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FRITZ MAUTHNER
Schriftsprache
II-11

"Wer spricht nun aber diese richtige Schriftsprache richtig? Die Geistlichen nicht, denn ihr Jargon geht offenkundig noch viel weiter zurück, ist entweder lateinisch oder ein geziert erneuertes Lutherisch. Die gelehrten Geschäftsleute unter den Ärzten und Juristen nicht, da sie vom Volk nicht mehr verstanden werden, sobald sie ihre Geheimsprache reden."

Und so kehren wir zu unserer Frage zurück. Wer spricht richtig? Niemand oder jeder. Es kommt ganz auf den Sinn der Frage an. Wann sprechen wir richtig? Niemals oder immer. Denn es gibt keine mustergültige Gemeinsprache, sie ist eine Abstraktion, wie die Sprache außerhalb der Individualsprache überhaupt eine Abstraktion ist. Da man aber geneigter sein wird, mir für die gedruckte Schriftsprache als für die gesprochene Gemeinsprache zuzugestehen, daß sie eine tote Abstraktion sei, so muß noch mit einem Wort gesagt werden, wie es gerade ohne die Druckschrift vielleicht niemals zu unseren umfassenden Gemeinsprachen gekommen wäre. Es ist aber eine einfache Tatsache, daß es im Mittelalter eine gemeinsame Schriftsprache nicht gab; jede Landschaft schrieb ungefähr, wie sie ungefähr sprach. Es läßt sich wohl denken, daß (was auch nachgewiesen ist) die Schriftsprache bei Gelegenheit von Abschriften für entfernte Landschaften geändert wurde, so wie der Schwabe etwa seine Mundart zu ändern bemüht war, wenn er auf fränkischem Boden stand. Erst wenn der Oberdeutsche unter Niederdeutsche geriet, glaubte er wohl unter fremden Menschen zu sein.

Das wurde anders, als die bequeme Maschine ein Literaturprodukt in vielen tausend Exemplaren für ganz Deutschland auf einmal herstellen konnte. Was heißt das: für ganz Deutschland. Jetzt heißt es: für alle hochdeutsch redenden und verstehenden Menschen von Riga bis Basel. Was hieß es aber damals, als die Buchdruckerkunst erst erfunden worden war? Damals hieß es: zu der Buchdruckerkunst, die unzählige gleiche Abdrücke machen konnte, die Schriftsprache hinzu erfinden, die von Unzähligen verstanden wurde. Das soll natürlich nicht heißen, daß die Erfinder planmäßig darauf ausgingen. Aber es war nicht anders. Volksbedürfnis und Geschäftsinteresse der Drucker wirkten zusammen, daß man sich langsam auf eine verstandene (passiv geübte) Schriftsprache einigte, die dann endlich, aktiv geübt, zur geredeten Gemeinsprache wurde. Auf die Gefahr, unsere Sprachphilosophen zu kränken, will ich den Vorgang mit Geschäftsunternehmungen aus unseren Tagen vergleichen. Als das Petroleum von großen Unternehmern als neues Leuchtmaterial in den Handel gebracht wurde, gab es in den verschiedenen Volksgruppen viele andere Beleuchtungskörper im Gebrauch. Nur die Leute, welche die Moderateur- Öllampen besaßen, kamen nun mit einer leichten Anpassung davon; die Unternehmer erfanden Petroleumbecken, die sich bequem gegen die Ölbecken umtauschen ließen. Auf dem Dorfe aber, wo noch der Kienspan brannte oder das offene Öllämpchen, ging es nicht mit der Anpassung. Man behielt das alte Licht bei, bis man sich eines Tages - aber nur für den Sonntag - zur Anschaffung einer ganz neuen Petroleumlampe entschloß, als sie wohlfeil geworden war. Was ist nun gegenwärtig "das" Licht? Ist es die Petroleumlampe, die in allen Hütten leuchtet? oder ist es das elektrische Licht der Städter? oder ist es das Ideal, TESLAs Licht der Zukunft?

