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JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Darstellung der Wissenschaftslehre
[1801]

"Es tut sich daher ein Abgrund der Dummheit auf, wenn mich irgendwo irgendein Nikolai auffordert, ihm doch zu sagen, wie man irgendetwas wissen kann außer durch Erfahrung. Durch Erfahrung kann man gar nichts wissen; da das bloß Erfahrene erst aufgegeben werden muß, wenn es mit uns zu einem Wissen kommen soll."

"Die Wissenschaftslehre ist die Anschauung des allgemeinen, nicht erst zu erwerbenden, sondern schlechthin bei jedem, der nur ein vernünftiges Wesen ist, vorauszusetzenden und das vernünftige Wesen eben konstituierenden Wissens. Sie ist daher das Leichteste, Offenbarste, einem jeden zunächst vor den Füßen Liegende, was es geben kann. Es gehört zu ihr nichts weiter, als daß man sich auf sich selbst besinnt, und einen festen Blick in sein Inneres wende. Daß die Menschheit in ihrem Forschen nach ihr Jahrtausende irre gegangen ist, und das Zeitalter, dem sie vorgelegt wurde, sie nicht vernommen hat, beweist bloß, daß den Menschen bis jetzt alles andere näher gelegen hat, als sie sich selbst."

Erster Teil
Einleitung

Begriff der Wissenschaftslehre


§ 1. Vorläufige Beschreibung des Wissens
mittels einer Konstruktion desselben

Vorläufig nennen wir diese Beschreibung, weil durch sie nicht etwa der Begriff des Wissens erschöpft, sondern nur diejenigen Merkmale in demselben nachgewiesen werden sollen, deren wir für unseren gegenwärtigen Zweck bedürfen. Die Frage, mit welcher man gleich den Anfang unserer Rede unterbrechen könnte, von welchem Wissen redet ihr denn, und in welchem Sinn bedient ihr euch dieses vieldeutigen Wortes, käme demnach hier zur Unzeit. Wir verstehen an diesem Ort unter demselben dasjenige, was wir sogleich angeben werden, und durchaus nichts anderes, und bedienen uns dieses Wortes in dem Sinne, der auf dem Folgenden hervorgehen wird.



Beschreibe einen beliebigen Winkel; - würden wir dem Leser zurufen, wenn wir uns mit demselben im Gespräch befänden. - Schließe nun diesen beschriebenen Winkel mit einer dritten geraden Linie. Nimmst du wohl an, daß derselbe Winkel noch mit einer oder mehreren anderen (d. h. mit irgendeiner längeren oder kürzeren) Linie habe geschlossen werden können außer der, mit der du ihn wirklich geschlossen hast - Wenn er, wie wir erwarten, darauf antwortet, daß er dies keineswegs annimmt, so werden wir ihn weiter fragen, ob er dies nur für seine Meinung, sein unvorgreifliches, einer weiteren Berichtigung sich allerdings bescheidenes Gutachten halte, oder ob er es zu wissen, ganz gewiß und sicher zu wissen glaubt. Bejaht er diese Frage, wie wir gleichfalls erwarten, so werden wir ihn weiter fragen, ob er dafür halte, daß der ausgesprochene Fall nur bei diesem bestimmten Winkel, der ihm im Konstruieren nun eben so ausfiel, wie er ihm ausfiel, und bei diesen bestimmten einschließenden Seiten, die ihm ebenfalls nun gerade so ausfielen, stattfindet, und ob etwa andere mögliche Winkel zwischen anderen möglichen Seiten durch mehrere dritte Seiten, außer  einer,  möchten geschlossen werden können; ferner, nachdem er hierüber sein Urteil abgegeben hat, ob er glaubt, daß nur ihm für seine Person die Sache so erscheine oder daß schlechthin alle vernünftigen Wesen, die nur seine Worte verstehen, hierin notwendig seiner Überzeugung sind; endlich, ob er diese beiden in Frage gestellten Punkte eben nur zu meinen, oder entschieden zu wissen glaubt. Antwortet er, wie wir erwarten - denn sollte eine einzige der hier zu erteilenden Antworten anders ausfallen, als wir sie voraussetzen, so müßten wir freilich, so lange sein Zustand derselbe bleibt, alle weitere Unterhaltung mit dem Leser aufgeben; mit welchem Recht, kann nur derjenige beurteilen, der die Fragen richtig beantwortet hat - antwortet er, daß schlechthin keiner unter den unendlich möglichen Winkeln, eingeschlossen in die unendlich möglichen Seiten, mit anderen, außer einer einzigen möglichen dritten Seite geschlossen werden kann, daß schlechthin jedes vernünftige Wesen derselben Überzeugung sein muß, und daß er der absoluten Gültigkeit des ausgesprochenen Satzes, beides sowohl  Von  den unendlich möglichen Winkeln, als  für  die unendlich möglichen Vernunftwesen schlechthin sicher ist; so werden wir ihm weiter folgende Betrachtungen anstellen.

Er versichert sonach am ausgesprochenen Vorstellen ein  Wissen  zu haben, eine Stetigkeit, Festigkeit und Unerschütterlichkeit des Vorstellens, auf der er unwandelbar ruht, und unwandelbar zu ruhen sich verspricht. Worauf ruht dann nun eigentlich dieses Wissen; welches ist dieser feste Standpunkt, dieses unwandelbare Objekt desselben?

Zuallererst: - Der Leser hatte eben einen bestimmten Winkel von einer bestimmten Summe von Graden durch bestimmte Seiten von bestimmter Länge errichtet, zog darauf ein für allemal die dritte Seite, und sagte in diesem Ziehen ein für allemal aus, daß nach ins unendliche fortgesetzten Proben, eine andere zu ziehen, doch immer nur dieselbe werde wiederholt werden können. Mithin mußte er im diesmaligen Ziehen gar nicht bloß das diesmalige, sondern das Ziehen einer Linie unter diesen Bedingungen, d. h. um diesen bestimmten Winkel zu schließen, überhaupt und schlechthin in seiner unendlichen Wiederholbarkeit, mit  einem  Blick zu übersehen meinen und wirklich übersehen, wenn es mit seiner Behauptung eines Wissens Grund haben soll. Er mußte auf das diesmalige Ziehen, als diesmaliges, überhaupt gar nicht sehen. Ferner: der ausgesagte Satz sollte nicht nur für diesen bestimmten, ihm vorliegenden Winkel, sondern schlechthin für die unendlich möglichen Winkel gelten, behauptete er zu wissen; er mußte demnach auf das Ziehen einer Linie, um  überhaupt  einen Winkel zu schließen, sehen, und dasselbe in seiner möglichen unendlichen Verschiedenheit mit  einem  Blick übersehen, aus seiner Seele heraus in die Seele aller vernünftigen Wesen hineinsehen, wenn es mit seiner Behauptung des ausgesprochenen Wissens Grund haben soll. Endlich, indem er, dies alles zusammengefaßt, zu wissen behauptet und dann in alle Ewigkeit nicht anders zu urteilen sich verspricht, setzt er sein in diesem Augenblick gefälltes Urteil, als Urteil für alle Zukunft sowohl, als für alle Vergangenheit, wenn in ihr über diesen Gegenstand hätte geurteilt werden sollen, fest; er betrachtet sonach sein Urteil gar nicht als ein in diesem Augenblick gefälltes, sondern übersieht sein und aller vernünftigen Wesen Urteil über diesen Gegenstand schlechthin in aller Zeit, d. h. absolut zeitlos, wenn es mit der Behauptung des ausgesprochenen Wissens Grund haben soll. Mit einem Wort: der Leser schreibt sich zu eine Übersicht und ein Auffassen  allen Vorstellens  - versteht sich in Beziehung auf den Gegenstand, an welchem wir es erwiesen haben - schlechthin mit  einem  Blick.

