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UWE POERKSEN
Carl Gustav Jochmann
Kritik an der Sprache
des frühen 19. Jahrhunderts

- I I -

"Ich habe einen der größten revolutionären Schriftsteller Deutschlands entdeckt - einen Mann, der zwischen der Aufklärung und dem jungen Marx an einer Stelle steht, die bisher nicht zu fixieren war..."

Das zweite, fast 150 Seiten umfassende Kapitel des Buchs "Über die Sprache" ist den "Sprachreinigern" gewidmet und setzt sich differenziert und erhellend mit CAMPE auseinander. JOCHMANN greift die Forderung der Gemeinverständlichkeit auf, stellt sie aber in jenen politischen und soziologischen Rahmen, der eben skizziert wurde, und untersucht, in welchen Fällen das Ersetzen von Fremdwörtern tatsächlich die Verständigung erleichtere. Er macht hier, im Anschluß an CAMPE (auf dessen Preisschrift er übrigens viel häufiger Bezug nimmt, als es zum Ausdruck kommt), eine interessante Unterscheidung.

Bei Konkreta, Gegenständen "der äußeren Wahrnehmung" wie z.B.  Fisch  oder  Portemonnaie,  ist es gleichgültig, ob man sich des Fremdworts oder des Erbworts bedient, weil unser Verstehen in diesem Fall sachgesteuert ist; bei Abstrakta, Gegenständen "der inneren Wahrnehmung" wie z.B.  Begriff  oder  Resultat  ist der muttersprachliche, selbsterklärende Ausdruck vorzuziehen, weil in diesem Fall unser Verstehen wortgesteuert ist und wir darauf angewiesen sind, das Denkprodukt jeweils neu zu erzeugen.

Die Forderung der Durchsichtigkeit erfüllt aber bei uns nur der Erbwortschatz; darin unterscheidet sich für JOCHMANN wie später für ADORNO das Deutsche um 1800 von der französischen und englischen Sprache, die ein reiches Fremdwortgut assimiliert haben. Das bloße Übersetzen philosophischer Begriffsapparate kann im deutschen Sprachraum daher ein Mittel der Entlarvung sein.

Bei ausländischen "Sachen" hält JOCHMANN dagegen das Fremdwort für einen Vorteil; das benennende Lehnwort  Karawane  etwa evoziert den exotischen Gegenstand, der erklärende Ausdruck  Reisezug  tut es nicht. Und ebenso zieht JOCHMANN in den Wissenschaften den Fremdwort-Terminus vor, weil er eine internationale Verständigung erlaubt und weil das innerhalb der Muttersprache isolierte Fremdwort besser geeignet ist, im Wandel der wissenschaftlichen Anschauungen als Träger konventionell zugeordneter Inhalte zu fungieren.

Grundsätzlich lehnt JOCHMANN es ab, sich die Rolle des Architekten der Sprache anzumaßen, entscheidende Instanz sei allemal der "Sprachbrauch", und es kommt, wie er, die Tradition des Purismus noch weiter hinter sich lassend, formuliert, gar nicht so sehr auf den "Reichtum" des Wortschatzes an, sondern auf dessen "Verwendung", auf Gebrauch und Umlauf der Wörter. Es geht in der Sprachkritik gar nicht vordringlich um das Einzelwort und um Art und Umfang des Wortinventars.

Wodurch bildet sich eine Sprache?  In dem dritten Kapitel beantwortet JOCHMANN vor allem die Frage, wodurch sich eine Sprache  nicht  bildet. Sprachgeschichte wird skizziert als Erscheinungsform der Öffentlichkeitsgeschichte. Die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen einer entwickelten öffentlichen Gemeinsprache waren in Spanien und Italien teilweise gegeben, in Frankreich waren die Umstände günstiger, in England waren sie ideal.

