cr-2Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie   
 
HANS REICHENBACH
Erkenntnis - die Zeitschrift

"Unsere Zeitschrift will keine Lehrmeinungen, keine ausgedachten Systeme, keine Begriffsbildung; sie will Erkenntnis.

Die "Erkenntnis" ist eine Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie. Sie ist nicht festgelegt auf die Methoden eines philosophischen Systems, sie sieht Philosophie nicht in einem Eigenrecht der Vernunft gegründet, welche unabhängig von den Fachwissenschaften Erkenntnisse allgemein verpflichtender Art aufrichten könnte, sondern sie will Philosophie nach den Methoden der Einzelwissenschaften treiben, ohne das Vorurteil einer übergreifenden Erkenntnis a priori allein aus der Fragestellung konkreter Probleme heraus. Die Form der Zeitschrift ist der gegebene Ausdruck für eine solche Philosophie, in der es Einzelprobleme unabhängig vom Rahmen eines Systems zu lösen gibt und in der Erkenntnisse von vielen zum Bau einer Gesamtwissenschaft zusammengetragen werden - der es um "Erkenntnis" zu tun ist in dem gleichen Sinn wie jeder Fachwissenschaft.

Solche wissenschaftliche Philosophie kann nur im engsten Zusammenhang mit den Fachwissenschaften, vor allem den Naturwissenschaften, durchgeführt werden und deshalb sind die Beiträge der "Erkenntnis" vor allem aus den Grenzgebieten der Mathematik, Physik, Biologie, Soziologie usw. entnommen, in denen  diese Wissenschaften  in philosophische Fragen einmünden. Mitarbeiter der "Erkenntnis" sind daher nicht nur Philosophen, sondern auch Fachwissenschaftler, die an der Grundlagenforschung ihrer Disziplin interessiert sind. Philosophie und Fachwissenschaft zu lebendiger und fruchtbringender Arbeit zu vereinen, ist das Ziel der "Erkenntnis".


Wichtige Mitteilung

Eine Reihe von Mißverständnissen zwischen den Herausgebern der "Annalen der Philosophie" und dem Verleger dieser Zeitschrift, hervorgerufen durch eine längere Auslandsreise des verantwortlichen Herausgebers, hatten zur Mitteilung über das Eingehen dieser Zeitschrift (Programm der Internationalen Philosophischen Gesellschaft) und zur Stellungnahme des Verlegers geführt.

Die Unterzeichneten geben hierdurch bekannt, daß diese Mißverständnisse durch vertrauensvolle Aussprache in einer für alle Parteien befriedigenden und ehrenden Weise behoben sind.

Die Herausgeber der "Annalen der Philosophie" geben hierdurch Herrn Dr. Felix Meiner das Recht, die Zeitschrift "Erkenntnis" aus Gründen der verlegerischen Kontinuität mit dem Untertitel "Annalen ... Bd. IX" zu versehen.

Zwischen den beiden Zeitschriften "Erkenntnis" und "Forum Philosophicum" ist eine freundliche Kooperation beabsichtigt.

Leipzig und Halle, den 26. Mai 1930

HANS VAIHINGER - Raymund Schmidt - Felix Meiner


Zur Einführung

Mit dem Beginn des 9. Bandes ist die Schriftleitung der "Annalen" neuen Herausgebern übertragen worden, und zugleich ist neben die "Gesellschaft für empirische Philosophie, Berlin, der Verein Ernst Mach, Wien", getreten, so daß die Zeitschrift künftig die Mitgliedszeitschrift für beide Gesellschaften bilden wird.

War es schon immer das Programm der "Annalen" gewesen, Philosophie nicht als isolierte Wissenschaft, sondern im engsten Zusammenhang mit den einzelnen Fachwissenschaften zu treiben, so darf der Wechsel in der Schriftleitung als eine Unterstreichung dieses Standpunktes betrachtet werden. Denn die jetzigen Herausgeber haben es von jeher als Aufgabe betrachtet, Philosophie im Sinne von 'Wissenschaftskritik zu treiben und durch wissenschaftsanalytische Methoden diejenigen Einsichten in Sinn und Bedeutung menschlicher  Erkenntnis  zu gewinnen, welche die in immer neuen Systemen formulierte, auf ein angenommenes Eigenrecht der Vernunft gegründete Philosophie der historischen Schulen vergeblich gesucht hatte.

Das soll nicht heißen, daß die Zeitschrift in ihren Beiträgen an die inhaltliche Auffassung der Herausgeber gebunden sein soll; vielmehr erscheint es uns selbstverständlich, daß nur der sachliche Wert der einzelnen Arbeit, nicht ihr inhaltliches Resultat über die Aufnahme in die Zeitschrift zu entscheiden hat. Es ergibt sich aber aus unserer Zielsetzung, daß der Schwerpunkt der Zeitschrift in den Arbeiten liegt, die ihre Quellen in dem ertragreichen Boden der Empirie haben; der Strom philosophischer Erkenntnis, der in unserer Zeit reicher als je aus den Einzelwissenschaften fließt, soll in unserer Zeit reicher als je aus den Einzelwissenschaften fließt, soll in unserer Zeitschrift ein Bett finden, das ihn faßt und weiter führt und ihm geordnete Bahnen weist.