Nun verhindert uns nichts, davon zu abstrahieren, daß im gewählten Beispiel es gerade das Vorstellen über die Linie zwischen zwei Punkten war, welches mit dem  einen  Blick umfaßt wurde; und demzufolge als Resultat unserer Untersuchung den bloß formalen Satz aufzustellen: es gibt, falls der Leser unsere obigen Fragen beantwortet hat, wie wir es voraussetzten, für denselben ein Wissen, und dieses Wissen ist das Auffassen eines gewissen Vorstellens (oder, wie wir lieber sagen, der Vernunft; welches Wort indessen hier nicht mehr bedeuten soll, als es dem Zusammenhang zufolge bedeuten kann) in seiner Gesamtheit schlechthin mit  einem  Blick. Nichts hindert uns, sage ich, diese Abstraktion zu machen, wenn wir nur nicht etwa mittels derselben unser Resultat willkürlich erweitern, sondern gänzlich unentschieden lassen, ob es bloß den zum Beispiel untergelegten Gegenstand eines Wissens, oder außer ihm auch noch mehrere gibt.


§ 2. Wort-Erklärungen

Ein solches absolutes Zusammenfassen und Übersehen eines Mannigfaltigen vom Vorstellen, welces Mannigfaltige denn auch wohl überall zugleich ein unendliches sein dürfte, wie sich ein solches in der vorstehenden Konstruktion eines Wissens gezeigt hat, heißt in der folgenden Bearbeitung, und überhaupt in der Wissenschaftslehre,  Anschauung.  Es hat sich in derselben Konstruktion gefunden, daß nur in der Anschauung das Wissen beruth und besteht.

Diesem zusammenfassenden Bewußtsein ist entgegengesetzt das Bewußtsein des Besonderen, wie im untergelegten Beispiel das Bewußtsein des  diesmaligen  Ziehens der Linie zwischen den beiden durch den Winkel bestimmten Punkten war. Wir können dieses Bewußtsein  Wahrnehmung  nennen, oder Erfahrung. Es hat sich gefunden, daß im Wissen von der bloßen Wahrnehmung abgesehen werden muß. (1)


§ 3. Beschreibung der Wissenschaftslehre,
als eines Wissens vom Wissen

Die Wissenschaftslehre voll, wie die Zusammensetzung des Wortes zeigt, eine Lehre sein, eine Theorie des Wissens, welche Theorie sich nun ohne Zweifel auf ein Wissen vom Wissen gründet, dasselbe erzeugt, oder mit einem Wort, - es ist.

Dieses Wissen vom Wissen ist, zufolge des Begriffs, zuallererst selbst ein Wissen, ein Zusammenfassen eines Mannigfaltigen durchaus mit  einem  Blick.

Es ist ferner ein Wissen vom Wissen. Wie sich verhält das oben beschriebene Wissen vom Linienziehen zwischen zwei Punkten schlechthin zu den ins Unendliche verschiedenen Fällen dieses Ziehens, so verhält sich das Wissen vom Wissen zu diesem Wissen, welches sodann freilich die Ansicht eines Mannigfaltigen geben müßte, oder schlechthin in  einem  Blick zusammengefaßt würde.

Oder, noch deutlicher und schärfer: - in allem bloßen Wissen vom Ziehen der Linie, von den Verhältnissen der Teile eines Triangels, und welcherlei Wissen es sonst noch geben mag, wäre das Wissen in seiner absoluten Identität,  eben als Wissen,  der eigentliche Mittelpunkt und Sitz des -  Wissens vom  Linienziehen, Verhältnis der Teile des Triangels usw. In ihm eben und seiner Einheit, würde von allem, so verschieden dasselbe auch sonst sein mag, dennoch auf einerlei Weise  gewußt,  in dem von uns bezeichneten Sinne; keineswegs aber vom Wissen, als solchem, gewußt, weil ja eben nicht vom Wissen, sondern vom Linienziehen und dgl. gewußt wird. Das Wissen  wäre  eben, als Wissen, und wüßte eben, weil es wäre; aber es wüßte nicht von sich, eben weil es bloß wäre. Im  Wissen vom Wissen  aber würde dieses Wissen selbst durchaus als solches mit  einem  Blick, und darum eben als sich selbst gleiche Einheit, aufgefaßt; gerade so wie im Wissen das Linienziehen usw. als sich selbst gleiche Einheit aufgefaßt wurde. Im Wissen vom Wissen entäußerte das Wissen sich seiner selbst, und stellte sich hin vor sich selbst, um sich wiederum zu ergreifen.

So hatten wir in unserer Beschreibung des Wissens (§ 1.) allerdings das bloße Wissen - nur eben ein bestimmtes vom Linienziehen - zu unserem Objekt. Das aber, was  wir selbst,  - nur uns unbewußt, eben weil dies der Mittelpunkt unseres Bewußtseins war, - in dieser Beschreibung  waren  oder  vollzogen,  war ein  Wissen von  diesem bloßen Wissen. Wir standen sonach schon in jener Beschreibung nicht auf dem Boden der bloßen Wissenschaft, so wie wir es etwa mit jenem Satz von der Linie in der Geometrie tun, sondern auf dem der Wissenschaftslehre; und in der soeben angestellten Betrachtung haben wir noch über der Wissenschaftslehre gestanden



Es ist klar, daß ein solches sich selbst Ergreifen und Erfassen des Wissens, wie wir das Wissen vom Wissen beschrieben haben, möglich sein muß, wenn eine Wissenschaftslehre möglich sein soll. Nun könnten wir allerdings sogar schon hier aus der Wirklichkeit des Bewußtseins unserer aller den, freilich nur mittelbaren, Beweis führen, daß dieses sich ergreifende Wissen wirklich, mithin wohl möglich sein muß. Der direkte unmittelbare Beweis aber ist eben die Wirklichkeit der Wissenschaftslehre, den sich jeder faktisch führen wird, wenn er dieselbe in sich realisiert. Wir können uns daher, auf diesen zu führenden faktischen uns berufend, alles vorläufigen Beweises durch Worte überheben; da wir zum Überfluß schon jetzt durch die bloße Existenz unseres § 1. den faktischen Beweis erhoben haben.


