A. MerklE. BelingP. EltzbacherF. Somlo | ||||
Wortbedeutung und Sprachgebrauch
An den Anfang der Philosophischen Untersuchungen stellt WITTGENSTEIN ein Zitat aus den Confessiones des AUGUSTINUS, in dem eine bestimmte Auffassung vom Wesen der Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Danach erhalten wir
WITTGENSTEIN kritisiert allgemein die Vorstellung, die Bedeutung eines Wortes sei ein selbständiges Etwas. Dies impliziert neben der Ablehnung der Gegenstandstheorie der Bedeutung auch eine Verwerfung zweier weiterer Bedeutungslehren, die man im Anschluß an SPECHT als psychologistische bzw. als platonistische Bedeutungstheorie bezeichnen kann. Nach der psychologistischen Theorie ist die Bedeutung eines Wortes identisch mit einem psychischen Gegenstan, etwa einer Vorstellung oder einem Gedanken. Die platonistische Theorie setzt die Bedeutung eines Wortes mit einem idealen Gegenstand gleich. Demnach ist die Bedeutung eines Wortes unabhängig vom konkreten Gebrauch immer dieselbe, ihr kommt eine vom sprachlichen Zeichen und vom Denken des Menschen unabhängige Existenz zu. Den geschilderten Bedeutungslehren liegt nach WITTGENSTEIN die Fehlvorstellung zugrunde, das Wort "Bedeutung" würde etwas bezeichnen, einen selbständigen Gegenstand, ein psychisches Gebilde oder eine ideale Entität. Das Wort "Bedeutung" habe aber de facto - so WITTGENSTEIN - keine bezeichnende Funktion, so daß es in Wirklichkeit keinen Gegenstand gebe, der diesem Wort entspreche. Damit ist aber lediglich WITTGENSTEINs Einwand formuliert. Darzulegen bleibt die Begründung dieser Kritik und der Gegenthese WITTGENSTEINs, die Bedeutung eines Wortes bestehe in seinem Gebrauch in der Sprache. Hierzu soll zunächst an das angeknüpft werden, was im letzten Abschnitt über die philosophischen Probleme gesagt wurde. Für WITTGENSTEIN sind sie das Resultat von Mißverständnissen, die durch die irreführende Oberflächengrammatik der Sprache und durch unser Streben nach Allgemeinheit hervorgerufen werden. Als Therapie gegen die philosophische Verwirrung schlägt WITTGENSTEIN vor, den umgangssprachlichen Gebrauch philosophischer Ausdrücke zu betrachten. Übersehe man deren Verwendungsweisen, so verschwänden die philosophischen Probleme. Damit ist WITTGENSTEINs Methode bereits umrissen: er untersucht, wie Wörter in konkreten Kontexten funktionieren. Abstrakte Was-ist-Fragen bzw. Fragen nach dem Wesen von etwas weist er zurück und vermeidet die im letzten Abschnitt beschriebenen Schwierigkeiten, zu denen solche Fragen führen. Am Beispiel des Wortes "Zeit" soll WITTGENSTEINs Vorgehensweise näher erläutert werden. Die Frage "Was ist Zeit?" bzw. "Was ist das Wesen der Zeit?" kann aus den beschriebenen Gründen leicht zu der Annahme verleiten, das Wort bezeichne eine Entität, auf die bestimmte Wesensmerkmale zuträfen. Auf diese Weise gelangt man zu absurden Vorstellungen wie der, die Zeit sei ein Strom, der aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft fließe. Diesen Schwierigkeiten entgeht man, wenn man die konkreten Situationen untersucht, in denen das Wort "Zeit" vorkommt bzw. in denen es um zeitliche Verhältnisse geht. So gerät man in der Regel nicht in Verwirrung, wenn man danach fragt, was es z.B. heißt, sich für einen bestimmten Zeitpunkt mit jemandem zu verabreden, seine Zeit zu verschwenden, jemanden aufzufordern, pünktlich zu sein, die genaue Uhrzeit anzugeben, die Zeit zu messen, in der jemand 100 m läuft, usw. In diesen Zusammenhängen stellt sich die Frage nach dem Wesen der Zeit nicht. Man wird nicht vor die Alternative gestellt, entweder