tb-2ra-1F. MauthnerH. J. StörigK. VorländerG. Störring   
 
WOLFGANG STEGMÜLLER
Erkenntnis des Wirklichen

Glauben, Wissen und Erkennen
Geschichtliches
Die Kriterien dafür, daß Gegenstände wirklich sind, müßten geändert werden.

Das Wirkliche stellen wir dem Scheinbaren gegenüber. Ein behauptetes Wissen oder eine behauptete Erkenntnis wird duch den Hinweis außer Kraft gesetzt, daß das vermeintlich Gewußte oder vermeintlich Erkannte gar nichts Wirkliches sei, der Behauptende dem Schein erlegen sei. Mit "das ist ja gar kein wirkliches Sumpfhuhn" wird der wesentliche Gehalt meiner Behauptung "dort drüben sitzt ein Sumpfhuhn" zunichte gemacht.

Denn was nützt es, daß dieses Ding sämtliche speziellen Merkmale aufweist, die auch an Sumpfhühnern festzustellen sind, wenn es nichts Wirkliches ist! Daß es ein Wirkliches sei, war von mir als selbstverständlich vorausgesetzt worden. Mein Scharfsinn, mein in der Vergangenheit erworbenes Wissen und meine Beobachtungsgabe wurden nur aufgewendet, um das Ding zutreffend zu klassifizieren, nicht dagegen, um es gegen den Schein abzugrenzen.

Was aber meinen wir, wenn wir sagen, daß ein Ding wirklich und nicht bloß scheinbar sei? Empiristische Philosophen haben hervorgehoben, daß man zwei Wirklichkeitsbegriffe unterscheiden müsse, einen sinnvollen empirischen und einen sinnlosen "metaphysischen". (1) Wenn ein Streit darüber ausbricht, ob in Zentralbrasilien ein bestimmter Berg existiert, so kann man eine Expedition dorthin unternehmen und den Streit auf empirischem Wege zu einem Ende bringen. Falls jedoch alle empirischen Überprüfungsmethoden angewendet wurden und zu einem einstimmig akzeptierten Ergebnis führten, so hat es keinen Sinn mehr, darüber zu diskutieren, ob der Berg wirklich ist oder "nur in meiner Vorstellung existiert".

Der Gegensatz zwischen dem "subjektiven Idealismus" und dem "Realismus" ist danach ein typischer metyphysischer Scheingegensatz. Wie aber kommt es dann überhaupt zu diesem metaphysischen Begriff? Was verführt uns dazu, die Frage nach der Wirklichkeit (Realität) der Außenwelt zu stellen?

Die Antwort darauf dürfte die folgende sein: Mit dem Ausdruck "wirklich" beziehen wir uns auf nicht Bestimmtes; er dient vielmehr dazu, um je nach Situation eine bestimmte Möglichkeit auszuschließen, die als "Sinnestäuschung", "Irrtum", "Halluzination", "Reinfall" usw. bezeichnet wird. Dieser ausdrückliche Ausschluß wird aber erst dann vorgenommen, wenn positive Verdachtsgründe dafür bestehen, daß eine derartige Möglichkeit vorliegen könnte: Daß das Ding einen geschickte Imitation sei, der Vogel nicht lebendig, sondern ausgestopft oder ein Spielzeug, die am Ende des Ganges winkende Dame eine Wachspuppe, der Blumenstrauß auf dem Tisch ein geschickt hingestelltes Bild, der gebrochene Stab im Wasser in Wahrheit gerade, die Oase eine Fata Morgana, daß ich augenblicklich an Halluzinationen leide, daß ich jetzt überhaupt nicht wach bin, sondern träume.

Für jeden dieser Fälle haben wir einige Kriterien, um uns von seinem Vorliegen oder Nichtvorliegen zu überzeugen. Und wenn wir ein solches Kriterium angewendet und festgestellt haben, daß keine dieser Möglichkeiten vorliegt, dann sagen wir von dem betrachteten Ding  x  "es ist ein wirkliches", falls unsere Besorgnis überflüssig war, "es ist nur Schein" (oder meist genauer "nur ausgestopft", "nur ein Bild", nur eine Luftspiegelung", "nur eine Halluzination"), wenn sich erweisen sollte, daß die Besorgnis berechtigt war.

Mit "wirklich" wird also nichts Positives, sondern nur etwas Negatives ausgesagt, nämlich, daß keine dieser Eventualitäten im gegebenen Falle vorliegt. Wobei aber hinzuzufügen ist, daß damit nicht sämtliche  theoretisch  in Frage kommenden Täuschungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden, sondern nur jene, die erstens für den gegebenen Fall  praktische  in Frage kommt und für deren Vorliegen zweitens gewisse (wenn auch noch so schwache) Gründe bestehen.