§ 4. Folgerungen

1) Alles Wissen ist nach dem obigen Anschauung (§ 2.). daher ist das Wissen vom Wissen, insofern es selbst ein Wissen ist, Anschauung, und insofern es ein Wissen vom Wissen ist, Anschauung aller Anschauung; absolutes Zusammenfassen aller möglichen Anschauung in  eine. 

2) Es ist also die Wissenschaftslehre, die ja das Wissen vom Wissen ist, keine Mehrheit von Erkenntnissen, kein System oder Zusammenfügung von Sätzen, sondern sie ist durchaus nur ein einiger, unteilbaren Blick.

3) Die Anschauung ist selbst absolutes Wissen, Festigkeit, Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit des Vorstellens; die Wissenschaftslehre aber ist lediglich die Einheits-Anschauung jener Anschauung. Sie ist daher selbst absolutes Wissen, Festigkeit, Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit des Urteils. Das also, was nun wirklich Wissenschaftslehre ist, kann von einem vernünftigen Wesen nicht widerlegt, ihm kann nicht widersprochen, es kann daran nicht einmal gezweifelt werden, indem alle Widerlegung, aller Widerspruch und aller Zweifel auf ihrem Boden erst möglich gemacht wird und tief unter ihr liegt. Es kann ihr, in Beziehung auf Individuen, lediglich das begegnen, daß jemand sie besitzt.

4) Da die Wissenschaftslehre eben nur die Anschauung des unabhängig von ihr vorausgesetzten und vorauszusetzenden Wissens (vom Linienziehen, Triangel usw.) ist, so kann sie kein neues und besonderes, etwa nur durch sie mögliches materiales Wissen (Wissen von  Etwas)  herbeiführen, sondern sie ist nur das zum Wissen von sich selbst, zu Besonnenheit, Klarheit und Herrschaft über sich selbst gekommene allgemeine Wissen. Sie ist gar nicht  Objekt  des Wissens, sondern nur Form des Wissens von allen möglichen Objekten. Sie ist auf keine Weise unser Gegenstand, sondern unser Werkzeug, unsere Hand, unser Fuß, unser Auge; ja nicht einmal unser Auge, sondern nur die Klarheit des Auges. Zum Gegenstand macht man sie nur dem, der sie noch nicht hat, bis er sie bekommt, nur um dieses willen stellt man sie in Worten dar: wer sie hat, der, insofern er nur auf sich selbst sieht, redet nicht mehr von ihr, sondern er lebt, tut und treibt sie in seinem übrigen Wissen. Der Strenge nach  hat  man sie nicht, sondern man  ist  sie, und keiner hat sie eher, bis er selbst zu ihr geworden ist.

5) Sie ist, sagten wir, die Anschauung des allgemeinen, nicht erst zu erwerbenden, sondern schlechthin bei jedem, der nur ein vernünftiges Wesen ist, vorauszusetzenden und das vernünftige Wesen eben konstituierenden Wissens. Sie ist daher das Leichteste, Offenbarste, einem jeden zunächst vor den Füßen Liegende, was es geben kann. Es gehört zu ihr nichts weiter, als daß man sich auf sich selbst besinnt, und einen festen Blick in sein Inneres wende. Daß die Menschheit in ihrem Forschen nach ihr Jahrtausende irre gegangen ist, und das Zeitalter, dem sie vorgelegt wurde, sie nicht vernommen hat, beweist bloß, daß den Menschen bis jetzt alles andere näher gelegen hat, als sie sich selbst.

6) Ungeachtet dessen, daß die Wissenschaftslehre nun nicht ein System von Erkenntnissen, sondern eine einige Anschauung ist, so könnte es doch wohl sein, daß die Einheit dieser Anschauung selbst keineswegs eine absolute Einfachheit, ein letztes Element, Atom, Monade oder wie man diesen Urgedanken sonst noch ausdrücken will, wäre, etwa weil es so etwas im Wissen nicht, und überhaupt nicht gäbe, sondern daß sie eine  organische  Einheit wäre, eine Verschmelzung der Mannigfaltigkeit in Einheit, und die Ausströmung der Einheit in Mannigfaltigkeit zugleich und in ungetrennter Einheit: wiewohl sich schon daraus ergeben dürfte, daß diese Anschauung ein Mannigfaltiges von Anschauungen in  einen  Blick fassen soll, deren jede, einzeln gedacht, wiederum ein unendliches Mannigfaltiges von Fällen in  einen  Blick fassen soll.

Nun könnte ferner, falls dieses sich so verhalten sollte, es wohl geschehen, daß wir, nicht in dem bei uns vorauszusetzenden eigenen Besitz dieser Wissenschaft, sondern im Vortrag derselben für andere, welche als nicht besitzende vorausgesetzt werden, jene Einheit nicht unmittelbar hinzustellen vermöchten, sondern sie sich erst vor dem Auge des Lesers aus irgendeiner Mannigfaltigkeit organisieren, und wiederum in jene sich desorganisieren lassen müßten. In diesem Fall würde dasjenige Glied des Mannigfaltigen, von welchem etwa unsere Organisation anhebt, als einzelnes Glied gar nicht verständlich sein, indem es ja für sich gar nicht, sondern nur als organischer Teil einer Einheit ist, und nur in der Einheit verständlich sein kann. Wir würden also nie einen Eingang in unsere Wissenschaft gewinnen, oder wenn wir ihn doch gewönnen, und ein einzelner Teil sich verständlich machen ließe, so könnte dies nur dadurch geschehen, daß die Anschauung desselben von der, obwohl dunklen und uns unbewußten, Anschauung des Ganzen begleiten würde, in derselben ihren Ruhepunkt hätte, und von daher ihre Klarheit und Verständlichkeit erhielte; indem sie wiederum von ihrer Seite der Anschauung des Ganzen, insofern sie auf dasselbe einfließt, Klarheit gäbe: und ebenso mit allen in der Folge aufzustellenden Teilen. Nicht allein aber dies, sondern der etwa an der zweiten Stelle stehende Teil erhielte nicht bloße Klarheit vom ersten schon abgehandelten, sondern gäbe umgekehrt auch diesem wiederum neue Klarheit, indem dieses ja seine vollendete Klarheit nur vom Ganzen hat, dieses zweite aber zum Ganzen gehört; der dritte erhielte also nicht bloß Klarheit vom ersten, sondern gäbe auch wiederum beiden eine eigentümliche, nur aus ihm ausströmende Klarheit; und so fort bis zum Ende. Daß also im Verlauf der Betrachtung fortwährend jeder Teil durch alle, und alle durch jeden erklärt würden, wonach fortwährend alle abgehandelten Teile auch gegenwärtig erhalten werden müßten, weil sei mit jedem Schritt nicht einzeln, sondern gegenseitig durch alle hindurch und von allen heraus, erblickt würden, und keines durchaus klar wäre, solange es nicht alle sind, und solange nicht eben der  eine  klare Blick, der das Mannigfaltige eint, und das Eine in ein Mannigfaltiges verströmt, hervorgebracht ist. Somit bliebe die Wissenschaftslehre, in der ganzen Länge und Ausdehung, die man ihr durch den sukzessiven Vortrag geben möchte, doch immer nur ein und ebenderselbe unteilbare Blick, der nur aus dem Zero der Klarheit, in welchem er bloß  ist,  aber sich nicht kennt, sukzessiv und gradweise erhoben würde zur Klarheit schlechthin, wo er sich selbst innigst durchdringt, und in sich selbst wohnt und ist; und es sich hier von neuem bestätigt, daß das Geschäft der Wissenschaftslehre kein Erwerben und Hervorbringen eines neuen, sondern lediglich ein Verklären dessen, was da ewig war, und ewig  wir selbst  war.