Im deutschen Sprachgebiet gab es dagegen nur Anläufe zu einer solchen "Sprache", in der Dichtersprache der Stauferzeit und in der Luthersprache der Reformationszeit, aber diese Anläufe verebbten wieder. Die Geschichte der deutschen Sprache ist die einer mangelnden Öffentlichkeit und einer mißglückten Kommunikation. LEIBNIZ sprach in den "Unvorgreiflichen Gedanken" von drei Eigenschaften einer vollkommenen Sprache: "Reichtum", "Reinigkeit" und "Glanz"; mit dem Letzteren meinte er einen flüssigen, leicht lesbaren Stil.

GOTTSCHED modifizierte in der Einleitung seiner "Deutschen Sprachkunst" (1748) diese Trias; er sprach von  Reichtum, Deutlichkeit  und  Kürze  oder  Nachdruck  als den drei Idealen, an denen sich eine Sprachkultur messen solle; die wortübergreifende Ebene gewinnt bei ihm an Bedeutung. CAMPE hatte auf die  Reinigung  des Wortschatzes von Fremdwörtern und in diesem Sinn auf  Bereicherung  das Hauptgewicht gelegt und hier viel getan. JOCHMANN nimmt die traditionsreiche Dreiheit auf und gibt ihr, indem er sich auf den Sprachgebrauch  konzentriert, eine kritische Wendung:
    "Unbestimmtheit, Unverständlichkeit und Härte blieben in dem ganzen folgenden Zeitraume die eigentümlichen Mängel, freilich nicht unsrer Sprache ans sich, wohl aber der jedesmaligen Art ihrer Benutzung."
 Unbestimmtheit  meint in diesem Fall, daß es im Bereich der öffentlichen Sprache an sozialen Normen und Auflagen fehle, denen sich der einzelne unterwerfe. Jedes Genie bilde in Deutschland seine eigene Sprache aus, die Sprache der Dichter sei die einzelner, und die Gemeinsprache unterliege, sozusagen charakterlos, ständigen Wandlungen und Moden. Die  Unverständlichkeit  - die Deutschen seien auch sprachlich eine Zunftgesellschaft - ist der am schärfsten gegeißelte Mangel. Mit ihr hängt das Phänomen der  Härte  zusammen; es mangele an Wohlklang und Gefälligkeit, an jenem mittleren zivilisierten Ton, der sich unter freiem Himmel ausbilde und am ehesten "in jenem Mittelstande" zu finden sei, "von dem wir überall die ersten Funken des Lichtes und die ersten Bewegungen eines geordneten bürgerlichen Lebens ausgehen sehen."

Schon LEIBNIZ hatte im Gegensatz zu den Sprachgesellschaften des Barock nicht mehr in der Pflege der Poesie, sondern in der Förderung der Sachprosa das Mittel gesehen, die Sprache zu heben. Diese Einschätzung der Prosa teilte auch JOCHMANN, in einer Zeit, als die im 18.Jahrhundert herausgebildete, im deutschen Sprachgebiet einzigartige Literatursprache fast schon zum klassischen normbildenden Kanon geworden war und die Dichtung überhaupt einen sehr hohen Stellenwert als Instrument der Spracherziehung erhalten hatte.

JOCHMANNs unzeitgemäße Entwertung der Poesie wird in dem vierten Kapitel  Die Rückschritte der Poesie  begründet; seine Hinwendung zur Prosa erscheint hier vor dem Hintergrund eines historischen Entwurfs, der den seit Beginn der menschlichen Gesellschaft sich vollziehenden Funktionswandel der Poesie umrißhaft zu bestimmen sucht.

In der "Frühe" der Menschheit hat die Poesie für JOCHMANN, wie etwa auch für HAMANN ("Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts") eine überragende Bedeutung, aus einem zweifachen Grund: das ihr zugrundeliegende Seelenvermögen, die "Einbildungskraft", ist das erste menschliche Mittel, die Welt zu erschließen, und die poetische Form, der Vers, dient, das Gedächtnis zu stützen, ersetzt also in den prähistorischen Zeiten die Funktion der Schrift.

Dieser Urzustand eines poetischen Zeitaltes wird nun aber nicht romantisch zurückersehnt, im Gegenteil, das Versinken der Poesie geht damit einher, daß andere, langsamere und näher an die objektive Realität heranreichende menschliche Seelenkräfte, Kräfte der Erkenntnis, die Welt erschließen; Rückschritt der Poesie ist insofern ein Indiz gesellschaftlichen Fortschritts. Der Mensch verlangt Wahrheit, wo er sich bisher mit Wundern abspeisen ließ, dem Poeten folgt notwendig der Historiker.

