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UWE POERKSEN
Carl Gustav Jochmann
Kritik an der Sprache
des frühen 19. Jahrhunderts


"...wenn die Lüge herrscht, wie soll die Wahrheit nicht ein Aufruhr sein?"

War es Bescheidenheit, war es Klugheit, daß er anonym bleiben wollte? "Wenn er sich bereden ließ, eine oder die andere seiner Arbeiten drucken zu lassen, mußte dabei immer die feste Geheimhaltung ihres Verfassers Hauptbedingung werden", berichtet der in Magdeburg geborene, in der Schweiz praktizierende Schriftsteller und Politiker HEINRICH ZSCHOKKE in seinem Vorwort zu CARL GUSTAV JOCHMANNs Nachlaß.

Es war sicher "Klugheit" im Spiel. JOCHMANN war Balte, 1789 in der Hafenstadt Pernau bei Riga geboren. Als er 1819 nach Deutschland kam, um hier als freier Schriftsteller zu leben, stand das Land unter dem Eindruck der Ermordung des russischen Staatsrats und deutschen Dichters AUGUST von KOTZEBUE durch einen Studenten: eine aufgeregte Atmosphäre, über die JOCHMANN in einem Brief nach Riga berichtet hat. Überall "durch Parteigeist aufgeregte Menschen", "eine schwüle, beengende Luft".

Studenten wurden verhaftet, Dozenten emigrierten, Professoren wurden entlassen. Es begann die Beaufsichtigung der Universitäten durch Kommissare und die Zensur der Zeitungen und aller Schriften bis zu 320 Seiten, eine Zeit niedergehaltener Hoffnungen. Pressefreiheit bezeichnete man gerne als "Presse-Frechheit" in dieser Epoche der Restauration.

JOCHMANNs Schriften enthielten aufrührerische Sätze. "Wird die Fehde", schrieb er 1821 in einem großen Aufsatz über ROBESPIERRE, den sein Freund ZSCHOKKE in einer Schweizer Zeitschrift veröffentlichte, "wird die Fehde, die zwischen Staat und Schule endlich zum Ausbruch gekommen, geschlichtet werden, wenn man die Gelehrten-Republik (er meinte die Universitäten), die einzige, deren sich bisher die Deutschen in aller Ehrbarkeit erfreuen wollen, in eine  Erziehungs-Diktatur für Lehrer und Lernende umwandelt?"

Und 1828 stand in JOCHMANNs ebenfalls anonym erschienenen Buch "Über die Sprache", das wohl nicht zufällig mehr als 320, nämlich 360 Seiten hat, unter der Überschrift  Stilübungen:  "Wer den Zweck will, muß das Mittel wollen, wer Wahrheit - Öffentlichkeit", und dann, wenig später: "Das paßt, pflegt man zu sagen, wie die Faust aufs Auge; aber zuweilen paßt sie dahin. (...) wenn die Lüge herrscht, wie soll die Wahrheit nicht ein Aufruhr sein!"

Sein Verleger war der Heidelberger CHRISTIAN FRIEDRICH WINTER, der zur liberalen Opposition im Badischen Landtag gehörte und schon 1819 die gesetzlich geregelte Einführung der Pressefreiheit gefordert hatte. Das verband ihn mit JOCHMANN. JOCHMANNs Vorbild war "Englands Freiheit". In England beobachtete er das politische Leben, das er in Deutschland vermißte. "Sie sind frei wie man gesund ist. Sie genießen ihr bürgerliches Dasein in den Elementen der Öffentlichkeit wie ihr körperliches in dem der Luft."

Was verbürgte diese Freiheit? Stocknüchterner Protestant, der er war, hielt er den Mißbrauch der Gewalt für das Wahrscheinlichste. Die Konstitution, eine schriftlich fixierte Gewaltenteilung, garantierte seiner Meinung nach auch noch nicht die Freiheit; ihn interessierte die Verfassungswirklichkeit. Was bot Schutz und ermöglichte den Atem politischen Lebens?