Wer spricht nun aber diese richtige Schriftsprache richtig? Die Geistlichen nicht, denn ihr Jargon geht offenkundig noch viel weiter zurück, ist entweder lateinisch oder ein geziert erneuertes Lutherisch. Die gelehrten Geschäftsleute unter den Ärzten und Juristen nicht, da sie vom Volk nicht mehr verstanden werden, sobald sie ihre Geheimsprache reden. Die Redner nicht, da sie längst von den Dichtern gelernt haben, der Umgangssprache ihre Wirkungen abzulauschen. Endlich die Dichter selbst nicht, weil nur noch wenige unter ihnen sich für Pfaffen genug halten, um sich das Recht auf besondere Freiheiten zuzusprechen. Niemand spricht die Schriftsprache, sie ist gar nicht in Wirklichkeit vorhanden. Sie ist wieder nur die Resultierende aus den tausend Eigenheiten, die die unzähligen belesenen und beschriebenen Volksgenossen sprechen und schreiben. Sie ist wieder nur eine Abstraktion.

Noch einmal: wann sprechen wir richtig? Und wieder genauer: wann spreche ich richtig? Oder: wie bin ich zu der Sprache gekommen, die ich jetzt für richtig halte, so wie ich zu jeder anderen Zeit meine Sprache für richtig gehalten habe? Das Beispiel wird belehrend sein, weil es ein ganz alltägliches Beispiel ist und ganz persönlich und darum sicher gut beoachtet.

Ich bin Ende der vierziger Jahre im Nordosten Böhmens geboren. Dort lernte ich - nach Landesbrauch - zuerst ein paar tschechische Worte; mit den Kindern bis zum dritten Jahre sprechen auch deutsche Eltern tschechisch, weil die Amme Tschechin ist. Dann lernte ich Deutsch; von meinem Vater, der ohne eigentliche Sachkenntnis sehr viel auf gebildete Sprache hielt, ungefähr die Gemeinsprache der Deutschböhmen mit einem leisen Zug nachgeahmter österreichischer Armeesprache; von der Mutter das Deutsch meines Großvaters: viele veraltende Wort- und Satzformen prächtiger altfränkischer Prägung (er stammte aus dem 18. Jahrhundert), dazu einige jüdische Worte und Klanggewohnheiten, endlich alamodisches Einflicken französischer Zierformen. Wir hatten dann einen Hauslehrer- er lehrte uns in harter Aussprache ein charakterloses "reines Deutsch", das in Böhmen übliche. Ich sagte: "ohne dem", "am Land", ich zweifelte nicht daran, daß "Powidl" ein deutsches Wort sei. Es folgte die Zeit des Gymnasiums; die Lehrer unseres Piaristengymnasiums waren im ganzen unwissend, ungebildet, überdies fast ohne Ausnahme Tschechen, die uns ein abscheuliches Slawischdeutsch bewußt und unbewußt beizubringen suchten. Ich bemerke, daß ich hier natürlich - es wäre ebenso unmöglich wie langweilig - unterlassen habe, alle die Dienstmädchen und Straßenkinder, oder auch nur die Geschwister und Verwandten aufzuzählen, die meine Individualsprache mit gebildet haben; ebenso unterlasse ich es, auf die Schulkameraden einzeln hinzuweisen, die jetzt und später selbst durch mich beeinflußt - mich wieder beeinflußten. Nur um die großen Züge ist es mir zu tun, und schon da wird man spüren, daß die Individualsprache unbeständig ist, wie ein Luftatom in der Atmosphäre und doch immer an seiner richtigen Stelle ist.

Inzwischen hatte ich literarische Neigungen gefaßt, etwa seit meinem 16. Jahre. Seitdem bis auf den heutigen Tag habe ich tausende und abertausende Bücher gelesen, oft mit dem bewußten Streben, die richtige Sprache aus ihnen zu lernen. Jedes Buch muß auf mich gewirkt haben wie jeder Mensch, mit dem ich je ein Wort gewechselt habe.

Ich habe seit derselben Zeit, teils allein teils mit anderen, fremde Sprachen gelernt; jeder fremde Satz muß mein Sprachgefühl beeinflußt haben.

Ich habe auf dem Gymnasium wie alle mich bemüht, aus dem Lateinischen genau, das heißt falsch, ins Deutsche zu übersetzen, und mir so gewiß wie alle anderen die lateinische Periode noch mehr angewöhnt, als ich sie schon in den deutschen Mustern vorfand.