Es ist nun aber sehr aufschlußreich, daß JOCHMANN dennoch an einem eigenständigen Wert der Poesie bis in die Gegenwart festhält, und wie er ihn bestimmt. Ihre Aufgabe sei nicht, Wirklichkeit abzubilden - darin sei sie von den Wissenschaften überholt -, sondern intensiv auszudrücken, wie das rege, selbsttätige Empfindungsvermögen auf die Welt antworte. Sie habe eine gewisse Wahrheit, nicht die der Abschilderung, sondern die der Erzeugung von Leben. Ihr Sitz, ihr Ausgangsort sei das Gemüt, das Empfindungsvermögen.

Die poetische Form behält, auch wenn sie ihren unmittelbaren überlieferungstechnischen Zweck einbüßt, die Bedeutung, nicht anders als das Taktmaß im Bereich der Musik, den "innigsten Ausdruck der Empfindung" zu ermöglichen. Indem das Versmaß "jede Vorstellung zu einer Empfindung zu steigern dient, ist es die Bedingung des Vollendetsten, was beide, Sprache und Musik in ihrer Vereinigung zu leisten im Stande sind, und erreicht es nicht allein seinen höchsten Zweck, sondern auch den einzigen, dem es zu allen Zeiten, und dem niemals ein anderes Mittel entspricht".

JOCHMANN hält es in diesem Aufsatz kaum, wie etwa in der Glosse "Dichtung und Wahrheit", mit der revolutionären Poesie, zwischen der an der Außenwelt und ihren Umrissen orientierten objektiven Klassik und das Innere aussprechenden, subjektiven lyrischen Romantik, tritt er ein für die musikalisch romantische Poesie, die schon im Mittelalter ihre Stunde gehabt habe.

Der Aufsatz ist allerdings mehrschichtig, wie das Phänomen selbst, JOCHMANN spricht dann wieder von der gesellschaftlichen Funktion der Poesie, von der öffentlichen Wirkung des Liedes bis in die Zeit der Französischen Revolution und den "poetischen Seufzern" in seiner Gegenwart. In dieser Gegenwart der zwanziger Jahre des 19.Jahrhunderts ist Poesie vor allem Kompensation eines Mangels; die Phantasie, das einzige freie Seelenvermögen der Zeit, werde wirksam als kranke Phantasie:
    "Ausbrüche des unbefriedigten Gefühles aus der künstlichen Wüste des bürgerlichen Lebens um uns her; Auswanderungen aus der Wirklichkeit in das Reich des Gedankens..."
Kein phantasiereiches, sondern ein phantastisches Volk, brüteten die Deutschen dahin in unfruchtbaren Träumereien oder ergingen sich in malerisch dramatischer Politik. Rückschritte der Phantasie wären insgesamt Fortschritte der Vernunft ...

"JOCHMANNs Theorie von der Dichtung als dem ursprünglichen Sprachvermögen der alten Welt stammt von VICO", heißt es bei WALTER BENJAMIN. Die Vermutung einer engeren Beziehung zu dem Verfasser der  Szienza nuova  scheint sich zu bestätigen, wenn man auch in diesem Zusammenhang erst an HAMANN, den von JOCHMANN am häufigsten zitierten Autor, denken wird und an HERDER, dessen Wirkung auf die Freiheitsbewegung in den baltischen Ostseeprovinzen groß war.

Es wäre aber auch reizvoll, JOCHMANNs und HUMBOLDTs Sprachauffassungen einmal zu vergleichen. Es gibt scheinbar enge Berührungspunkte. "Sprachen sind geistige Völkergesichtsbildungen", heißt es bei JOCHMANN, erst die Sprache verwandele, was wir besitzen, in Eigentum, sie sei die "Gebärmutter der Begriffe" jedes Volkes. Wir würden fast gleich lautende Formulierungen bei WILHELM von HUMBOLDT finden können; dennoch sind die beiden Denker durch eine Kluft getrennt.