JOCHMANN ist, am Beginn des Kampfes um die bürgerlichen Freiheiten, optimistischer als wir, aber es gibt nicht leicht einen emphatischen Befürworter der Pressefreiheit, der zugleich nüchterner wäre als er in seinem Essay  "Über die Öffentlichkeit".  Öffentlichkeit, eine offene Presse ist  das  Instrument, um die drei mächtigen öffentlichen Gewalten - Regierung, Parlament, Justiz - im konkurrierenden Gleichgewicht zu halten und den Bürger vor ihren Übergriffen zu schützen.

Indem die Presse beschämt, Zensuren verteilt, anstachelt und im Gegeneinander eine herrschende Meinung bildet, erzeuge sie eine Atmosphäre, gegen die keiner zu regieren wage (!). Was der ABBÉ GALIANI meinte - das Wesen der Freiheit bestehe in dem Recht, sich um Dinge zu kümmern, die einen nichts angingen -, sei ein tiefes und richtiges Wort.

Mit HEINRICH ZSCHOKKE, dem in seiner Zeit populären Autor und Mann der Aufklärung, verband ihn, am Beginn ihrer Freundschaft, ein "unerklärliches" Erlebnis. ZSCHOKKE berichtet von einem Besuch JOCHMANNs in Aarau im September 1820: "Während wir nämlich im Garten plaudernd beisammen saßen, und er mir abwechselnd von seinen Reisen, oder seinen Entwürfen für die Zukunft, erzählte, verlor ich mich in Betrachtung seiner Person. Wohlgebaut, von kaum mittlerer Größe, aber mager und zart, verrieth er, in der krankhaften Farbe seines sonst angenehmen Gesichts, eine schon zerstörte Gesundheit. Selbst der freundlich-milde Blick seiner Augen, auch wann er in Augenblicken der Begeisterung, oder im Gefühlt der Freude lebhafter erglänzte, schien ein verborgenes Leiden anzuklagen.

Allmählich verdunkelte sich vor mir seine Gestalt, als würde sie nebelhaft; ich hörte wohl seine Stimme, aber ohne seine Worte zu beachten. Es ward in diesem Augenblick der Gang seines bisherigen Lebens, selbst die geheime Geschichte seines Herzens, bis auf gewisse Einzelheiten, in mir hell. Als er endlich eine zeitlang stillschwieg, vermuthlich einer Antwort von mir gewärtig, erwachte ich wieder zur Besonnenheit und Klarheit der Dinge um mich her. Statt das Gespräch fortzusetzen, bat ich um Erlaubniß, ihm offen zu sagen, was unwillkürliche in mir vorgegangen sei, weil mir's selbst zu wichtig wäre, von ihm zu erfahren, ob micht vielleicht meine Phantasie mit einer Selbsttäuschung äffe.

Ich erzählte ihm von seiner Vergangenheit, von besonderen Lebensverhältnissen, von einer Liebe, die schmerzlichen Ausgang für sein Gemüth gehabt usw. Er starrte mich seltsam an; er gestand redlich die verschiedenen Vorgänge ein, selbst die Richtigkeit von mir angeführter Nebendinge und Kleinigkeiten. Beide gleich sehr verwundert, erschöpften wir uns in fortgesetzter Unterhaltung mit Vermuthungen aller Art, die seelische Räthsel zu lösen."

Sein Leben war unruhig, ein Hin und Her in den europäischen Ländern. Er verließ früh das Elternhaus und besuchte die Domschule in Riga, studierte aber nicht in Dorpat, sondern seit 1805, sechzehnjährig, in Deutschland. Er trat hier als Student kurzfristig in ein französisches Regiment ein, um an der Befreiung Polens von russischer Herrschaft mitzuwirken - eine an Hölderlins  "Hyperion"  erinnernde Episode, die er später verschwiegen hat -, arbeitete dann als Advokat in Riga, wich jetzt, 1812, an NAPOLEON irre geworden, vor den napoleonischen Truppen aus und hielt sich einige Jahre in England auf, kehrte nach Riga zurück, erarbeitete sich in kurzer Zeit ein Vermögen, von dem er leben konnte, und brach als Dreißigjähriger endgültig nach Westeuropa auf, mit schon untergrabener Gesundheit, lebte in Paris, in der Schweiz, in Südfrankreich, zuletzt bis zu seinem frühen Ende (1830) meist in Baden-Baden und Karlsruhe: in der Öffentlichkeit mit seinen wenigen anonymen Publikationen unbeachtet.