Ich habe auf der Universität Jura studiert und eine große Anzahl Worte in ihrer juristischen Bedeutung vornehmlich zu verstehen mir angewöhnt, dazu eine gewisse Sicherheit im Distinguieren.

Ich habe um diese Zeit angefangen, autodidaktisch Philosophie zu treiben, und habe oft jahre- oder monatelang den Gedankenkreis und damit den Sprachgebrauch eines bestimmten Philosophen unbewußt zu dem meinigen gemacht.

Ich bin nach Berlin übersiedelt, habe da eine ostpreußische Frau genommen und ein Kind erzogen, das berlinisch sprach. Von beiden habe ich unbewußt und bewußt Worte und Wortfolgen angenommen. Vorher war es in Prag ein Kreis von Professoren und ihren Frauen gewesen - meine Lieblinge stammten zufällig aus der Rheingegend, die sich, bewußt und unbewußt meiner, Sprache annahmen.

Ich habe als Schriftsteller eine Zeitlang die Geschichte der deutschen Sprache studiert, und so weit Historie wirksam ist, war sie wirksam. Ich trieb als Vorstudium zu diesem Werke jahrelang Sprachwissenschaften; und während ich Stoff sammelte, mußte die Form notwendig von dem Inhalt selbst beeinflußt werden. Ja, während des Niederschreibens wuchs die Skepsis gegenüber der Sprache so sehr, daß die Form am Ende wohl wieder das Ergebnis beeinflußt hat und umgekehrt.

Endlich ist sogar die Sprache dieses Buches nicht ein Monolog, sondern auch wieder etwas "zwischen den Menschen". So mag jeder Schriftsteller bei jedem Buche anders reden, weil er zu anderen zu sprechen träumt.

Es geht diesem Buche also, wie es schließlich jedem einfachsten Satze der lebendigen Sprache geht: es gibt keine allgemeine Richtigkeit für beide, es gibt nur eine individuelle Richtigkeit, wie es nur Individualsprachen gibt. Und am letzten Ende aller Enden ist doch wieder diese Individualsprache selbst noch abhängig von anderen, weil alle Sprache etwas Gegenseitiges ist.

Ich hoffe, klar gemacht zu haben, was mir noch die Richtigkeit der Sprache sein kann. Die Richtigkeit unserer Gedankenwelt ist nur dann vorhanden, wenn wir von der Wirklichkeitswelt richtige Sinneseindrücke hatten und so in unseren Begriffen einen Vorrat richtiger Erinnerungen besitzen. Wir wissen, daß es schlecht bestellt ist um diese Richtigkeit der Gedankenwelt, daß jeder einzelne Begriff notwendig etwas Schwankendes, Nebelhaftes hat, und daß dieser Fehler sich bei der Verbindung der Begriffe nur noch steigern muß. In diesem Sinne allein ist uns Richtigkeit der Sprache eine ernsthafte Angelegenheit. Die richtige Sprachform nach Laut und Grarnmatik - ist zwar Gegenstand besonderer Wissenschaften; sie ist aber für den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis im allgemeinen so gleichgültig, wie die Frage des Gigerls, ob "man" in diesem Frühjahr weite oder enge Hosen trage. Der Gigerl meint sich und seine Genossen, wenn er "man" sagt: jeder Mensch ist so der Mittelpunkt - wirklich der Mittelpunkt eines besonderen Kreises, in welchem "man" richtig spricht. Und wir alle stehen daneben noch in anderen Kreisen richtiger Sprachform, und nicht nur, daß wir jeder richtig sprechen: wir sprechen sogar jedesmal richtig, so oft wir auch verschieden sprechen.

Ist aber ein "richtiges Sprechen" schon im Sinne der Erkenntnistheorie nicht vorhanden, so wird dieser Fehler gewiß noch potenziert dadurch, daß es nicht einmal im volkstümlichen Sinne ein richtiges Sprechen gibt. Richtig ist so viel wie gesetzmäßig. Und hat man sich erst von dem Wortaberglauben befreit, nach welchem Notwendigkeit immer Gesetzmäßigkeit sein muß, wird man den Zufall in der Sprachgeschichte begreifen.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906