HUMBOLDT steht als sprachenvergleichender Forscher auf einer erhobenen Warte, von der aus die Sprachen - individueller physiognomischer Ausdruck ebenso vieler fast konstant gesehener Volksgeister - eine jeweils eigene "Weltansicht" bergen. Sein Interesse ist das der Erkenntnis. JOCHMANNs Interesse gilt der Veränderung, er bezieht den Standpunkt des politischen, konkret kritischen Schriftstellers, der in den historischen Sprachzuständen Spiegel geglückter oder mißglückter freier Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft erkennt und die Sprache als Instrument der Unterdrückung oder des Fortschritts wertet.

Was wäre gewesen, wenn JOCHMANN gewirkt hätte? Er war der Typus eines Schriftstellers, den es bei uns so eigentlich nicht gibt - vielleicht beruht auch darauf seine geringe Wirkung. Er hatte ein distanziertes Verhältnis zur Poesie - verquickte auch nicht, wie viele nach ihm, Poesie und Politik, sondern wandte sich - in jedem Sinn - der Prosa zu.

Auf diesem Feld war er ein Stilist wie einer und bediente sich bestimmter literarischer Formen, für die er wohl eher in Frankreich eine Tradition vorgefunden hat. Diese Formen, deren sich ein politischer Schriftsteller - Bestandteil seiner politischen Kultur - bedient, wären einmal eine Analyse wert. JOCHMANN schrieb Essays und Porträts, sogenannte Charakter-Umrisse, verfaßte Denkwürdigkeiten und Anekdoten, Glossen und Aphorismen.

Die essayistische Prosa seines Buchs "Über die Sprache" ist nicht immer leicht zu lesen, an vielen Stellen ist aber die rhythmische und gedankliche Intensität mitreißend, und immer wieder drängen die weitgespannten Sätze zu aphoristischer Kürze, zu prägnanten Formeln, die sich als Sentenzen oder Aphorismen herauslösen ließen. Das letzte Kapitel,  Stilübungen,  gibt dann derartige Beispiele dessen, was JOCHMANN unter Sprache versteht. Man mag streiten, ob es sich hier um Aphorismen oder um die weniger zugespitzte Form der Glosse handelt. Die Grenze zwischen diesen beiden Formen ist bei JOCHMANN schwer zu ziehen. "Am Ende schrieb er einfach Marginalien zur Geschichte seiner Zeit", meint HAUFE.

Die kürzeste Form, den Aphorismus, hat er sich auf den Leib geschrieben, an ihr am meisten gefeilt. Der Aphorismus funktioniert nach dem Modell zweier gegensätzlich geladener Stäbe, Pole, zwischen denen ein Funke überspringt: Aber hier ist es nicht nur der Funke der Erkenntnis, sondern auch der moralischen und politischen Energie. "Lebensluft entwickelt nicht nur der Baum; nicht - was Ihr aus ihm schnitzen wollt, - das Fachwerk in Eurem Studierzimmer." Oder: "Glückliche Zeiten! in welchen man die Leute einsperren mußte, damit sie verhungerten. Zu andern können sie es ganz bequem im Freien tun."

Es ist ein offene Form, unsystematisch, fragmentarisch, die Konkretes und Allgemeines blitzartig in produktive Berührung bringt: "Es ist ein Volk ohne Geschichte! sagen sie hohnlächelnd von den Amerikanern. Ein Volk ohne Geschichte ist ein Kind, ohne Sünden. Ein Volk ohne Geschichte ist ein Volk ohne Schandflecke." JOCHMANNs "Stilübungen", diese hundert Aphorismen und Glossen, die in lockerer Reihe Wissenschaft, Regierung, Recht, Schriftsteller, Sprache usw. beleuchten, enthalten einen offenen, kritischen Entwurf.  Erfahrungsfrüchte  heißen sie in der Ausgabe ZSCHOKKEs.