Wir können historisch hinzusetzen, daß es sich wirklich so verhält, wie wir angenommen haben; und daß hierdurch die Methode der Wissenschaftslehre bestimmt ist. Diese Wissenschaft ist nicht vorwärts folgernd in einer einfachen Reihe, gleichwie in einer Linie, nach dem Gesetz der Konsequenz, dergleichen Verfahren nur innerhalb und über einem schon vorausgesetzten und unterliegenden Organismus des Wissens möglich ist, in der Philosophie aber zu nichts führt, und dort die Seichtigkeit selbst ist; sondern sie ist allseitig und wechselseitig folgernd, immer von  einem  Zentralpunkt aus nach allen Punkten hin, und von allen Punkten zurück, wie in einem organischen Körper.


1. Über das absolute Wissen

§ 5.

Zuallererst - was lediglich gesagt wird, um unsere Untersuchung zu leiten - ist durch den bloßen Begriff eines absoluten Wissens so viel klar, daß dasselbe nicht das  Absolute  ist. Jedes wegen des Ausdrucks: das absolut Gesetzte zweite Wort hebt die Absolutheit, schlechthin als solche, auf, und läßt sie nur noch in der durch das hingesetzte Wort bezeichneten Rücksicht und Relation stehen. Das Absolute ist weder Wissen, noch ist es ein Sein, noch ist es Identität, noch ist es die Indifferenz beider, sondern es ist durchaus bloß und lediglich das Absolute. Da wir aber in der Wissenschaftslehre, und vielleicht auch außerhalb derselben in allem möglichen Wissen, nie weiter kommen, als bis auf das Wissen, so kann die Wissenschaftslehre nicht vom Absoluten, sondern sie muß vom absoluten Wissen ausgehen. Wie es dann doch zugeht, daß wir, wie wir soeben getan, das Absolute noch über dem absoluten Wissen hinaus und als unabhängig von demselben, wenigstens denken, und das soeben Behauptete von ihm behaupten können, wird sich im Laufe unserer Untersuchung ohne Zweifel ergeben. Vielleicht, daß das Absolute eben nur in der Verbindung, in der es aufgestellt ist, als  Form  des Wissens, keineswegs aber rein an und für sich, in unser Bewußtsein eintritt.


§ 6.

Dieselbe Frage, die soeben über die Denkmöglichkeit des Absoluten erhoben wurde, läßt sich ohne Zweifel, wenn sich nämlich finden sollte, daß alles unser wirkliches und mögliches Wissen durchaus nie das absolute, sondern nur ein relatives, so oder anders bestimmtes und beschränktes Wissen ist, über die Denkmöglichkeit des absoluten Wissens aufwerfen; und sie dürfte ungefähr auf dieselbe Weise beantwortet werden, daß das absolute Wissen nur als Form, oder in einer anderen Weise der Ansicht, nur als Materie oder Objekt des wirklichen Wissens zu Bewußtsein kommt oder kommen kann.

Daher müssen auch wir insbesonders, die wir hier das absolute Wissen zu beschreiben gedenken und von demselben ohne Zweifel zu wissen vermeinen, die Frage, wie wir zu diesem unserem wirklichen Wissen vom absoluten Wissen gekommen sind, vorderhand unbeantwortet lassen. Vielleicht erblicken auch wir dasselbe, obgleich als absolutes, dennoch nur in einer Relation, nämlich in der mit allem relativen Wissen. Wir müssen uns in der zu liefernden Beschreibung lediglich an die unmittelbare Anschauung des Lesers halten, ihn fragen, ob das, was er dieser Beschreibung zufolge in sich erblicken wird, sich ihm wohl mit dem Bewußtsein, daß es das absolute Wissen ist, aufdrängt: oder, falls selbst diese Anschauung ihn verläßt, müssen wir abwarten, ob in der Entwicklung der später folgenden Sätze zugleich über diesen ersten Punkt ihm ein Licht aufgehen wird.


§ 7. Formale und Wort-Erklärung
des absoluten Wissens

Wenn es auch bei dem bleiben sollte, was einem jeden schon der Augenschein gibt, daß all unser wirkliches Wissen ein Wissen von Etwas ist, -  diesem  Etwas, welches nicht jenes zweite oder jenes dritte Etwas ist; so ist doch ohne Zweifel jeder vermögend die Betrachtung anzustellen, und zu finden, daß es nicht ein Wissen von Etwas sein könnte, ohne eben überhaupt ein Wissen, schlechthin bloß und lediglich als Wissen, zu sein. Inwiefern es ein Wissen von Etwas ist, ist es, in jedem anderen Wissen von jedem anderen Etwas, von sich selbst verschieden; inwiefern es eben Wissen ist, ist es sich selbst in allem Etwaswissen gleich, und durchaus dasselbe, wenngleich dieses Etwaswissen in die Unendlichkeit fortgeht und insofern in die Unendlichkeit hin verschieden ist. Zu diesem Denken des Wissens nun, als des  einen  und sich selbst gleichen in allem besonderen Wissen, und wodurch dieses letztere nicht  dieses,  sondern eben überhaupt  Wissen  ist, ist der Leser hier eingeladen, wo vom absoluten Wissen gesprochen wird.

Daß wir es ihm, versteht sich als den Gedanken, der ihm angemutet wird, noch durch einige Züge beschreiben: - Es ist nicht ein Wissen von Etwas, dieses Etwas aber Nichts wäre); es ist nicht einmal ein Wissen von sich selbst; denn es ist überhaupt kein Wissen  von  - noch ist es  ein  Wissen (quantitativ und in der Relation), sondern es ist  das  Wissen (absolut qualitativ). Es ist kein Akt, keine Begebenheit, oder das etwas  im  Wissen, sondern es ist eben das Wissen, in welchem allein alle Akte und alle Begebenheiten, die da gesetzt werden, gesetzt werden können. Welchen Gebrauch wir dann doch davon machen werden, muß der Leser erwarten. - Es wird nicht dem  Etwas  entgegengesetzt, wovon gewußt wird; denn dann wäre es das Wissen von Etwas, oder das besondere Wissen selbst, sondern es wird entgegengesetzt dem  Wissen von Etwas.  (Daß man diesen Punkt übersah, darin lag der Grund, warum man die Wissenschaftslehre als auf einem Reflektierpunkt hängen geblieben erblickt, und einen Standpunkt über ihr eingenommen zu haben glaubte, der doch tief unter der wirklichen Wissenschaftslehre liegt. (2)