Zu seinen Freunden gehörten Kaufleute, Bankiers, Politiker und einige wenige Schriftsteller. ZSCHOKKE, dem er im Testament die Vernichtung seines Nachlaßes anheimgestellt hatte, gab ihn 1836 heraus. Die drei Bände fanden nur kurz Aufmerksamkeit. Fast hundert Jahre später wurde er wiederentdeckt von der deutschen Emigration, von dem seit 1934 in Jerusalem lebenden WERNER KRAFT, und zuerst bekannt gemacht durch WALTER BENJAMIN, der ihm vor seiner Flucht aus Paris eine seiner letzten Arbeiten widmete.

Die Resonanz blieb bescheiden - auch die 68er, denen er einiges zu bieten gehabt hätte, nahmen sich kaum JOCHMANNs an. Eine Auswahl von 1967 wurde verramscht. Anklang fand er in der ehemaligen DDR. 1976 erschienen in Weimar, herausgegeben von EBERHARD HAUFE, JOCHMANNs pointierte politische Aphorismen und sein leidenschaftliches Plädoyer für Pressefreiheit ( "Über die Öffentlichkeit")  unter dem Titel  "Die Unzeitige Wahrheit".  Es ist, mit ihrem instruktiven Nachwort, der Lebenschronik JOCHMANNs und dem Kommentar, eine beneidenswert sorgfältige Edition. Die erste Auflage (5000 Expl.) war in gut zwei Monaten vergriffen (in Moskau,  "Neue ausländische Literatur",  erschien eine ausführliche Besprechung), die im Frühjahr 1980 herausgebrachte zweite Auflage (6000 Expl.) war schon vor dem Erscheinen durch Vorbestellung vergeben.

"Weit entfernt also, uns über die Rückschritte der Poesie zu beklagen zu müssen, sollten wir uns vielmehr zu ihnen beglückwünschen", hieß es in der zitierten Schrift,  "Über die Sprache."  JOCHMANN - es war die Zeit der Romantiker, immerhin, und, immer noch, der Großmacht GOETHE - hielt nicht allzu viel von Poesie. Sie erschien ihm - KARL MARX war damals zehn Jahre alt - als Kompensation eines Mangels, der eine vernünftigere und praktischere Befriedigung verdient; ihren Niedergang, die "Rückschritte der Poesie", sah er als Indikator gesellschaftlichen Fortschritts.

Er leugnete nicht ihren Sinn, und er liebte die Gesänge SCHUBARTs und den "einzigen" SCHILLER, aber seine eigentliche Intention ging dahin, Dichtung in Wirklichkeit übergehen zu sehen. Seine Urteile waren schroff und einseitig. Er nannte die Dichtungen seiner Zeit bis auf zwei, drei Ausnahmen "Vergötterungen eigner und fremder Nichtswürdigkeiten", "ekelhafte Gemische von Selbsttäuschung und Schmeichelei", und meinte von den Künsten und Wissenschaften des klassischen Griechenlands - dem Vorbild des klassischen Weimar -, daß sie "nur auf einigen vereinzelten Punkten die tiefe Unmenschlichkeit aller gesellschaftlichen Verhältnisse mit einem täuschenden Schimmer überkleideten".

JOCHMANNs Abwendung von der Dichtung - er hat selbst ein schönes Poem hinterlassen auf eine gewisse Jenny, "Jenny at the white heart", die zu den Naturschönheiten des Städtchens Reading gehört, und kein Guide kenn sie -, diese schroffe Abkehr von der Poesie hängt mit seinen Wurzeln zusammen, der Freiheitsbewegung in den baltischen Provinzen, und mit der Situation in Deutschland seit 1819, seit der Ermordung KOTZEBUEs.