Die Geschichte seiner Wiederentdeckung und Nachwirkung in der Bundesrepublik ist verschattet, in erster Linie durch die im Wandel des "Zeitgeistes" konstante Unzeitgemäßheit JOCHMANNs, teils aber auch durch menschliche Unzulänglichkeit. WERNER KRAFT stieß Anfang der dreißiger Jahre als Bibliothekar in Hannover auf das Buch "Über die Sprache". Im Frühjahr 1933 sollte in WILHELM KÜTEMEYERs Berliner Zeitschrift  Der Sumpf  eine Auswahl der  Stilübungen  dieses Buchs mit einer Einleitung KRAFTs erscheinen, aber der fertige Satz dieser ersten Veröffentlichung mußte wegen eines befürchteten Überfalls auf die Druckerei - KÜTEMEYER und seine Freunde setzten die Zeitschrift selbst - wieder zerstört werden.

KRAFT emigrierte im gleichen Jahr über Paris nach Jerusalem. In Paris begegnete er 1937 WALTER BENJAMIN, sprach zu ihm über JOCHMANN und lieh ihm das Buch "Über die Sprache". Ende 1939 veröffentlichte WALTER BENJAMIN von Paris aus in der damals in New York fortgesetzten  Zeitschrift für Sozialforschung  (Studies in Philosophy and Social Science)" einen großartigen Essay über JOCHMANN und Auszüge aus  Die Rückschritte der Poesie,  dem vierten Kapitel des Buchs "Über die Sprache".

Das menschliche Drama, der nachfolgende Prioritätenstreit zwischen KRAFT und BENJAMIN im Frühjahr 1940, mag der Vergangenheit angehören; er hat aber einen überpersönlichen, für die Weiterentwicklung JOCHMANNs wesentlichen Aspekt. KRAFT und BENJAMIN nahmen JOCHMANN von unterschiedlichen Standpunkten aus wahr. KRAFT, der seit seiner Jugend am tiefsten KARL KRAUS verpflichtet war, las das Buch "Über die Sprache" "wie im Traume", weil hier ein Autor siebzig Jahre vor KARL KRAUS die Mängel bzw. das Fehlen einer öffentlichen politischen Sprache in Deutschland zum Thema machte. Und BENJAMIN, seit langem auf dem Weg marxistischer Kunsttheorie, las speziell das Kapitel  Rückschritte der Poesie  "mit klopfendem Herzen", weil ihn die Verwandtschaft einiger seiner theoretischen Hauptbeschäftigungen mit den Ideen JOCHMANNs zutiefst frappierte.

Es könnte sein, daß er sich in einem höheren Sinn für berechtigt gehalten hat, JOCHMANN ins Licht zu stellen. "Ich habe einen der größten revolutionären Schriftsteller Deutschlands entdeckt - einen Mann, der zwischen der Aufklärung und dem jungen MARX an einer Stelle steht, die bisher nicht zu fixieren war", schrieb er am 29.März 1937 an MARGARETE STEFFIN, kurz nachdem er das Buch von KRAFT geliehen hatte.

Der Streit hatte, leider, praktische Folge. Er hinderte ADORNO, der von der Berechtigung der Vorwürfe KRAFTs gegen BENJAMIN überzeugt war, BENJAMINs von ihm besonders geschätzten, JOCHMANN in seine Ausgabe der "Schriften" von 1955 aufzunehmen. Erst 1963 wurde diese Veröffentlichung BENJAMINs wieder abgedruckt in der Zeitschrift "Das Argument", ergänzt um eine Fußnote, die auf WERNER KRAFTs Wiederentdeckung hinwies und seine seit Jahren ungedruckte Monographie über JOCHMANN erwähnte.

1967 veröffentlichte KRAFT eine JOCHMANN-Auswahl in der Sammlung  Insel,  und 1972 schließlich konnte seine schon 1955 abgeschlossene große Monographie über JOCHMANN und seinen Kreis erscheinen. Aber weder der Aufsatz des einen noch die Veröffentlichungen des andern bewirkten einen Durchbruch JOCHMANNs, und auch der Erfolg seiner politischen Aphorismen ("Die Unzeitige Wahrheit") in der ehemaligen DDR scheint vorerst nicht diese Wirkung zu haben. - Jedenfalls meinte einer unserer namhaften Wetterfrösche, das Klima in der Bundesrepublik von 1980 sei für diesen Autor nicht günstig.

