhaltigen und spürbaren Einfluß seiner Theorie auf die Literatur der Jahrhundertwende Grenzen gesetzt waren, weil einerseits eine Vielzahl der philosophisch- erkenntnistheoretischen Fragestellungen MAUTHNERs bereits bekannt waren, und weil andererseits die poetologische, dichtungsrelevante Konsequenz in seiner Sprachauffassung ausblieb. Aus diesem ambivalenten Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner, unspezifischer Wertschätzung und Anerkennung auf der einen und relativer Wirkungslosigkeit oder gar Ablehnung in speziellen Fragen auf der anderen Seite ist die Rezeptionsgeschichte MAUTHNERs nicht zu entlassen.

Die Ungereimtheiten und Gegensätze, die bei der Durchsicht des vorhandenen Materials zur Wirkung MAUTHNERs auftreten, sollen und dürfen nicht verwischt werden. Die Aufnahme der MAUTHNERschen Werke erfolgte keineswegs einheitlich und geradlinig, sondern höchst unterschiedlich und wechselhaft. Demgemäß bedarf die Herstellung seiner Rezeptionsgeschichte immer wieder neuer Differenzierungen. Als Grundstruktur der Wirkungsgeschichte erkennen wir aber eine permanente Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch und der zum Teil unwissenschaftlichen Darbietung, zwischen der wahrscheinlich zu hoch gesteckten Aufgabe und ihrer betont literarischen Verarbeitung.

Klärendes und Erhellendes finden sich in MAUTHNERs Sprachkriti sehr nahe bei Trivialitäten und Banalitäten; deshalb fielen die einzelnen Urteile auch so konträr und kontrovers aus. Wirksamkeit und Wirkungslosigkeit einzelner Passagen sind nicht eindeutig festzulegen. LUDWIG MARCUSE hat in seinem Nachruf MAUTHNERs Rolle glaubwürdig charakterisiert:
    "MAUTHNER wirkte tief auf die Besten seiner Zeit. MAUTHNER lehrte uns die tiefe Verborgenheit und Unzulänglichkeit des Namenlosen; MAUTHNER lehrte uns die Ehrfurcht vor dem Namenlosen. Wir gedenken ehrfürchtig MAUTHNERs, weil er selbst ein Ehrfürchtiger war - und müssen trotzdem wieder die Namengebung des Namenlosen versuchen" (63).

LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    38) "Kritik der Sprache", Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername)
    39) Berliner Tageblatt vom 10.9. 1911
    40) "Mauthner-Feier" in 'Die Schaubühne', 18.11. 1909, Seite 531
    41) "Mauthner-Feier" in 'Die Schaubühne', 18.11. 1909, Seite 531f
    Der "sprachkritische Erwartungshorizont" der Zeit um 1900 kommt auch in dem ersten Korreferat zum Ausdruck, das die Zeitschrift "Gesellschaft" zu MAUTHNERs Werk veröffentlichte. "In der Tat gewinnt die Sprache, das Wort, im heutigen praktischen Leben eine Bedeutung, wie sie eine solche wohl noch nie in der Weltgeschichte gehabt hat. Wohin wir blicken, ist man dabei, sich aus der Sprache, dem Wort, ein 'Werkzeug' zu allen möglichen Zwecken zu schaffen. Sie beginnt allmählich die wahre Rolle eines 'Mittlers' zwischen allen menschlichen Worten anzunehmen. (...) Es scheint, daß das tief inne wohnende Bedürfnis des Menschen, zwischen sich und den Dingen nach einem 'Mittel', einem 'Mittler' zu suchen, sich in nie geahntem Grade auf die Sprache geworfen hat, die auch damit eine Last von 'Verantwortlichkeit' überkommt, wie nie zuvor." (in 'Gesellschaft', 6.12.1902, Seite 407f)
    42) PAUL NIKOLAS COSSMANN, Fritz Mauthner als Philosoph, in 'Das literarische Echo', 5.Jhg., Heft 8, Januar 1903
    43) EDUARD ENGEL, Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie, in 'Hamburger Fremdenblatt', 5.11.1911
    44) RIC von CARLOWITZ-HARTITZSCH, Zur Sprachkritik, in 'Der Grenzboten', 2.7.1912, Seite 28
    45) 'Kritik der Sprache', Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) Seite 418
    46) HEINRICH JACOBS, Fritz Mauthner, in 'Das blaue Heft', Berlin, 4.2.1922, Seite 522
    47) Literaturblatt für germanische und romanische Philologie, XL Jhg., Nr. 7/8, Juli-August 1919, Seite 204
    DERNBURG schrieb zum dritten Band der Beiträge: "die Schönheit der Sprache in ihrer durchsichtigen Klarheit, ihrem Witz, ihrem beißenden Humor wie in ihrem aus dem Inneren strömenden Pathos treten in dem vorliegenden Band in gesteigertem Maße hervor." (Berliner Tageblatt, 4.1. 1903)
    EGON FRIEDELL lobte an "Der Atheismus im Abendland": "und vor allem: MAUTHNER ist ein vorzüglicher Schriftsteller, jeder seiner Sätze steht an 'notwendiger' Stelle und sagt so kurz, so einfach und so wohlgefügt, als es überhaupt möglich ist, das, was er auszudrücken hat." (Neues Wiener Journal, 1.8.1920)
    48) Kritik der Sprache, Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) Seite 418 MAUTHNERs Werk ist flüchtig gearbeitet. Es gibt da kein milderes Wort. Es ist durch seine Sprunghaftigkeit oft ungemein ermüdend." (a.a.O. Seite 417)
    49) Kritik der Sprache, Zwei Korreferate, in 'Gesellschaft', 6.12.1902 (ohne Verfassername) Seite 410
    50) Zur Kritik der Sprache, in 'Nord und Sued', Dez. 1901, Seite 113
    51) PAUL NIKOLAS COSSMANN, Ein Skeptiker, in 'Literarische Rundschau', Nr.429, 24. August 1901
    52) MAUTHNERs "Wörterbuch der Philosophie" in 'Das Literarische Echo', 5.11.1911
    53) ALFRED KLAAR, Der Kritiker der Sprache, in 'Vossische Zeitung' Nr. 546, 21.11.1909 (Sonntagsbeilage Nr. 47, Seite 370)
    54) "Mauthner-Feier" in 'Die Schaubühne', 18.11. 1909, Seite 530
    RICHARD MÜLLER-FREIENFELS urteilte ganz ähnlich: "Denn MAUTHNER ist Dichter, Philosoph und Kritiker, wo er scherzt und karikiert er philosophiert, kritisiert und karikiert auch, wo er dichtet, er treibt Poesie, Kritik und Scherz auch, wo er philosophiert, kurz, von welcher Seite man an ihn herankommt, stets findet man den ganzen MAUTHNER, dessen feinste Eigenart gerade in dieser Vielseitigkeit besteht, und der gerade durch diese Mischung vieler Fähigkeiten zu einer Stellung in unserer Literatur gelangt ist, die abseits der großen Heerstraße liegt und doch soe weit überragend ist, wie wenige." (Berliner Boersen-Courier, 22.11. 1919)
    55) ALFRED KLAAR: Der Kritiker der Sprache, in 'Vossische Zeitung Nr.' 546, 21.11.1909 (Sonntagsbeilage Nr. 47, Seite 372)
    56) Die Sprache und ihr Richter, in 'Die Nation', Nr. 6, 19.11.1901, Seite 91
    57) JULIUS BAB: Fritz Mauthner, in 'Die Welt am Sonntag', 8.7.1923
    58) JULIUS BAB: Fritz Mauthner, in 'Die Welt am Sonntag', 8.7.1923
    59) vgl. dazu: JULIUS BAB: Kritik der Sprachkunst, in 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 10 (1907) Seite 173-181
    60) JULIUS BAB: Kritik der Sprachkunst, in 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 10 (1907) Seite 174
    61) JULIUS BAB: Kritik der Sprachkunst, in 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 10 (1907) Seite 181
    62) vgl. dazu: 'Kritik der Kritik', Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde, Hrsg. A. Halbert/ Leo Horwitz, 2. Band, Heft 12 (1908) Seite 283-336. Auf die einzelnen Verfasser, Artikel und Argumentationen kann hier nicht näher eingegangen werden.
    63) LUDWIG MARCUSE in 'Berliner Boersen-Courier', 30.6.1923
    "In MAUTHNERs Skepsis gipfelt die historische und psychologische und erkenntnistheoretische Kritik eines Jahrhunderts." (a.a.O.)