JOCHMANN ging davon aus, daß die Existenz eines Bildungsbürgertums über etwas hinwegtäuschte: über das Fehlen eines politischen Bürgertums im Deutschland dieser Jahre, einer Öffentlichkeit, in der politisch gedacht und geatmet, geredet und gehandelt wurde. Er meinte das Fehlen einer politischen Kultur. "Weiser als Salomo der Weise, haben sie nicht nur den  bösen,  sondern  allen  Geist in Bücher gebannt, und ihn da sitzen lassen."

Im Jahr 1819 - seinem Beginn als freier Schriftsteller - blieb er zunächst nur kurz in Deutschland. Er wich aus nach Paris und traf hier auf einen Kreis deutscher Emigranten, begegnete dem preußischen Grafen SCHLABRENDORF, der ihn als Schriftsteller auf den Sprung gebracht hat. SCHLABRENDORF war ein Weltbürger aus Menschenliebe und ein Demokrat, der seinen Stand verlassen hatte und seit der Französischen Revolution funktionslos in einem Hotelzimmer in Paris lebte, sein Vermögen zur Unterstützung anderer einsetzte und leidenschaftlich teilnehmend die politische Situation in Europa reflektierte und beurteilte. Er war eine Instanz. Schriftsteller und Politiker suchten ihn auf, um ihn sprechen zu hören. Im Hof seines Hotels stand bepackt seine Kutsche; er wartete auf Veränderungen in Preußen, hoffte - anscheinend nicht ganz ohne Grund -, man würde ihm ein hohes Amt antragen. Die Kutsche vermoderte.

Der Graf schrieb Gedichte, Einzeiler - "Zartem Ohre halbes Wort" - eine Zeile durfte nicht mehr als 14 Silben enthalten, er verkünstelte sich (wie JOCHMANN gut badensisch sagt) an diesen Denksprüchen. "Dunstgranaten" hat GOETHE sie genannt. In den letzten zehn Jahren seines Lebens verließ er seine Hotelwohnung nicht mehr. "Gelähmte Gestalt einer Übergangszeit" nannte ihn FRIEDHELM KEMP, und VARNHAGEN hat ihn beschrieben: auf einem wackligen Schemel sitzend, in seinem zerrissenen graugelben Kittel, die bloßen Füße in alten Schuhen, seine nackte Brust von dem grauen Bart halb bedeckt - den "ehrwürdigen Einsiedler" im Chaos seiner Bücher. Er verkam im Schmutz - aber der Geist schwebte über den Wassern -. Er blieb eine Instanz. Eine Staatslehre und eine Sprachlehre, an denen er arbeitete, wurden nie fertig: Er verströmte sich im Gespräch.

SCHLABRENDORF scheint kein geschriebenes Werk hinterlassen zu haben, wenn nicht eine polemische Denkschrift  "NAPOLEON BONAPARTE und das französische Volk unter seinem Consulate"  von seiner Hand ist; WERNER KRAFT macht stark Gründe dafür geltend. Im übrigen ist JOCHMANN ein wesentlicher Zeuge des politischen Weltbildes und der Sprachtheorie dieses Mannes, teils durch sein in sehr vielem von SCHLABRENDORF angeregtes Buch  "Über die Sprache"  und teils durch postum veröffentlichten Aufzeichnungen JOCHMANNs aus den Pariser Gesprächen.

JOCHMANN war ein Nachzügler der Aufklärung und ein Frühliberaler, der seinem Jahrhundert in manchem weit voraus war. Er teilte den Aufklärungsglauben an den Fortschritt der Zivilisation und sah mit vielen europamüden Zeitgenossen um 1830 die Vereinigten Staaten vorangehen auf dem Weg in das gelobte Land der Zukunft. Das idealisierte England war das Leitbild seines Liberalismus. Zu seinen Initialen gehört, darin verkörperte er lutherische Tradition, das Wort "Wahrheit". Aber er wähnt sich nicht in ihrem Besitz und verfügt über kein philosophisches System.