Es ist das beunruhigende Spannungsfeld zwischen Kultur und Politik, in dem JOCHMANN keinen Platz findet. Seine Geburt fiel in das Jahr der Französischen Revolution: Sie war der Ausgangspunkt der moralischen und politischen Leidenschaft dieses kritischen Schriftstellers. Das Charakteristische an ihm ist, daß er vor den "Jungen Deutschen" die Blickwendung von der Kultur zur Politik vollzog.

Die von WERNER KRAFT so genannte "Blickwendung" hatte einen geschichtlichen Grund: Sie erklärt sich aus der Disproportion zwischen kulturellem und politischem Niveau in der oft als "Goethezeit" charakterisierten politisch restaurativen Epoche. Die Alternative ist an sich - unabhängig von dieser bei uns traditionsreichen Kluft - unsinnig.

JOCHMANNs Blickwendung wiederholte sich in der 68er Generation in großem Maßstab, bis hin zu einem heute schon nicht mehr vorstellbaren Bildungs- und Kulturhaß - vielleicht zu ihrem Schaden. Denn waren schon ihre Väter, HABERMAS und MARCUSE, stilistisch nicht gerade CICEROs und TACITUSse, so verfingen sich ihre Schüler, ohne sprachlichen Orientierungspunkt, bald völlig im Akademischen und kamen sprachlich auf den Hund.

Inzwischen sind wir aber längst wieder tief im anderen Extrem. Was JOCHMANN wohl zu dieser unserer letzten Blickwendung gesagt hätte - dem gegenwärtigen "Goldrausch an den ewigen Werten" (BENJAMIN in seinem Aufsatz über JOCHMANN)? - Dem gegenüber enthält er das stärkste kritische Potential.

Er war ein Schriftsteller  sui generis. [eigener Art - wp] Die Ideale der Französischen Revolution waren sein Ausgangspunkt, er selbst war kein Revolutionär, sondern ein revolutionärer Betrachter und als solcher hindurchgegangen durch einen eher englisch geprägten Skeptizismus. Dieser Skeptizismus enthält das Element "Begeisterung", aber er ist nüchtern, es fehlt der Zug zum Rausch. Er war kein Romantiker oder Utopist ("Wir brauchen nicht die vollkommensten Gesetze und Einrichtungen, sondern die erträglichsten").

Er hatte feste Orientierungspunkte und dachte aus dem geschichtlichen Augenblick heraus, offen, konkret, radikal im Angriff auf die unheilige Kirche, den Adel, die Wissenschaft, er glaubte nur teilweise an Institutionen und setzte ebenso auf Zivilcourage. Der Freiheitsgedanke gehörte bei ihm zur Substanz ("Man soll intolerant gegen die Intoleranz sein").

JOCHMANNs letzte Veröffentlichung war eine Verteidigung der Homöopathie in Briefen. Er hielt sie für eine Jahrhundert-Erfindung, die aufgenommen worden sei "wie jede Wahrheit, die weiter nichts als gemeinnützig ist: mit Hohn und Verfolgung". - Er starb auf dem Weg zu HAHNEMANN, dem Begründer der Homöopathie, am 24.Juli 1830 in Naumburg an der Saale. Die spärliche Überlieferung paßt zu JOCHMANN, der nach seinem Wort "seine ganze Persönlichkeit zu einer öffentlichen machte".

JOCHMANN von innen: Im Testament spricht er von seiner krankhaften Reizbarkeit und verfügt, daß sein Herz in Riga beigesetzt werde. Das ist geschehen, man kann es heute auf einer Säule im Rigaer Domklosterhof besichtigen, das COR IOCHMANNII, gefaßt in eine Metallurne.

Seine Person ist erkennbar in allen Sätzen, die er schrieb, ganz nach dem Motto von HAMANN, das er dem Buch "Über die Sprache" vorangestellt hat: "Rede, daß ich dich sehe!"
LITERATUR - Uwe Poerksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik - Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1994