Nun dürfte jemand sagen, dieser Begriff des Wissens überhaupt ist doch nur eine  Abstraktion  von allem Besonderen des Wissens: und diesem ist allerdings zuzugeben, daß man zu einem  besonderen Bewußtsein  des absolut Einen und gleichen in allem besonderen Wissen sich im  Verlauf des wirklichen Bewußtseins  nur durch eine freie Niederdrückung und Verdunkelung (gewöhnlich Abstraktion davon genannt) des besonderen Charakters eines bestimmten Wissens erhebt; ungeachtet dessen, daß es auch wohl noch einen anderen Weg geben könnte, wenigstens hinterher zu diesem Bewußtsein zu gelangen, welcher letztere gerade derselbe sein dürfte, den wir in der Folge unseren Leser zu führen gedenken. Wenn nur nicht, nach den Begriffen, dergleichen im philosophischen Publikum gang und gäbe sind, von einer Abstraktion, welche aus einer Menge von Einzelnen herausbringen soll, was in keinem einzigen dieser Einzelnen liegt - wenn nur nicht nach diesen Begriffen durch jene Einwendung soviel gesagt werden soll, daß der Charakter des Wissens überhaupt, den jedes besonderen Wissens haben muß, keineswegs für die Möglichkeit jedes einzelnen, besonderen vorausgesetzt wird, sondern etwa erst, nachdem eine beträchtliche Reihe besonderer Wissensbestimmungen abgelaufen, in sie hineinkommt, und nun erst zu einem Wissen macht, was vorher zwar ein besonderes Wissen war, aber kein  Wissen  war!


§ 8. Real-Erklärung oder Beschreibung
des absoluten Wissens

Zuallererst, die Realerklärung des absolten Wissens kann nichts anderes sein, als die Nachweisung dieses Wissens in unmittelbarer Anschauung. Es läßt sich nicht etwa durch Denken erschließen, welches dieses absolute Wissen sein wird; denn da es eben das absolute sein soll, so kann es kein höheres, würde heißen, kein noch absoluteres Datum des Wissens geben, aus welchem und von welchem aus durch ein Denken geschlossen würde. Das absolute Wissen müßte daher durch eine gleichfalls absolute Anschauung seiner selbst erfaßt werden.

Ferner ist klar, daß es eine solche absolute Anschauung des absoluten Wissens geben und dem zufolge die angekündigte Realerklärung des letzteren möglich sein muß, wenn es überhaupt eine Wissenschaftslehre geben soll. Denn in der Anschauung, in welcher diese besteht, soll die Vernunft, oder das Wissen durchaus mit  einem  Blick aufgefaßt werden. Aber das besondere Wissen läßt sich nicht mit  einem,  sondern nur mit besonderen, und unter sich verschiedenen Blicken auffassen. Demnach müßte das Wissen, sowie es schlechthin Eins und sich selbst gleich ist, d. h. das absolute Wissen, aufgefaßt werden.

In der Beschreibung selbst bedienen wir uns folgender Hinleitung. Denke sich der Leser zuerst das  Absolute,  schlechthin als solches, so wie oben sein Begriff bestimmt wurde. Er wird finden, behaupten wir, daß er es nur unter folgenden zwei Merkmalen denken kann, teils, daß es schlechthin ist,  was  es ist, auf und in sich selbst ruht durchaus ohne Wandel und Wanken, fest, vollendet und in sich geschlossen, teils, daß es ist, was es ist, schlechthin  weil  es ist, von sich selbst, und durch sich selbst, ohne allen fremden Einfluß, indem neben dem Absoluten gar kein Fremdes übrig bleibt, sondern alles, was nicht das Absolute selbst ist, verschwindet. (Es kann sein, daß diese Duplizität der Merkmale mit welcher wir das Absolute fassen, und es anders gar nicht fassen können, welche dem Absoluten gegenüber allerdings sonderbar scheint, selbst Resultat unseres Denkens, also eben eines Wissens ist, welches wir vorläufig unentschieden lassen müssen.)

Wir können das erstere absolutes Bestehen, ruhendes Sein usw. nennen; das letztere absolutes Werden oder Freiheit. Beide Ausdrücke sollen, wie sich das von einem ehrlichen und gründlichen Vortrag versteht, nichts mehr bezeichnen, als was in der beim Leser vorausgesetzten Anschauung der beiden Merkmale des Absoluten wirklich liegt.

Nun soll das Wissen absolut sein, als Eins, eben als sich selbst gleiches, und ewig gleich bleibendes  Wissen,  als Einheit einer und eben der höchsten Anschauung, als bloße absolute Qualität. Im Wissen müßten die beiden oben unterschiedenen Merkmale des Absoluten demnach schlechthin ineinander fallen und verschmelzen, so daß beide gar nicht mehr unterscheidbar wären; und eben in dieser absoluten Verschmelzung würde das Wesen des Wissens, als solches, oder das absolute Wissen bestehen.

Ich sage, in dem zu einer untrennbaren Einheit Verschmelzen, und im innigsten sich Durchdringen beider, so daß beide ihren Charakter der Unterscheidung in der Vereinigung gänzlich aufgeben und verlieren, und als  ein  Wesen, und ein durchaus neues Wesen dastehen, also in einer eigentlich  realen  Vereinigung und wahren Organisation: keineswegs aber in einem bloßen Nebeneinander sich verhalten, wodurch niemand begreift, wie sie dann doch nebeneinander bestehen, und lediglich eine formale und negative Einheit, eine Nichtverschiedenheit entsteht, die man doch auch nur, Gott weiß aus welchem Grund, behaupten, keineswegs aber nachweisen kann. - Nicht etwa: in irgendein, somit schon vorausgesetztes, Wissen tritt das ruhende Sein ein, und tritt ein in die Freiheit, und diese beiden treten nun in diesem Wissen zusammen, und machen in dieser ihrer Vereinigung das absolute Wissen, wodurch noch ein Wissen außerhalb des absoluten Wissens, und dieses innerhalb des ersten gesetzt würde; sondern: jenseits allen Wissens, nach unserer gegenwärtigen Darstellung, treten Freiheit und Sein zusammen, und durchdringen sich, und diese innige Durchdringung und Identifizierung beider zu einem neuen Wesen gibt nun erst das Wissen, eben als ein absolutes  Tal.  Von der Einsicht in diesen Punkt hängt alles ab, und die Vernachlässigung desselben hat die neuesten Mißverständnisse veranlaßt.

Wie wir nun unseres Orts, die wir ohne Zweifel doch auch nur wissend sind, dazu kommen, scheinbar über alles Wissen hinauszugehen, und das Wissen selbst aus einem Nichtwissen zu komponieren; oder mit anderen Worten, wie es mit der in unserer gegenwärtigen Beschreibung dem Leser ohne Zweifel angemuteten Anschauung des absoluten Wissens selbst, die doch wohl auch nur ein Wissen sein kann, sich verhält, und wie dieselbe möglich ist - eine Möglichkeit, die schon oben als Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaftslehre sich zeigte, - ferner, wie wir dazu kommen, diese Anschauung oder dieses Wissen wieder als ein Nichtwissen zu setzen, wie wir doch gleichfalls getan haben, wird sich in der Folge ergeben. Dieses Verweisen auf die Folge aber liegt in der § 4. 7. beschriebenen eigentümlichen Methode der Wissenschaftslehre. Es mangelt hier an einer Klarheit, die erst das zweite Glied über das erste zu verbreiten hat.