Solange die Naturwissenschaften wie bisher den weitaus größten Teil an Erkenntnissen in die Philosophie hineintragen, solange werden sie deshalb den Schwerpunkt der Zeitschrift bestimmen; aber an sich scheint uns eine Befruchtung der Philosophie durch die Geisteswissenschaften, die wir überhaupt nur in arbeitstechnischem Sinne von den Naturwissenschaften abtrennen möchten, in gleicher Weise möglich, und wir hoffen, von solcher Philosophie der Geisteswissenschaften ebenfalls Zeugnisse bringen zu können. Wir richten deshalb an alle, die in den Fachwissenschaften arbeiten oder aus der Schule der Fachwissenschaften heraus zur Erkenntniskritik gekommen sind, die Bitte, uns ihre Arbeiten zu schicken und mit uns zu bauen an einer Philosophie der Wissenschaft.

Es ist unsere Überzeugung, daß damit zugleich die Philosophie als Wissenschaft eine neue Grundlegung erfahren wird. Dieses Wort soll keinen Eingriff in die Fragestellungen moderner Grundlagenforschung über die logische Möglichkeit einer Theorie der Erkenntnis bedeuten, schon deshalb nicht, weil Kritik philosophischen Denkens uns ebenso möglich und notwendig erscheint wie die Kritik der Fachwissenschaften; aber es soll ein Arbeitsprogramm bedeuten, ein Bekenntnis und eine Forderung.

Man hat sich in der Philosophie so sehr an Spaltung in Richtungen und Systeme gewöhnt, daß man darüber den Gedanken an eine einheitliche philosophische Wissenschaft nahezu aufgegeben hat und es als eine Besonderheit der Philosophie hinzustellen versuchte, daß es in ihr nur Lehrmeinungen, aber keine Lehre, daß es nur Standpunkte, aber keine Erkenntnis gibt. Wir glauben, daß ein solcher Verzicht auf Allgemeingültigkeit nur durch Einengung des Blicks zustande kommt, der die Unterschiede 'philosophischer Systeme in perspektivischer Verzerrung zu groß sieht und die Menge des bestehenden gemeinsamen Erkenntnisgutes zu gering veranschlägt. Es ist allzusehr eine Tendenz philosophischer Systeme gewesen, durch Gedankenkonstruktionen den Weg planmäßiger Forschung abzukürzen; sie konzentrierten sich auf das, was man noch nicht w eiß - und hatten deshalb nur zu reichlich Gelegenheit, Richtungen und Standpunkte in die Welt zu setzen.

Blickt man aber auf das, was man  weiß , so bemerkt man auch auf philosophischem Gebiet eine weitgehende Übereinstimmung. Man wird um so mehr von solchen gemeinsam erarbeiteten Wissensbeständen finden, je weiter man von der formulierten Philosophie weg in die Einzelwissenschaften geht und den Gedankengehalt aufzudecken versucht, der von den Forschern im Zusammenhang ihrer fachwissenschaftlichen Resultate als philosophischer Rahmen mitgedacht wird, aus dem als aus einer philosophischen Grundhaltung die Deutung und die Tragweite ihrer fachwissenschaftlichen Entdeckung entspringt.

Wenn man auf diese ungehobene Schicht von philosophischem Erz, aus der die erkenntnistheoretische Umwälzung der Physik und der Mathematik in unserer Zeit entsprang und aus der die Biologie und Psychologie bereits die Kraft für eine ähnliche Umwälzung zu ziehen beginnen, sein Augenmerk richtet, wird man nicht länger zweifeln können, daß es auch in der Philosophie eine objektive Erkenntnis gibt. Man mag um den Inhalt dieser Erkenntnis noch streiten, so tritt doch immer der Zug heraus, daß es im Grunde dasselbe ist, was wir meinen, wenn wir philosophische Sätze aussprechen, und daß Unterschiede der philosophischen Richtung nur so lange bestehen können, als zumindest die eine Richtung noch nicht vollständig bis zu dem vorgedrungen ist, was sie eigentlich meint.

Klarheit der Sprache, Einsicht in die Bedeutung des eigenen Wortes erscheint uns deshalb als höchstes Erfordernis philosophischen Schrifttums; wer solche Klarheit und Einsicht schon einmal im Schaffen eigener Gedankengänge gespürt hat, der weiß, daß Philosophie nicht ein dichterisches Ausmalen von Gefühlsinhalten ist, auch nicht ein Mantel psychologisch-historischer Erklärungsmöglichkeiten für von andern vorgebrachte Meinungen, sondern daß Philosophie ein Forschen bedeutet, ein Analysieren und Hindurchschauen, ein stetig fortschreitendes Suchen nach Erkenntnis.

Weil es Erkenntnis ist, was wir der Philosophie als Ziel setzen, Erkenntnis im gleichen Sinne wie für jede Einzelwissenschaft, darum haben wir das Wort als Zeichen für die neue Zeitschrift gewählt. Unsere Zeitschrift will keine Lehrmeinungen, keine ausgedachten Systeme, keine Begriffsbildung; sie will Erkenntnis.
LITERATUR - Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg.), Erkenntnis, Band I, Leipzig 1930-31, zugleich "Annalen der Philosophie", Bd. 9