Bisweilen wird sich aus der Situation klar ergeben,  welche  Täuschungsmöglichkeit besteht; in anderen Fällen wird sie ausdrücklich angeführt werden müssen. Wenn mein Freund ohne weitere Erläuterung einfach zurückfragt "ist das auch ein  wirkliches  Sumpfhuhn?", so werde ich ihn vermutlich erstaunt anblicken und nicht wissen, was ich mit dieser Frage anfangen soll. Wenn er dagegen den Verdacht äußert, daß ein Witzbold dort ein ausgestopftes Sumpfhuhn hingestellt haben könnte, um vorübergehende Wanderer oder Jäger zum Besten zu haben, so weiß ich, was er mit seiner Frage meinte.

In diesem Fall steht dan in bezug auf das "Problem der Wirklichkeit des Sumpfhuhnes" nur der Gegensatz "ausgestopft - nicht ausgestopft" zur Diskussion, nicht dagegen z.B. der Gegensatz "Luftspiegelung - keine Luftspiegelung". Wenn ich im ersten Falle in die Hand klatsche und sehe, wie das Sumpfhuhn davonläuft, dann bin ich sicher, daß es ein  wirkliches  Sumpfhuhn war, da ein ausgestopftes nicht weglaufen kann. Hätte ich den Verdacht gehabt, daß es eine Luftspiegelung oder eine Halluzination sei, so wäre ein solches Kriterium nicht ausreichend; denn diese Täuschungsarten sind mit der Bewegung des vermeintlich Wahrgenommenen durchaus verträglich.

Wenn die Oase nach einiger Zeit verschwunden ist, so weiß ich, daß es eine Fata Morgana war; dagegen werde ich die Möglichkeit, daß es sich um eine Kulisse handelte, die inzwischen entfernt worden ist, nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Das ausgestopfte Sumpfhuhn ist  kein  wirkliches, wenn es sich (wie in der geschilderten Situation) darum handelt, ob es lebt oder nicht; es  ist  dagegen ein wirkliches, wenn es sich um die Frage handelt, ob eine Luftspiegelung vorliegt oder nicht.

Wenn ich zweifle, ob es ausgestopft ist, so genügt als Test ein Versuch, es zu verscheuchen; wenn ich zweifle, ob ich an einer Halluzination leide, so werde ich andere fragen, was sie sehen, und das wird in diesem Fall mein Test sein; wenn die Möglichkeit einer Luftspiegelung besteht, werde ich hingehen müssen und es zu berühren versuchen usw.

Die Relativität des Wirklichkeitsbegriffs in bezug auf ein bestimmtes konkretes Verdachtsmoment ist es, die vom Metaphysiker übersehen wird, wenn er die Frage stellt, ob dieses Sumpfhuhn, dieser Berg, diese Erde, diese Außenwelt wirklich sei. Nur wenn ich weiß, in welcher Hinsicht etwas "nicht in Ordnung" sein könnte, weiß ich auch, welchen Test ich vorzunehmen habe, um den Verdacht zu entkräftigen.

Wenn ich hingegen ohne jede derartige Andeutung einfach mit der Frage überfallen werde "ist dies ein wirkliches  x,"  so stehe ich ratlos da und weiß nicht, was ich tun und sagen soll. Aus dieser Ratlosigkeit finde ich erst heraus, wenn ich die Gegenfrage stelle  "was  meinst Du denn, daß mit dem  x  nicht in Ordnung sein könnte?",  "in welcher Hinsicht  soll denn  x  nicht wirklich sein?", "was für eine Art von Täuschungsmöglichkeit in bezug auf  x  hast Du im Auge?".

Der Grund, warum es Ausnahmsfälle sind, in denen die  Wirklichkeit  von Dingen zur Diskussion gestellt wird, ist der, daß die eigentlich interessierende Frage viel speziellere Gestalt hat und viel speziellere Kriterien angewendet werden, um sie zu entscheiden, als dies bei der Frage der Wirklichkeit der Fall ist. Man könnte sagen, daß es sich im letzteren Falle meist um eine Klassifikation auf einer viel höheren Allgemeinheitsstufe handelt.