Übrigens ist noch zu bemerken, daß das absolute Wissen hier lediglich seiner  Materie  nach geschildert ist. Sein und Freiheit, sagten wir,  treten  zusammen;  sie  also sind das Tätige, insofern hier nach einem Tätigen gefragt werden sollte, und sind tätig, insofern sie eben noch nicht Wissen, sondern Sein und Freiheit sind. Wie sie sich aber durchdringen, ihre separaten Naturen aufgeben, um zu einer einigen, zu einem Wissen sich zu vereinigen, sind sie eben gegenseitig durcheinander gebunden; denn sie sind ja nur in dieser Gebundenheit Wissen, außerhalb derselben aber ein separates Dasein und Freiheit, und sind nun in einem ruhigen Bestehen. Dieses nenen wir nun die  Materie  des absoluten Wissens oder die absolute Materie des Wissens. Es könnte sein, daß diese zur absoluten Form desselben Wissens sich gerade so verhält, wie ruhendes Sein zur Freiheit in der absoluten Materie selbst.


§ 9. Beschreibung der absoluten
Form des Wissens

Nicht das ruhende Sein ist das Wissen, und ebensowenig ist es die Freiheit, sagten wir, sondern das absolute sich  Durchdringen  und  Verschmelzen  beider ist das Wissen.

Demnach ist eben das  sich Durchdringen,  ganz davon abgesehen, was sich durchdringt, die absolute Form des Wissens.

Das Wissen ist ein  für sich  und  in sich  Sein und in sich Wohnen und Walten und Schalten. Dieses  Fürsichsein eben ist der lebendige Lichtzustand, und die Quelle aller Erscheinungen im Licht, das substantielle innere  Sehen,  schlechthin als solches. Es ist nicht die Aufgabe, daß du bedenken sollst, daß du vom  Gegenstand weißt,  und nun dein Bewußtsein (eben  vom  Gegenstand) als ein subjektives, und den Gegenstand, als ein objektives begreifst, sondern daß du innigst lebendig erfaßst, beides ist Eins, und ist ein  sich Durchdringen:  und erst hinterher, und zufolge dieses Durchdringens möchtest du auch beides unterscheiden. Du sollst sie nicht bloß nach ihrer Trennung wieder zusammenknüpfen, wie mit einem Faden, den du nirgends herzunehmen weißt, sondern du sollst begreifen, daß sie organisch ineinander und durcheinander verschmolzen sind, damit du sie nur erst trennen kannst.

Oder, denke nochmals das Absolute, so wie es oben beschrieben worden ist. Es ist schlechthin, was es ist, und ist dieses schlechthin, weil es ist. Aber dadurch ist ihm noch immer kein Auge eingesetzt, und wenn du nun fragst,  für wen  es ist, welche Frage du sehr natürlich erheben kannst, sie auch ohne weiteres verstehst, wenn sie durch einen anderen erhoben wird, so magst du dich nur nach einem Auge außer ihm umsehen; und wenn wir dir dieses Auge auch in der Tat schenken wollten, wie wir doch nicht können, so wirst du ferner die Verbindung desselben mit jenem Absoluten nimmer erklären, sondern sie nur in den Tag hinein behaupten. Aber dieses Auge liegt nicht außer ihm, sondern in ihm, und ist eben das lebendige sich Durchdringen der Absolutheit selbst.

Die Wissenschaftslehre hat dieses absolute sich selbst in sich selbst Durchdringen und für sich selbst Sein mit dem einigen Wort in der Sprache, welches sie ausdrückend fand, dem der  Ichheit  bezeichnet. Aber wessen innerem Auge nun einmal die Freiheit mangelt, von allem anderen ab, und sich auf sich selbst zu kehren, dem helfen keine Hinleitungen, und keine noch so passenden Ausdrücke, die er nur in einem verkehrten Sinn, zu seiner eigenen noch größeren Verwirrung, versteht. Er ist innerlich blind, und muß es bleiben.



Besteht, wie aus dem eben Gesagten einleuchtet, in diesem  Fürsichsein  das eigentliche innere Wesen des Wissens, als eines solchen (als eines Lichtzustandes und Sehens): so besteht das Wesen des Wissens eben in einer  Form  (einer Form des Seins und der Freiheit, nämlich ihrem absoluten sich Durchdringen), und alles Wissen ist seinem Wesen nach  formal.  Dagegen erscheint dasjenige, was wir die absolute Materie des Wissens nannten, und was wohl überhaupt die absolute Materie als Materie bleiben dürfte, hier, wo dem Wissen selbst sein selbständiges Wesen gegeben ist, als eine  Form,  nämlich des Wissens.


§ 10.

Das Wissen ist absolut,  was  es ist, und  weil  es ist. Denn erst mit dem Verschmelzen und Verströmen des Separaten, ganz davon abgesehen, was dieses Separate ist, keineswegs aber etwa mit dem Separaten, als solchem, entsteht ein Wissen. Dieses kann nun, als Wissen, nicht aus sich selbst herausgehen, wodurch es ja eben aufhört, ein Wissen zu sein; es kann für dasselbe nichts sein außer ihm selbst. Es ist daher für sich absolut und ergreift sich selbst und hebt an, als eigentliches formales Wissen, wie es im vorigen Paragraphen beschrieben ist, als  Lichtzustand  und  Sehen,  nur insofern es absolut ist.

Nun aber ist es, wie gesagt, als Wissen, nur die Verströmung und Verschmelzung eines Separaten zur Einheit und wohlgemerkt, diese Einheit ist in sich selbst, und ihrem Wesen nach, was für andere Einheiten es auch sonst noch geben mag, die Verschmelzung des Separaten, und schlechthin kein anderer Akt der Einheit.

Nun hebt alles Wissen mit dieser so charakterisierten Einheit an, worin ja die Absolutheit seines Weses besteht; und kann sich derselben nie entledigen, noch aus ihr herausgehen, ohne sich selbst zu vernichten. Soweit sich daher das Wissen erstreckt, erstreckt sich diese Einheit, und das Wissen kann schlechthin nie auf eine Einheit kommen, die etwas anderes ist, als eine Einheit des Separaten.

Mit anderen Worten: der in § 1. faktisch gefundene Satz, daß alles Wissen ein Zusammenfassen des Mannigfaltigem in  einen  Blick ist, ist hier abgeleitet; und dazu noch die Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit, die unendliche Teilbarkeit allen Wissens, über welche wir bloß faktisch nichts ausmachen konnten, sondern dazu eines Satzes vom Absoluten bedurften: und zwar ist diese unendliche Teilbarkeit allen Wissens abgeleitet aus dem absoluten Wesen des Wissens, als eines  Formalen.  (§ 9.)

