Kritik der Sprache II-22
Ich möchte den Grundgedanken dieses Buches festhalten. Da wird es sich fragen, ob eine Sprache mehr oder weniger geeignet sei, ihren Sprecher die Welt erkennen zu lassen. Da freilich sinken alle Ergebnisse der vergleichenden Sprachwissenschaft herunter bis zum Spiel der Kinder mit bunten Kieseln. Anders steht dann die Frage vor uns. Wir sehen jenseits der Sprache die Wirklichkeitswelt, in welcher nichts geschehen kann als Notwendiges, vom leuchtenden Fluge der ungeheuern Sonne bis zum Leben im Keime eines Floheis nichts als Notwendiges. Hätten wir eine große umfassende Naturwissenschaft, wie wir sie da und dort makroskopisch für einige Zweiglein zu besitzen anfangen, so besäßen wir am Ende aller Enden für die Wirklichkeitswelt etwas, was ungefähr der mathematischen Wahrscheinlichkeit entspricht. Eine objektive Wage der Notwendigkeiten, ein objektives Maß dafür, warum in der endlosen Welt der Wirklichkeiten in Ewigkeit und überall irgend etwas eher geschieht als nicht geschieht. Eher nicht geschieht als geschieht. Diese Wahrscheinlichkeit wohlgemerkt - heißt zwar objektiv, spiegelt sich aber erst im menschlichen Geiste so; immer ist sie Notwendigkeit im Walten der Natur. Doch nicht einmal diese Wahrscheinlichkeit, weil sie noch etwas Objektives an sich hat, ist uns armen Menschen je zu erkennen gestattet. Einzig und allein unsere arme, törichte, bettelnde, subjektive Erwartung, die Wahrscheinlichkeit unseres Wunsches, liegt in unserem Denken, Denn all unser Denken, wie wir es in der Sprache ererbt haben vom ersten Schreckensschrei des neulallenden Menschen bis heute, ist ja doch nur das bißchen Erinnerung an das bißchen Wahrnehmung der Menschheit; und Erinnerung wie Wahrnehmung war von Urzeiten bis heute gelenkt von unserem armen, kleinen Interesse, von unserem Wünschen. Wir erinnern uns nur dessen, was die Menschheit von je gewünscht hat und was wir wünschen Die Zeichen der Erinnerung sind unsere arme, gute Sprache. Was sollen wir das gute, arme Ding noch quälen, es darauf hin prüfen, wie viel es zur Welterkenntnis beitragen könne, je nachdem die Zeichen der Erinnerung ein Häkchen mehr oder weniger haben, einen Laut deutlicher oder minder deutlich? Ich höre den Kuckuck rufen, während ich dies niederschreibe, und seine Rufe würden unter dem akustischen Mikroskop nicht immer ganz identisch sein; ich glaube aber nicht, daß er das eine Mal mehr zur Welterkenntnis beiträgt als das andere Mal. Und jetzt ist er verstummt, die Welt der Notwendigkeiten aber wälzt sich weiter, auch wenn der Kuckuck schweigt und die Menschen nicht sprechen. Was die Menschen sprechen, das kann niemals zur Welterkenntnis beitragen. Wer spricht, der lernt nur seine Wahrnehmung auswendig; wer hört, kann nie mehr erfahren, als was er weiß, als was schon in seinem Wortschatz enthalten ist. Neues kann nur wahrgenommen und gezeigt werden. Gesagt kann es nicht werden. Und was wir immer noch und bis ans Grab für Kenntnis halten, die aufgespeichert wird in unserer Sprache, ist die Erwartung, ist das Vertrauen auf eine Ordnung in der Natur. Erwartung und Vertrauen ist der Inhalt astronomischer Geistestaten ebensogut wie der Inhalt des Eisenbahnkursbuchs. Tief eingewurzelt in uns allen ist der Glaube an Regelmäßigkeit. Natürlich, denn ohne eine gewisse regelmäßige Wiederholung könnten unsere Wahrnehmungen sich nicht in Vorstellungen verwandeln, könnten wir nicht denken. Unser Glaube übertreibt die Regelmäßigkeiten fast mythologisch, um uns nur denken lassen zu können. Bei großen durchgehenden Eisenbahnzügen vertrauen wir dem Kursbuch vom vorigen Jahr, wie wir hoffen, daß morgen früh die Sonne wieder