Wenn ich mich bemühe, festzustellen, ob der Vogel dort drüben ein Sumpfhuhn ist, so konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf spezielle Merkmale wie die Länge der Mittelzehe, das Muster im Gefieder, die Länge des Schnabels usw. Die Frage, ob dieses Tier überhaupt lebendig oder nur ausgestopft sei, werfe ich nicht auf, sie gilt zunächst stillschweigend als im positiven Sinne entschieden. Sobald ich jedoch feststelle, daß auch diese Frage aufgeworfen werden muß, habe ich mich auf jene Merkmale zu konzentrieren, die für die Lebendigkeit eines Dinges charakteristisch sind, und dies sind natürlich viel allgemeinere Merkmale als jene, die ein Sumpfhuhn  als  Sumpfhuhn charakterisieren.

Bisweilen wird es allerdings vorkommen, daß ich nur über dieses allgemeinere Merkmal und nicht über das spezielle im Zweifel bin. Ich blicke z.B. durch das Schaufenster eines Geschäfts und sehe, wie über dem Ladentisch ein Käfig hängt, in dem ein riesiger Papagei sitzt. Es kommt mir sofort der Gedanke "das muß ein ausgestopftes Tier sein; so große Papageien gibt es doch gar nicht!" Sobald ich sehe, wie er in seinem Käfig herumzuturnen beginnt, erkenne ich, daß es doch ein wirklicher, d.h. hier: ein lebendiger, Papagei ist. Die Frage, um welche spezielle Papageienart es sich handelt, interessiert mich überhaupt nicht (und die Frage, ob es ein wirklicher Papagei in dem Sinne sei, daß er keine Halluzination von mir darstellt, habe ich gar nicht aufgeworfen, weil ich in dieser Hinsicht keinen Grund zum Verdacht hatt).

Der Gegensatz "wirklich - nicht wirklich" ist somit im Grunde nur eine rohe sprachliche Methode zur Kennzeichnung von wesentlichen Unterschieden, die besser durch genauere Ausdrücke charakterisiert werden sollten, und zwar je nach Situation durch andere: "ausgestopft - nicht ausgestopft", "Luftspiegelung - keine Luftspiegelung", "Märchen - kein Märchen", "physisches Ding - Bild" usw.

In der präziseren fachwissenschaftlichen Sprache ist daher diese ungenaue Kennzeichnung fast ganz zum Verschwinden gekommen und hat Ausdrücken Platz gemacht, welche den jeweiligen Fall eindeutig so beschreiben, daß daraus ersichtlich wird, welche  bestimmte  Möglichkeit ausgeschlossen werden soll: der Alkohol ist nicht ein "wirklicher", sondern ein "vergällter" usw.

Die früher gebrauchte Rede von "Entkräftigen des Verdachtes" einer möglichen Täuschung durch Anwendung empirischer Tests ist in einer Hinsicht etwas irreführend.  Definitiv  wird nichts entkräftigt, genau so wenig, wie eine naturwissenschaftliche Hypothese  definitiv  verifiziert werden kann. Es ist heute bekannt, daß man die Wahrheit nicht nur genereller, sondern auch singulärer Aussagen über physische Objekte niemals mit absoluter Sicherheit feststellen kann. Das gilt insbesondere auch für den Fall, wo es um die "Wirklichkeit" eines Objektes geht.

Und hier liegt vielleicht einer der Gründe für das Überleben des metaphysischen Wirklichkeitsbegriffes: Daß mein bisheriges Leben kein Traum war, dafür stehen mir zahllose Tests zur Verfügung; aber sie beweisen nicht endgültig, daß es kein Traum gewesen sein kann. Wäre es also nicht doch möglich, daß ich einmal in einer ganz neuen, ungewohnten Umgebung aufwache und zu mir sage: "so also sieht die Welt in Wahrheit aus; alles Bisherige war nur ein Traum"?

Mit solchen oder ähnlich merkwürdigen Erlebnissen muß der Metaphysiker operieren, wenn er  seine  Wirklichkeitsfrage stellt. Und da wir uns bei genügendem Aufwand an Phantasie derartige Erlebnisse ausmalen können und zugleich zugeben müssen, daß kein empirischer Test zu einer endgültigen Verifikation führt, so können wir auch seine Wirklichkeitsfrage nicht schlechtweg für sinnlos erklären

Aber solche möglichen Erlebnisse hindern uns nicht, z.B. zu sagen "ich weiß, daß ich jetzt nicht träume" (genau so wenig wie die theoretische Möglichkeit, daß sich hinter der Eingangstür meines Hauses ein Abgrund aufgetan haben könnte, mich davon abhält, die Tür zu öffnen und bedenkenlos, ohne vorherige Sicherheitsvorkehrungen getroffen zu haben, einzutreten). Theoretisch ist somit hier (wie auch sonst  überall)  Skepsis in allen Gradabstufungen möglich, aber wir nehmen sie nicht ernst. Die zu ihrer "Überwindung" geforderten Sicherheitsvorkehrungen erscheinen uns als maßlos übertrieben, unvernünftig, ganz abgesehen von ihrer praktischen Undurchführbarkeit.