Was du auch auffassen magst mit deinem Wissen, das ist Einheit, denn nur in der Einheit ist Wissen, und ergreift sich das Wissen. Wie du aber wiederum dieses Wissen ergreifst, zerstiebt dir das  Eine  in Separate; und sowie du wieder irgendeinen Teil dieses so Separierten, das sich als Einheit versteht, weil du nicht anders kannst, faßt, und sein Wissen faßt, zerstiebt dir dieser Teil wieder in ein Mannigfaltiges; und so wieder die Teile dieser Teile, solange du dein Teilen fortsetzen wirst. Setzt du es aber nicht fort, so stehst du eben bei einer Einheit, die dir nur dadurch Einheit bleibt, daß du dich nicht weiter darum kümmerst. Nun wisse nur, daß du diese unendliche Teilbarkeit selbst mit dir bringst, mittels der absoluten Form deines Wissen, aus welcher du eben nicht herauskannst, und welche du allemal, freilich ohne dein klares Bewußtsein, überschaust, so oft du von unendlicher Teilbarkeit sprichst. Du wirst dir daher nicht ferner einfallen lassen, daß sie etwa in einem Ding ansich begründet ist, welches, wenn es wahr wäre, zuletzt doch nichts weiter hieße, als daß du den Grund nie erforschen könntest, da sie dir in deinem Wissen selbst, als der einzig möglichen Urquelle, nachgewiesen ist, welches freilich auch nichts mehr heißt, als daß du den Grund davon allerdings wissen und erforschen kannst, wenn du nur dich selbst recht scharf und klar beschaust.

Nun ruht, was wohl noch zu merken ist, das Wissen keineswegs im  Vereinen,  noch ruht es im  Zerstreuen,  sondern es ruht selbst schlechthin im  Verschmelzen  dieser beiden, in ihrer realen Identität; denn es ist keine Einheit, außer der der Separaten, und es sind keine Separaten, außer in der Einheit. Das Wissen kann nicht ausgehen vom Bewußtsein der Elemente, die du etwa zusammensetzt, fort zur Einheit; denn all dein Wissen kommt in Ewigkeit auf keine Elemente; noch kann es ausgehen von der Einheit, die du etwa in beliebige Teile spaltest, mit dem Bewußtsein, sie bis ins Unendliche spalten zu können, denn du hast gar keine Einheit für sich, sondern nur eine der Separaten. Es schwebt daher  innerhalb beider,  und ist vernichtet, wenn es nicht innerhalb beider schwebt. es ist in sich selbst  organisch. 


§ 11.

Das Wissen ist nicht das Absolute, aber es ist selbst als Wissen absolut. Nun ist das Absolute, insofern es als ruhig bestehend angesehen wird (§ 8.), schlechthin, was es ist. Was in dieser Hinsicht das Wissen  ist,  eben welches sein absolutes  Wesen,  d. h. sein beharrendes Bestehen ist, haben wir im vorigen Paragraphen gesehen. Das Absolute ist ferner von Seiten des Werdens oder der Freiheit angesehen, - und es muß von dieser Seite angesehen werden, um als Absolutes angesehen zu werden, - was es ist, schlechthin  weil  es ist. Dasselbe muß vom Wisen, eben als Wissen, gelten.



Zuerst ist klar, daß das Wissen, insofern es nicht schlechthin als Wissen, sondern als absolutes Wissen, mit der Hinzufügung dieses Prädikats, angesehen wird, nicht mehr bloß in sich selbst ruht, sondern sich wiederum über sich selbst erhebt, und auf sich herabsieht. Diese neue Reflexion vollziehen wir hier nun stillschweigend, und ohne weitere Rechenschaft über ihre Möglichkeit abzlegen, welche ja auch überdies, da das Wissen ein absolutes  Fürsich  ist, sich von selbst versteht. Bestimmt diese neue Reflexion mit allen ihren Folgen aufzustellen, bleibt der Zukunft vorbehalten.

Ferner ist, zur Erreichung der vollendeten Klarheit und Präzision, hier noch zu bemerken, daß wir schon im vorigen Paragraphen auf diese Freiheit im Wissen stillschweigend gerechnet, und mittels derselben dargestellt haben, was wir darstellten. Das Wissen ist ein  Fürsich  für sich selbst, sagten wir, und kommt auf diese Weise aus der Einheit der Separaten, somit aus den Separaten nie heraus. Da setzen wir ja, um nur ja verstanden zu werden, voraus, daß das Wissen nicht in sich festgehalten ist, sondern sich selbst ins Unbedingte ausdehnen, sich verbreiten und sich forttragen kann.

Aber ferner, das Wissen ist als Wissen nur für sich und in sich selbst: also nur  für sich  kann es sein, weil es ist; und es ist als Wissen, weil es ist, nur insofern es dieses Fürsich (keineswegs für ein Fremdes und äußeres) innerlich in sich selbst ist; oder mit einer anderen Wendung, insofern es sich setzt, als seiend, weil es ist. Nun ist dieses Sein, weil es ist, nicht Ausdruck des absoluten Seins (Gesetztseins und ruhenden Bestehens) des Wissens, wie das im vorigen Paragraphen aufgestellte und beschriebene, sondern es ist Ausdruck seiner  Freiheit,  und seiner  absoluten  Freiheit. Was dann - wie wir zuerst zu erinnern haben - unter dem Charakter dieser Absolutheit verstanden, und durch ihn herbeigeführt werden wird, folgt nicht aus dem Sein des Wissens, und dieses Sein könnte auch ohne dasselbe sein, wenn überhaupt ein Wissen ohne dasselbe sein kann. Dieser Charakter ist, wenn er ist, schlechthin, weil er ist, und er ist, wenn er nicht ist, schlechthin, weil er nicht ist; er ist eben Produkt der absoluten, durchaus unter keiner Regel oder Gesetz, oder fremdem Einfluß stehenden  Freiheit  des Wissens, und ist selbst diese absolute Freiheit. In diesem Sinne soll daher genommen werden, was wir darüber sagen, nicht, als ob wir es aus irgendeinem anderen  ableiten  wollten, wie wir es im vorigen Paragraphen mit dem Sein des Wissens aus dem Verschmelzen der beiden Prädikat des Absoluten schlechthin getan haben, sondern daß wir es schlechthin  setzen  wollen, eben als die innere immanente Absolutheit und Freiheit des Wissens selbst. Soviel über das Formale dieses Freiheitscharakters im Wissen.