Es gibt bei ihm einen Grundzug von Skepsis, Widersprüchliches, auch tief dunkle pessimistische Stellen. Er schreibt dennoch, im Vertrauen, daß im offenen Spiel und Streit der Meinungen, durch die Veröffentlichung des als wahr oder verlogen, böse oder gut Erkannten, sei es auf dem Gebiet der Politik oder der Wissenschaft, das Bessere eine Chance erhält und Fortschritt ermöglicht wird. Dazu bedarf es der Öffentlichkeit. Die Idee der Öffentlichkeit ist fast gleichbedeutend mit der ihres Mediums, einer freien öffentlichen Rede.

JOCHMANN entdeckt - siebzig Jahre vor KARL KRAUS - das Politikum der Sprache. Wie alle Sprachkritiker geht er davon aus, daß Sprache und Denken zwei Seiten einer Medaille sind - das Wort ist "Spiegel des Verstandes", heißt es beiLEIBNIZ - aber er wendet diesen Gedanken politisch. Das Fehlen einer politischen Sprache in Deutschland ist für ihn das Indiz seiner politischen, gesellschaftlichen Rückständigkeit. "Wir sind ein gemißhandeltes Volk, weil ein stummes, und wir haben keine Stimme im Rat der Völker, weil keine Sprache."

Das Buch  "Über die Sprache"  beginnt mit einem Kapitel "Über den Rhythmus", und zwar in der Form eines Gesprächs, das als  Bruchstück aus den Denkwürdigkeiten des Grafen S***  eingeführt wird. Den von heute aus nicht immer leicht zugänglichen subtilen Überlegungen des Grafen zu Fragen der Metrik und Rhythmik liegt der politische Gedanke zugrunde, daß die Wirkung des Wortes nicht zuletzt von seinem Wohlklang abhängt.

Daß JOCHMANN mit dem Rhythmus beginnt, erklärt sich auch daraus, daß er von einem Primat der gesprochenen Sprache ausgeht. Er denkt konkret an das im Freien gesprochene Wort. England ist für ihn u.a. darum Vorbild, weil hier, im Gegensatz zu dem Mangel an Öffentlichkeit in Deutschland, die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für die öffentliche Rede, eine mündliche Rechtspflege z.B. und Rednertribünen, vorhanden sind. Unter solchen Bedingungen entstehe eine gesprochene Sprache, die dann auch zur Basis der geschriebenen werde. Es sei der Vorzug der englischen Bücher, daß sie sich  hören  ließen, in Deutschland atme alles Geschriebene Studierstubenluft.

Eine andere unabgdingbare Voraussetzung von Öffentlichkeit ist Gemeinverständlichkeit. "Die erste und wichtigste von allen Öffentlichkeiten, und die jeder andern zugrunde liegt, ist eine verständliche Sprache; und wie jede andre Öffentlichkeit nicht nur indem sie das Gute bekannt macht, sondern auch, und noch mehr, indem sie das Böse aufdeckt, ihre Wohltätigkeit bewährt, so ist eine Sprache um so höher zu schätzen, je unverhüllter sie auch die hinfällige Lüge in ihrer ganzen Blöße darstellt, wie die nackte Wahrheit in ihrer ganzen Kraft."

In diesem Punkt versagt die deutsche Sprache nach 1800 in JOCHMANNs Augen vollständig; das öffentliche, politische und geistige Leben sei scholastisch verträumt. Er wendet sich frühzeitig gegen den romantischen Anachronismus der Mittelalterverklärung in dieser Epoche politischer Restauration und gegen eine nationalromantische Philologie, die in der Nibelungensage und in den "Windeln der Sprache" das Kostüm für die Gegenwart sucht.