zu wissen, was Zeit ist, oder es nicht zu wissen. Es geht vielmehr darum, einen bestimmten Sprachgebrauch und die dazu gehörigen Verhaltensweisen zu meistern, z.B. die Uhr abzulesen. Beherrscht man alle Kontexte, in denen das Wort "Zeit" eine Rolle spielt, hat man also einen Überblick über alle Verwendungsweisen dieses Wortes gewonnen, sind alle Probleme gelöst. Für eine darüber hinausgehende Frage "Was ist Zeit?" bleibt kein Raum mehr, es ist insbesondere unberechtigt, nach einer Entität zu suchen, die dem Wort "Zeit" entspricht, da dieses Wort, was dessen Verwendungsweisen deutlich machen, nicht die Funktion hat, einen Gegenstand zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund wird WITTGENSTEINs Kritik an den geschilderten Bedeutungslehren und seine eigene Auffassung verständlich. In gleicher Weise, wie er die abstrakten Fragen "Was ist Zeit?" bzw. "Was ist das Wesen der Zeit?" zurückweist und statt dessen die Verwendung dieses Wortes in konkreten Zusammenhängen untersucht, verfährt er mit dem Wort "Bedeutung". Er verwirft die abstrakte Frage nach der Bedeutung des Wortes "Bedeutung" als irreführend, da sie einen "geistigen Krampf" verursache.
Mentale Begriffe Nach WITTGENSTEIN erhalten Wörter und Sätze ihre Bedeutung dadurch, daß sie von einer Sprachgemeinschaft nach intersubjektiv akzeptierten Regeln gebraucht werden. Dieser Konzeption ließe sich entgegenhalten, nicht der übereinstimmende Gebrauch verleihe der Sprache Bedeutung, sondern geistige Akte des Meinens und Verstehens. Der Sprachgebrauch sei nur die Manifestation der in den Sprachteilnehmern ablaufenden geistigen Prozesse. Diese Vorstellung, die implizite dem Tractatus zugrundeliegt, wird vom späten WITTGENSTEIN einer tiefgreifenden Kritik unterzogen. Die Ursachen dieser geläufigen Auffassung sieht WITTGENSTEIN darin begründet, daß wir durch die "Oberflächengrammatik" unserer Sprache dazu verleitet werden, geistige Akte in Analogie zu körperlichen Tätigkeiten anzunehmen. Hinter der Äußerung eines Satzes, dem Akt des Sprechens, vermutet man einen Akt des Meinens, durch den der Satz seinen Sinn erhält, hinter dem Hören oder Lesen des Satzes einen Akt des Verstehens. WITTGENSTEIN hält die Annahme derartiger geistiger Vorgänge in den meisten Fällen für bloße Fiktionen. Am Beispiel des Ausdrucks "meinen" sei eine Kritik vorgeführt, die er in der für ihn typischen Weise vornimmt: er untersucht die vielfältigen Sprachspiele, in denen wir das Wort "meinen" gebrauchen. Dabei ist festzustellen, daß es durchaus Fälle gibt, in denen korrekterweise vom "Meinen" als einem psychischen Vorgang gesprochen werden kann, z.B dann, wenn man Zweifel an dem Geäußerten mit Bemerkungen wie "Er meinte dies wirklich so" zu zerstreuen versucht. Auch wird man Situationen nicht in Abrede stellen können, in denen ein charakteristisches Gefühl, das Gesagte auch so zu meinen, eine Äußerung begleitet, etwa wenn man jemanden nach langer Zeit wieder begegnet und sagt: "Ich freue mich, dich zu sehen", sofern man sich auch wirklich freut und dies nicht nur aus Höflichkeit zu der betreffenden Person sagt, ihr aber am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Aus solchen Fällen, in denen das Sprechen von geistigen Vorgängen begleitet wird, darf allerdings nicht geschlossen werden, daß dies immer so sei. WITTGENSTEINs Beschreibung der verschiedenen Zusammenhänge, in denen wir den Ausdruck "meinen" verwenden, widerlegt die essentialistische Annahme, es gebe etwas, das allen Fällen gemeinsam ist, in denen wir etwas meinen. Die unterschiedlichen Gebrauchsweisen sind