aufgehen wird. Es wird ja wohl nichts geändert worden sein! Erwartung liegt aber schon in dem einfachsten Gedanken, wenn wir ihn in Worte fassen. Nur die blitzartige unzusammenhängende, wortlose Wahrnehmung, wie eben der Blitz selbst, ist etwas ohne Vertrauen auf Dauer. Wenn wir es aussprechen wollen, daß wir die Sonne sehen, so ist das ein sehr komplizierter Vorgang, der ein gewisses Vertrauen auf Dauer oder Zusammenhang mit enthält. Wir prädizieren ja nichts, was nicht vorher aufgenommen und verschmolzen worden ist in unser vorangegangenes Weltbild. Was hat es da vom Standpunkt der Welterkenntnis für eine Bedeutung, ob wir, was wir wahrgenommen haben, in diesen oder jenen Redeteilen ausdrücken? Wer die Sonne sieht, kann den Eindruck substantivisch fassen: Die wohlbekannte alte Sonne ist wieder da. Adjektivisch: Es ist hell. Verbal: Es leuchtet und wärmt. Numeral: Schau, das Dings da ist nur einmal am Himmel. Pronominal: Mich freut das Leuchten und Wärmen. Adverbial: Dort. Was in unserer einen Sprache zugleich möglich ist, das ist natürlich in verschiedenen Sprachen reichlich vorhanden. Der Malaie empfindet substantivisch, was uns verbal ist; unser "Der Mann wirft den Stein" faßt er als "Der Wurf des Mannes ist ein Stein". Die sehr weit verbreitete Konjugation des Verbums mit Hilfe des Possessivpronomens verwandelt es ebenfalls in ein Substantiv. Und wie die Redeteile, so sind auch die Satzteile nicht einmal an die Logik gebunden, geschweige denn an die Wirklichkeit und ihre Erkenntnis. Wieder der Malaie ist es, der unser Attribut sehr oft in einen Relativsatz verwandelt. Für "ein anderer Mensch" sagt er "der Mensch, welcher ein anderer ist". Der Chinese hat für unser Objekt eine ausgezeichnete Stelle im Satz. Daß ihre Geheimnisse, all ihre Logik und Grammatik, uns nichts verraten, was wir nicht bereits wissen, gilt für alle Sprachen allgemein; keine hat den Stein der Weisen erfunden. Wir lesen und hören aus den Sprachformen immer nur den Sinn heraus, den wir aus unserer Kenntnis der Wirklichkeit hineingelegt haben. Die formlose Wortzusammensetzung (Kleinkinderbewahranstalt) ist uns ebenso verständlich wie der hochentwickelte, mit allen seinen Formeln stolz auftretende Satz. (Eine Anstalt, in welcher kleine Kinder von Leuten, die dazu befähigt und angestellt sind, vor körperlichen und seelischen Schäden bewahrt werden.) Im Sanskrit sind solche Wortungeheuer die Regel, und die Verständlichkeit leidet nicht darunter. Unser deutsches "daß", welches einen ganzen Satz zusammenfaßt, war ursprünglich der Artikel "das" und leistete wohl im ehemaligen Sprachgefühl einen ähnlichen Dienst. Redeteile, Satzteile, syntaktische Feinheiten, der ganze Periodenbau einer Sprache, alles das, was uns an unserer eigenen Mundart so gut gefällt und wonach wir gar zu gern geneigt sind andere Sprachen abzuschätzen, sind nur eingerissene Volksgewohnheiten, die dem Individuum gestatten, mit dem Schein der Objektivität eine subjektive Erwartung auszusprechen. Eigentlich ist es für seine Welterkenntnis durchaus gleichgültig, ob er substantivisch, verbal oder sonst wie ausspricht, daß die Sonne ihm auf den Buckel scheint. Weil er aber mit seinen Volksgenossen die Gewohnheit teilt, sie für ein Ding, oder für eine Tätigkeit, oder für eine Eigenschaft, oder für einen Ort oder für sonst etwas zu halten, darum glaubt der Ärmste, er habe das Wesen der Sonne erkannt. Und doch hat er mit all seiner Grammatik von der ganzen Sonne nichts als seine Wahrnehmung, nichts als sein Gefühl, das für ihn unaussprechlich wäre, hätte er das Scheinwesen der Sprache begriffen. Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906 |