Der stärkste Stein des Anstoßes ist aber die Sprachentrennung. Es liest sich amüsant - auch vor dem Hintergrund unseres heutigen zu Recht vielberufenen Jargons -, amüsant und bedrückend und immer noch aktuell, wenn JOCHMANN von der Universitätssprache seiner Zeit spricht: "Anderswo erforderte ein philosophisches Werk die angestrengtere Aufmerksamkeit seiner Leser doch nur für den Gegenstand; in Deutschland gibt es fast keines, dessen Verfasser nicht unverschämt genug wäre, ihnen auch noch die Mühe des Erlernens einer neuen Sprache zuzumuten, seiner eigenen nämlich (...)"
    "Diese geistige Verdauungsschwäche, der Geburtsmakel des Deutschen, den er, statt ihn als  Ernst und Gründlichkeit  mit schönen Worten zu übertünchen, und wert und hoch zu halten, besser für das was er ist, für ein Gebrechen erkennen sollte, um es zu ergründen und zu beseitigen. Woher anders? als weil das gelehrteste Volk der Erde immer nur auswendig lernte, immer nur Gedanken sammelte, und keine mitzuteilen verstand."
Auch die politische Sprache sei in Deutschland weniger ein Mittel, etwas durchsichtig zu machen, als ein Instrument der Einschüchterung und Täuschung. Es wimmele von Titeln, "Deputierten", "Repräsentanten" und "Legislatur", wo es sich für das Verständnis des Engländers einfach um Abgeordnete, Stellvertreter und die gesetzgebende Gewalt handle. In der deutschen Gesellschaft fehle die "laute Sprachübung"; an ihrer Stelle stehe die Sprache des Befehlens, die in diktatorischer Kürze aufstampfe, und des Gehorchens, die in untertäniger Breite dahinkrieche, der Kanzleistil der Machthaber und der Redeschlendrian des Pöbels. "Herren und Knechte sind selten gute Sprecher."

JOCHMANNs Sprachkritik ist politisch-soziologisch orientiert; sie hofft auf einen "zahlreichen Mittelstand", der sich politisch artikuliert. Die Kritik gilt nicht nur dem Zustand der Sprache, sondern auch, womit sie in Wechselwirkung steht, dem gesellschaftlichen Zustand.

Die Idee der Gemeinverständlichkeit, der Aufhebung der Sprachentrennung in der Gesellschaft, teilt JOCHMANN mit JOACHIM HEINRICH CAMPE. Dieser sein Vorgänger, der Erzieher HUMBOLDTs und Volksschriftsteller der Aufklärung, war der Ansicht, daß das Ideal einer "allgemeinen Verständlichkeit" am ehesten durch das Ausscheiden und Übersetzen der Fremdwörter zu erreichen sei. CAMPE hatte, angeregt durch LEIBNIZ' postum erschienen Aufsatz "Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache" (1717), dem Programm der "Sprachreinigung" zu einem gewissen Durchbruch verholfen, zunächst durch seine von der Berliner Akademie preisgekrönte Schrift  "Über die Reinigung und Bereicherung der deutschen Sprache"  (1793) und dann durch das "Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke", das zuerst 1801 und dann 1813 als Band 6 von CAMPEs"Wörterbuch der deutschen Sprache" erschien.

In diesem Wörterbuch geht CAMPE von der Annahme aus, daß das Gebrauchsdeutsch seiner Zeit zu einem Fünftel aus Fremdwörtern bestehe, und unternimmt über 11000 Verdeutschungsversuche. Darunter findet man Ausdrücke wie  Dörrleiche  für Mumie,  Purpurpfaff  für Kardinal,  Menschenschlächter  für Soldat,  Wonnegefilde  für Paradies oder  Erdkammer  für Souterrain; aber daneben gibt es Wörter wie  sich eignen, Tageblatt, Stelldichein, verwirklichen, Minderheit, dienstunfähig, gesetzgebende Versammlung , die als Ersetzungen von  sich qualifizieren, Journal, Rendezvous, realisieren, Minorität, invalid, Legislative  zu unserem alltäglichen Wortschatz gehören und ihn bereichert haben, ohne ihn allerdings zu "reinigen", ohne die aus fremden Sprachen entlehnten Synonyme zu verdrängen. CAMPEs sprachkritische Arbeit wurde nicht selten belustigt aufgenommen, GOETHE und SCHILLER erkundigten sich in einer Xenie, wie er denn das Wort  Pedant  übersetzte.
LITERATUR - Uwe Poerksen, Wissenschaftssprache und Sprachkritik - Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1994