weder durch ein Wesen des Meinens miteinander verbunden, noch stehen sie beziehungslos nebeneinander. WITTGENSTEIN zeigt auf, daß zwischen ihnen Familienähnlichkeiten bestehen. Seine Untersuchung mentaler Begriffe stellt somit ein wichtiges Feld dar, auf dem sich die Brauchbarkeit seines Konzepts der Familienähnlichkeiten erweist. Wenn eine Person, ohne geistesabwesend zu sein, unter gewöhnlichen Umständen den Satz äußert "Ich gehe jetzt ins Kino", so wird man ohne weiteres davon ausgehen können, daß sie das meint, was sie sagt, ohne daß das Aussprechen des Satzes von einem spezifischen Bewußtseinsakt des Meinens begleitet wird. In diesem Fall bedeutet "meinen" einfach, etwas ohne Vorbehalte zu äußern. Ob es richtig ist zu sagen, jemand meint das, was er sagt, hängt häufig von der Situation der Äußerung sowie von weiteren Umständen wie dem Tonfall oder der Gestik ab, nicht von bestimmten Bewußtseinsvorgängen. Wenn eine Mutter ihrem Kind, das etwas "ausgefressen" hat, mit lauter Stimme Hausarrest für den Wiederholungsfall androht, kann man sagen, daß dies ernst gemeint ist, sofern man weiß, daß die Mutter ihre Drohungen in die Tat umzusetzen pflegt. In einem anderen Zusammenhang bedeutet "meinen" soviel wie "eine genauere Spezifikation geben" oder "einen Irrtum abwehren", etwa wenn jemand ein Bild interpretiert und ein anderer erläuternd hinzufügt: "Er meinte natürlich die Farbe und nicht die Form." Es gibt also verschiedene, miteinander verwandte Gebrauchsweisen von "meinen". In allen diesen Fällen einen parallel zum Sprechen ablaufenden psychischen Vorgang des Meinens anzunehmen, wäre verfehlt. Während wir sprechen, sind wir uns gewöhnlich auch keiner derartigen inneren Vorgänge bewußt, es sei denn, wir führen die künstliche Situation herbei, uns während des Sprechens gleichzeitig introspektiv auf uns selbst als Sprechende zu konzentrieren. Und solange wir uns solcher Vorgänge nicht bewußt sind, handelt es sich um bloße hypothetische Konstrukte. Es scheint in der Tat nicht vorstellbar, wie parallel neben dem Sprechen ein den Worten Bedeutung verleihender Akt ablaufen soll. WITTGENSTEIN weist die Unhaltbarkeit dieser Auffassung anhand zahlreicher Beispiele nach. Man versuche etwa, "abcd" zu sagen und damit zu meinen "Das Wetter ist schön". Oder man sage "Hier ist es kalt" und versuche damit den Sinn zu verbinden "Hier ist es warm". In dem Satz "Herr Schweizer ist kein Schweizer", steht das erste "Schweizer" für einen Eigennamen, das zweite für einen Gattungsnamen. Man probiere, das erste "Schweizer" als Gattungsnamen und das zweite als Eigennamen zu meinen. Bei allen diesen Versuchen "blinzle ich mit den Augen vor Anstrengung", aber sie mißlingen, was nicht der Fall sein dürfte, wenn man den Worten durch eine geistige Tätigkeit des Meinens ihre Bedeutung verleihen könnte. Juristische Methodenlehre und Sprache Das Geschäft der juristischen Methodenlehre besteht in der Unterweisung, wie rechtliche Entscheidungen methodisch korrekt gewonnen und begründet werden. Da im gewaltenteilenden Rechtsstaat Entscheidungen des Richters an sprachlich verfaßte Gesetze gebunden sind, enthält jede Methodenlehre, zumindest implizit, eine Sprachtheorie, die angibt, wie die Bedeutungen von Gesetzestexten zu ermitteln sind. Vor dem Hintergrund dieser Problemstellung ist WITTGENSTEINs Sprachtheorie in der Rechtstheorie rezipiert worden. Den in diesem Zusammenhang vorzustellenden Arbeiten ist gemeinsam, daß sie einen sprachtheoretischen Zugang zu Problemen der juristischen Methodenlehre wählen bzw. daß sie ihre Konzeptionen sprachtheoretisch