Und da solche Skepsis nicht wirklich beunruhigt, versuchen wir gar nicht, derartige Vorkehrungen zu treffen. Den Metaphysiker beunruhigen solche Fragen auch nicht wirklich, sondern nur theoretisch; daher beschränkt er sich darauf, sie durch "Intuition", d.h. durch reines Nachdenken, zu entscheiden. Seine Theorien gehen kontinuierlich über in den Fall, wo man darüber befriedigt ist, einen selbsterrichteten Strohmann umgeworfen zu haben.

Nicht nur aus der logischen Unmöglichkeit einer endgültigen Verifikation, sondern auch aus gewissen, in der konkreten Situation liegenden Überprüfungsschwierigkeiten kann ein Zweifel bestehen bleiben. Und dieser Zweifel kann dann u.U. wirklich ernst zu nehmen sein: ein plötzlich einsetzender Sandsturm kann mich vom ursprünglichen Weg abgetrieben haben, bevor ich Zeit hatte, zu untersuchen, ob es eine Oase oder nur eine Fata Morgana war; das Tier kann davongelaufen sein, bevor ich imstande war, an ihm die für eine richtige Klassifikation relevanten Merkmale zu beobachten usw.

Wir setzen stets eine Konstanz des Naturablaufs auch für die Zukunft voraus. Diese Voraussetzung kann sich als falsch erweisen. Das bedeutet dann aber nicht, daß wir im Nachhinein doch wieder die Wirklichkeit des Beobachteten, Wahrgenommenen usw. in Frage stellen müssen. Wir können dadurch höchstens genötigt werden, unser Begriffssystem zu revidieren und neue Naturgesetze anzunehmen. Wenn sich so erstaunliche Dinge ereignen sollten wie dies, daß das Sumpfhuhn sich plötzlich in einen Adler oder ein Känguruh verwandelt, sollen wir dann sagen "es war gar kein wirkliches Sumpfhuhn"?

Wir würden in einem solchen Fall vermutlich weder dies noch etwas anderes sagen,  da wir nicht wüßten, was wir dazu überhaupt sagen sollten . Wenn sich derartiges immer häufiger ereignete, so müßten wir zu der Feststellung gelangen, "die Welt beginnt sich vollkommen zu verändern" und wir würden darangehen müssen, neue Begriffe und damit neue Spielregeln für unsere Sprache zu schaffen. Auch die Kriterien dafür, daß Gegenstände wirklich sind, müßten dann entsprechend geändert werden.

Sollte es uns dagegen überhaupt nicht mehr gelingen, im Weltablauf eine Gesetzmäßigkeit zu erblicken, so würde die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Scheinbaren fiktiv werden; denn diese Unterscheidung setzt voraus, daß auf bestimmte Überprüfungen hin sich stets auch bestimmte Ereignisse einstellen.

Bisher haben wir allein die Frage der Wirklichkeit von  Dingen  in Betracht gezogen. Nicht weniger häufig tritt diese Frage jedoch dann auf, wenn über  Eigenschaften  von Dingen gesprochen wird. Hier vor allem wird gern der Ausdruck "Erscheinung" gebraucht. Ein Objekt, das wir als einheitliche gelb gefärbt ansehen, kann bei bestimmter Beleuchtung eine grüne Färbung zeigen, es kann sogar bei geeigneten Beleuchtungsverhältnissen an räumlich verschiedenen Teilen verschiedene Farben aufweisen.

Da das uns Gegebene jeweils nur eine bestimmte Farberscheinung und nicht die "wirkliche" Farbe ist, so besteht die Aufgabe darin, die dem Ding zuzuschreibende wirkliche Qualität als Funktion der gegebenen Erscheinung zu definieren. So einfach dies auf den ersten Blick aussehen mag, so dürfte doch bis heute keine Theorie geschaffen worden sein, welche die Art dieser funktionellen Abhängigkeit in einer vollkommen befriedigenden Weise beschreibt.
LITERATUR - Wolfgang Stegmüller, Das Universalienproblem einst und jetzt, Darmstadt 1965
    Anmerkungen
    1) Vgl. z.B. RUDOLF CARNAP, "Scheinprobleme in der Philosophie", Berlin 1928