Was nun das Materiale desselben betrifft: - ein Wissen, das in sich selbst und für sich selbst ist, weil es ist, hieße: ein absoluter Akt des Wissens, des  Fürsichseins,  also eben es sich selbst Ergreifens und sich Durchdringens, des absoluten  Erzeugens  der oben (§ 9.) beschriebenen Fürsichheit oder Ichheit würde gesetzt, und dieser Akt würde angsehen als Grund allen Seins des Wissens. Das Wissen wäre, schlechthin, weil  es  wäre, für mich; und es wäre nicht für mich, wenn  es  nicht wäre. Ein Akt, weil es  Freiheit  ist, ein Akt der Ichheit, des  Fürsich,  des sich Ergreifens, weil es Freiheit des  Wissens  ist.  Einheit,  ein durchaus unteilbarer Punkt, des sich Ergreifens und Berührens, und sich Durchdringens, in einem unteilbaren Punkt, weil durchaus nur der Akt, schlechthin, als solcher, keineswegs aber irgendein Sein (des Wissens versteht sich) ausgedrückt werden soll, welches allein das Mannigfaltige (§ 10) bei sich führt, hier aber in das Begründende fällt, und vom Grund rein abgesondert werden muß. Ein innerer lebendiger Punkt, eine absolute Aufregung des Lebens und des Lichtes in sich selbst und aus sich selbst.


§ 12. Vereinigung der Freiheit
und des Seins im Wissen

Das absolute Wissen ist betrachtet, seinem inneren immanenten, - d. h. mit Abstraktion vom Absoluten  schlechthin  (§ 5.) aufgefaßten, - Wesen nach, als absolutes Sein; es ist betrachtet, seiner inneren immanenten Erzeugung nach, als absolute Freiheit. Nun aber ist das Absolute weder das Eine, noch ist es das Zweite, sondern es ist beides, als schlechthin Eins, und im Wissen wenigstens verschmilzt jene Duplizität zur Einheit. Aber selbst dieses abgerechnet ist ja die Absolutheit des Wissens eben die des Wissens, also, da das Wissen für sich ist, nur für das Wissen, welches sie nur sein kann, insofern die Duplizität in ihr zur Einheit verschmilzt. Es gibt daher notwendig ein Wissen selbst, so gewiß es ein Wissen ist, einen Vereinigungspunkt der Duplizität seiner Absolutheit. Auf diesen Vereinigungspunkt - nicht mehr auf die Separaten, welche nun zur Genüge beschrieben wurden - richten wir von nun an unsere Aufmerksamkeit. Das  eine  Glied der Separaten wenigstens, welches in dem zu beschreibenden Wissen mit einem anderen zu vereinigen ist, ist die innere Freiheit des Wissens. Somit gründet sich der höhere Einheitspunkt, den wir zu beschreiben haben, auf die absolute Freiheit des Wissens selbst, setzt sie voraus, und ist nur unter dieser Voraussetzung möglich. Er ist daher schon aus diesem Grund selbst ein Produkt der absoluten Freiheit, läßt sich nicht aus irgendeinem anderen ableiten, sondern nur schlechthin setzen, ist, wenn er ist, schlechthin, weil er ist, und ist, wenn er nicht ist, schlechthin nicht, weil er nicht ist. Soviel über seine äußere Form.

Ferner, die Voraussetzung im (vorigen Paragraphen) beschriebenen absoluten Hinwissen der Freiheit des Wissens ist, daß alles Wissen von ihr, als ihrem Ursprung ausgeht, daß daher, da die Freiheit Einheit ist, von der Einheit fortgegangen wird zur Mannigfaltigkeit. Nur unter der Voraussetzung dieses Sichreflektierens der Freiheit wird die höhere vereinigende Reflexion, von der wir hier reden, möglich; wie diese aber gesetzt ist, ist sie schlechthin möglich. Sie ruht daher mit ihrem Fuß unmittelbar in der Einheit, und geht aus von der Einheit, und ist ihrem Wesen nach nichts anderes, als ein inneres  Fürsichsein  jener Einheit, welches in einem Wissen eben schlechthin, aber durch Freiheit möglich ist.

(Dieses Ruhen in der Einheit und für sich Sein, welches selbst - wie sich ergeben hat- nur mit der absoluten Freiheit des Wissens entsteht, ist  ein Denken.  Dagegen ist das Schweben in der Mannigfaltigkeit der separaten  ein  Anschauen; wobei wir die bloße Wortbestimmung hier gleich hinzufügen können. Übrigens bleibt es bei unserer obigen Erklärung, daß das Wissen weder in der Einheit ruht, noch in der Mannigfaltigkeit, sondern in und zwischen beiden; denn weder das Denken ist ein Wissen, noch ist es die Anschauung, sondern nur in beiden in ihrer Vereinigung sind das Wissen.)

Weiter: diese vereinigende Reflexion setzt offenbar ein Sein, nämlich der separaten zu vereinigenden Glieder voraus, und hat eben dieses Sein derselben in sich, und hält es gefaßt, insofern sie es in sich vereint: beides  für sich  freilich als Einheit, als einen Punkt, weil sie vom Denken ausgeht. Sie ist daher in dieser Hinsicht nicht, wie in der soeben erklärten, ein freies, sondern sie ist in sich selbst ein seyendes Wissen; ist mithin  insofern  an das Gesetz des Seins des Wissens, das der Anschauung gebunden, daß sie in sich selbst, soweit sie sich trägt, nie auf eine andere Einheit, als die von Separaten, kommen kann. Was sie  tut  mit Freiheit, ist Einheit, deren Bild der Punkt ist, was sie nicht tut, sondern eben  ist,  und ohne ihr Zutun mit sich bringt, ist Mannigfaltigkeit, und sie selbst ist,  materialiter,  ihrem inneren Wesen nach (mit einer Abstraktion von den äußeren Gliedern, die sie vereinigt), die Vereinigung beider. - Was also ist sie? Der Akt ist Einheit, im Wissen, und für sich  Punkt  (Ergreifungs- und Durchdringungspunkt im absolut Leeren): das Sein Mannigfaltigkeit: das Ganze daher ein zur unendlichen Seperabilität ausgedehnter Punkt, der doch Punkt bleibt, eine zum Punkt zusammengedrängte Separabilität, die doch Separabilität bleibt. Also eine lebendige, in sich selbst leuchtende Form eines Linienziehens. In der Linie ist der Punkt allenthalben, denn die Linie hat keine Breite. In ihr ist Mannigfaltigkeit allenthalben, denn keinen Teil derselben kann ich als Punkt, sondern immer nur selbst als Linie, als eine unendliche Separabilität von Punkten, auffassen.  Form  eines Linienziehens habe ich gesagt; denn sie hat noch nicht einmal eine Länge, sondern erhält erst eine durch das sich selbst Ergreifen, und sich selbst Forttragen ins beliebige. Sie hat, wie wir gleich sehen werden, in der gegenwärtigen Gestalt noch nicht einmal eine Richtung, sondern ist die absolute Vereinigung entgegengesetzter Richtungen.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre [1801], Sämtliche Werke, Bd. II, herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845
    Anmerkungen
    1) Es tut sich daher ein Abgrund der Dummheit auf, wenn mich irgendwo irgendein Nikolai auffordert, ihm doch zu sagen, wie man irgendetwas wissen kann außer durch Erfahrung. Durch Erfahrung kann man gar nichts wissen; da das bloß Erfahrene erst aufgegeben werden muß, wenn es mit uns zu einem Wissen kommen soll.
    2) Am Rand wird vom Verfasser bemerkt, daß dies (in der letzten Redaktion des Werkes) "nur problematisch auszudrücken ist".