fundieren. Übereinstimmend bauen sie auf WITTGENSTEINs Gebrauchstheorie der Bedeutung auf, weshalb sie unter einem Oberpunkt zusammengefaßt werden sollen, obgleich sie zum Teil sehr unterschiedliche Konsequenzen hieraus ziehen. Die Kennzeichnung als "pragmatisch" soll lediglich anzeigen, daß diese Ansätze mit dem späten und gegen den frühen WITTGENSTEIN eine Abbildtheorie oder realistische Semantik ablehnen, wonach die Bedeutung als eine Beziehung zwischen Zeichen und konkreten oder abstrakten begrifflichen Entitäten, die unabhängig von dem Zeichen existieren, aufzufassen ist. Demgegenüber gehen die "Pragmatiker" davon aus, daß sprachliche Ausdrücke nicht eine vorgegebene Wirklichkeit abbilden, von der ihre Bedeutung bestimmt wird, sondern daß ihre Bedeutung durch den übereinstimmenden Gebrauch in konkreten Situationen erst konstituiert wird. Eine weitere Gemeinsamkeit der folgenden Konzeptionen besteht darin, daß sie unisono der traditionellen juristischen Methodenlehre unterstellen, zumindest implizit eine realistische Semantik zu vertreten, nach der die Bedeutung eines Normtextes dem Interpreten objektiv vorgegeben sei. Die Grenze des Wortlauts Die offene Struktur von Rechtsnormen eröffnet dem Richter interpretatorische Freiräume. In Anbetracht des Gesetzesbindungspostulat ist er aber bei seinem Bemühen um die richtige Rechtsanwendung darauf verwiesen, auf dem Boden des Gesetzes zu verbleiben. Die Gewähr hierfür scheint ihm der Gesetzeswortlaut, d.h. dessen mögliche Sinnverständnisse, zu geben, der die Grenze zwischen der an der Legitimation des Gesetzes teilhabenden Interpretation und der gesetzesüberschreitenden Rechtsfortbildung markieren soll. In seiner Studie Der Wortlaut als Grenze (1988) stellt OTTO DEPENHEUER fest, daß sich der Topos vom Wortlaut als der Grenze zulässiger Interpretation wegen seiner prima facie (erster Anschein) offenkundigen Plausibilität, wegen seiner Griffigkeit und wegen des sicheren Halts, den er zu bieten scheint, breiter Zustimmung erfreue. Demgegenüber führen DEPENHEUERs vielschichtige Überlegungen zur Funktion, zur historischen Genese, zum Inhalt, zur sprachtheoretischen Haltbarkeit, zur praktischen Brauchbarkeit und zu den Konsequenzen des Topos von der Wortlautgrenze zu dem Ergebnis, daß die Wortlautgrenze als Interpretationstopos zu verabschieden sei. Nach der Herausarbeitung der Funktionen der Wortlautgrenze in der juristischen Methodenlehre, insbesondere der Legitimationsfunktion, weist DEPENHEUER nach, daß der Topos von der Wortlautgrenze von der gegen Ende des 19. Jahrhunderts begründeten objektiven Auslegungslehre das Problem der Wortlautgrenze nicht gestellt habe, da ihr Ziel die Ermittlung der hinter dem Wort stehenden gesetzgeberischen Intention gewesen sei, habe die objektive Auslegungslehre die Wortlautgrenze als Korrektiv für die interpretatorischen Freiräume eingeführt, die daraus resultierten, daß der Rechtsanwender nurmehr an den Spielraum lassenden Gesetzestext, nicht aber an die subjektiven Vorstellungen des historischen Gesetzgebers gebunden sein solle. Inhaltlich sei das Postulat vom Wortlaut als der Grenze der Interpretation wörtlich zu nehmen:
Der Gesetzgeber spiele ein solches Sprachspiel, wenn er einen Gesetzestext formuliere, d.h. er bediene sich in einer bestimmten historischen Situation der Sprache, die er nach den Regeln seiner Zeit verwende, um für bestimmte Sachverhalte verbindliche Anordnungen zu treffen. Löse man den Gesetzestext - bewußt oder unbewußt - aus diesem Zusammenhang heraus, gebrauche man ihn also in einem anderen als in dem vom Gesetzgeber intendierten Sinn, indem man ihn auf andere Sachverhalte beziehe, nähme er eine neue Bedeutung an. Einem Wortlaut kämen so viele Bedeutungsmöglichkeiten zu, in so vielen Kontexten er angewendet werde. Die Bedeutungsfülle eines Wortes sei deshalb identisch mit der Anzahl der Kontexte, in denen es Anwendung gefunden habe. Jeder neue Kontext erweitere diese Bedeutungsfülle. Im Laufe der Zeit verändere sich durch den Sprachwandel das Bedeutungspotential eines Wortes. "An sich", d.h. ohne einen Kontext hätten Worte keinen Sinngehalt:
Wird anerkannt, daß die Worte der Verfassung ebenso wie die der Gesetze nur das Produkt menschlicher Lebensäußerungen in einer ihrer unzähligen Facetten sind - was anderes sollten sie sonst sein? -, dann verbietet sich jede Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] der Verfassungstexte. Als bloße Zeichen sollten sie in einer Welt der Rationalität derartiger Mystifizierung unzugänglich sein und nicht als Füllhorn unendlicher Bedeutungsschwere und -fülle ge- bzw. mißbraucht werden. Sie sind nicht mehr und können nicht mehr sein, als das, was sie sind: schriftliche Zeichen für verbindliche Anordnungen von dazu legitimierten Menschen für Menschen. Normtexte sollen als Träger normativer Informationen begriffen werden, weshalb die Methodenlehre zunächst nach dem Sinn fragen sollte, der nach dem Verständnis des historischen Normgebers in der Norm objektiviert sei. Die Rechtsdogmatik würde dadurch nicht überflüssig, ihr käme die Aufgabe zu, das vom historischen Verfassungsgeber Normierte zu Ende zu denken. Hierzu müsse sie "das Sprachspiel des Verfassungsgebers im umfassenden Sinne des Wortes erlernen", wozu insbesondere gehöre, "die außerrechtlichen Voraussetzungen der Verfassung" zu reflektieren, "die (geschichtlich) vorgegebenen Sachstrukturen und die verfassungsrechtlichen Regelungen als ineinander ergänzende Größen zu erkennen und damit Zugang zu ihren Inhalten zu gewinnen". Dieses Verständnis führe nicht zu einer Versteinerung des Verfassungsrechts, sondern vielmehr dazu, daß die legitime Fortbildung der Verfassung offengelegt werden müsse. DEPENHEUER übernimmt von WITTGENSTEIN den Gedanken der Kontextabhängigkeit unserer Sprachspiele, mit dem - wie zutreffend herausgearbeitet wird - die Vorstellung, der bloße Wortlaut könne Sinnverständnisse begrenzen, zumindest in den schwierigen Fällen nicht vereinbar ist. Eine andere, nicht anhand von WITTGENSTEIN zu beantwortende Frage ist, ob DEPENHEUER aus dieser negativen Erkenntnis die richtigen positiven Konsequenzen zieht. Meines Erachtens geht sein Vorschlag, die subjektiv-historische Auslegung zu rehabilitieren, in die richtige Richtung, auch wenn er sich von denjenigen Theorien, die im folgenden zu besprechen sind, deutlich unterscheidet. PETER SCHIFFAUERs Dissertation Wortbedeutung und Rechtserkenntnis (1979) unternimmt eine Kritik der Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung anhand des Kriteriums der Grenze des möglichen Wortsinns. In dieser Stoßrichtung deckt sie sich mit DEPENHEUERs kritischen Überlegungen. In ihren Schlußfolgerungen setzen beide Autoren allerdings verschiedene Akzente. Ausgangspunkt von SCHIFFAUERs Studie ist ein Widerspruch zwischen theoretischer Methodenlehre und gerichtlicher Praxis. Während nach der Methodenlehre eine scharfe, durch den möglichen Wortsinn des Gesetzestextes markierte Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung bestehe, lasse sich in der gerichtlichen Entscheidungspraxis eine Grenze des möglichen Wortsinns in vielen Fällen ohne Willkür nicht bestimmen, was SCHIFFAUER anhand von Beispielen nachweist. Dieser Widerspruch fordere eine Bestimmung auf die der herkömmlichen Methodenlehre zugrundegelegte Theorie der Wortbedeutung heraus, wonach der Sinn (= die Bedeutung) eines Wortes in dessen Relation auf eine außersprachliche, objektive Entität in Gestalt eines gemeinsamen, allen durch das Wort bezeichneten Gegenständen innewohnenden Wesens bestehe. Die Grenze des Wortsinns sei überschritten, wenn die Verwendung des Wortes dieser Entität nicht mehr entspreche. Ein Vergleich zwischen Wort und "Sache" sei allerdings ausgeschlossen, da beide jeweils verschiedenen Welten angehörten, es also kein objektives Kriterium dafür gebe, wann eine Wortverwendung unter einen Begriff falle:
Aus der Sicht der Bedeutungstheorie WITTGENSTEINs werde die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung anhand des Kriteriums der Grenze des möglichen Wortsinns hinfällig. WITTGENSTEIN erklärte die Bedeutung eines Wortes nicht durch dessen Relation zu einem bestimmten Gegenstand, sondern durch eine Relation zwischen mindestens zwei Sprechern, die sich nach Regeln verständigten.
Die Diskussionen, die z.B. in der Jurisprudenz im Bereich der offenen Fälle geführt werden, lassen sich interpretieren "als Versuche, Übereinkunft über die Verwendung eines Wortes allererst herzustellen". Dann aber darf man im Gegensatz zu den gesicherten Fällen, in denen auf die Bedeutung eines Wortes im Sinne einer bereits erzielten Übereinkunft über dessen Verwendung, also auf ein semantisches Argument, zurückgegriffen werden kann, bei den offenen Fällen gerade nicht auf eine Übereinkunft abstellen, weil eine solche noch nicht vorhanden ist. Aus dieser Überlegung leitet SCHIFFAUER folgende Regel für die juristische Argumentation ab:
Die Rechtswissenschaft lasse sich demnach als "besonderes Sprachspiel" begreifen, dessen Teilnehmer sich über die Rechtfertigung normativer Geltungsansprüche verständigten. Recht könne nicht als etwas objektiv Vorgegebenes erkannt werden, rechtliche Geltung werde intersubjektiv begründet:
Geltungsgrund wird der "kritische" Konsens, der sich vom faktischen dadurch abhebt, daß er auch die Zustimmung aller nicht genügen läßt, sondern erst am infinitesimalen Ende eines idealen Diskurses steht. Zur methodischen Differenzierung von Auslegung und Rechtsfortbildung knüpft SCHIFFAUER im Anschluß an CANARIS und LARENZ an die Unterscheidung von äußerem und innerem System an, die er seinem pragmatischen Ansatz entsprechend transformiert. Das äußere System definiert er als "Komplex anerkannter semantischer Regeln", das innere System als "Komplex anerkannter Wertentscheidungen". Beide Systeme seien offen, d.h. nicht ein für allemal festgelegt. Um Gesetzesanwendung handle es sich, wenn eine Rechtsentscheidung in Übereinstimmung mit dem inneren und dem äußeren System getroffen werde, um Rechtsfortbildung, wenn der Komplex der semantischen Regeln oder der Komplex der Wertentscheidungen erweitert oder verändert werde. Dementsprechend ließen sich zwei Arten von auf Rechtserkenntnis gerichteten Diskursen unterscheiden: der regelkonstituierte Diskurs, der sich auf anerkannte semantische Regeln bzw. Wertentscheidungen stütze, und der regelkonstituierende Diskurs, der im Bereich offener semantischer Regeln bzw. Wertentscheidungen eine gewagte Entscheidung hervorbringe. SCHIFFAUERs Kritik am Topos von der Wortlautgrenze verdient uneingeschränkte Zustimmung, gegenüber seiner Neubestimmung der Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung sind jedoch Vorbehalte angezeigt. |