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HELEN KELLER
Meine Welt
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Ich wußte nicht, daß ich etwas wußte, oder daß ich lebte oder etwas tat oder wünschte. Ich hatte weder Willen noch Intellekt.

Analogien in Sinneswahrnehmungen
Der Tastsinn kann keine Entfernung überbrücken - er ist nur wirksam, wenn Oberflächen sich berühren - aber der Gedanke springt über jeden Abgrund hinüber. Aus diesem Grunde kann ich Worte gebrauchen, welche Gegenstände beschreiben, die von meinen Sinnen entfernt sind. Ich habe die Rundungen eines zarten Kinderkörpers gefühlt; diese Wahrnehmung kann ich auf eine Landschaft und auf Hügel anwenden.

Zwar habe ich nicht den Umriß eines Sterns berührt, noch auch den Glanz des Mondes, aber ich glaube, daß Gott in meinem Geiste zwei Lichter geschaffen hat, das größere, das den Tag regiere, und das kleinere, daß die Nacht regiere, und mit ihrer Hilfe weiß ich, daß ich imstande bin, mein Lebensschiff zu lenken, und daß ich ebenso sicher bin, den Hafen zu erreichen, wie ein Schiffer, der nach dem Nordstern steuert.

Vielleicht scheint meine Sonne nicht so wie eure. Die Farben, die meine Welt verherrlichen, das Blau des Himmels, das Grün der Felder, mögen vielleicht nicht genau den Farben entsprechen, an denen ihr euch entzückt, aber für mich sind sie nichtsdestoweniger Farben. Für meine körperlichen Augen freilich scheint die Sonne nicht, flammt der Blitz nicht auf, grünt der Baum nicht im Lenz. Darum haben sie aber doch nicht aufgehört, vorhanden zu sein, sowenig wie die Landschaft vernichtet wird, wenn du ihr den Rücken zudrehst.

Ich begreife, daß Scharlachrot sich von Purpurrot unterscheiden kann, weil ich weiß, daß der Duft einer Orange nicht der Duft einer Pomeranze ist. Ich kann auch begreifen, daß Farben Abtönungen haben und ich errate, was Abtönungen sind. In Geruch und Geschmack gibt es Abweichungen, die nicht bedeutend genug sind, um wesentlich genannt werden zu können; diese bezeichne ich daher als Abtönungen.

Neben mir stehen ein halbes Dutzend Rosen. Sie haben alle den unverkennbaren Rosenduft, und doch sagt mir meine Nase, daß es nicht dieselben sind. Die  American Beauty  ist verschieden von der  Jacqueminot  und der  La Francé.  Der Gerüche gewisser Pflanzen verwelken für meinen Sinn genau so wirklich, wie für eure Augen gewisse Farben in der Sonne verwelken. Die Frische einer Blume, die ich in der Hand halte, entspricht der Frische eines eben vom Baum gepflückten Apfels, in den ich hineinbeiße.

Analogien dieser Art benutze ich, um meine Begriffe von Farben zu erweitern. Manche Vergleiche, die ich zwischen Eigenschaften von Oberflächen und Schwingungen, von Geschmack und Geruch anstelle, sind von anderen Vergleichungen zwischen Sehen, Hören und Fühlen abgeleitet. Diese Tatsache ermutigt mich, bei meinem Bemühen auszuharren, und immer wieder zu versuchen, die Kluft zwischen Auge und Hand zu überbrücken.

Und sicherlich gewinne ich reichlich genug, um das Entzücken mitzuempfinden, das meine Mitmenschen an der gesehenen Schönheit und an der gehörten Harmonie fühlen. Dieses Band zwischen der Menschheit und mir zu erhalten, lohnt sich der Mühe, selbst wenn die Ideen, die ich ihm zu Grunde lege, sich als irrig erweisen sollten.

Liebliche, schöne Schwingungen sind für meinen Tastsinn vorhanden, auch wenn sie, um mich zu erreichen, durch anderen Stoff geleitet werden als durch die Luft. So vermittelt mir meine Phantasie süße, entzückende Klänge und die künstlerische Anordnung derselben, welche Musik genannt wird, und ich erinnere mich, daß sie durch die Luft ans Ohr gelangen und Eindrücke erzeugen, die gewissermaßen den meinigen gleichen.

Ich weiß ferner, was Töne sind, da ich sie in einer Stimme fühlen kann. Von Wärme gibt es große Abstufungen: Wärme der Sonne, des Feuers, einer Hand, eines tierischen Pelzes. Für mich gibt es wirklich so etwas wie eine kalte Sonne. Ich denke ferner an die verschiedenen Arten von Licht, das die Augen trifft: kaltes und warmes Licht, lebhaftes und trübes, sanftes und grelles, aber immer Licht, und ich stelle mir vor, wie es durch die Luft zu einem weitumfassenden Sinn gelangt, statt zu einem eng begrenzten, wie der Tastsinn es ist.

Nach den Erfahrungen, die ich an den Sinnen gemacht habe, errate ich, wie das Auge inmitten von Licht Schatten unterscheidet. Wenn meine Finger an den Lippen einer Frau mit Sopranstimme lesen, bemerke ich einen tiefen odere einen frohen Ton inmitten des Klangflusses der hohen Stimme. Wenn ich fühle, daß meine Wangen heiß sind, so weiß ich, daß ich rot bin. Ich habe soviel über Farben gesprochen und gelesen, daß ich ganz unwillkürlich ihnen Bedeutungen beilege, genau so wie alle Menschen abstrakten Ausdrücken, z.B.  Hoffnung, Idealismus, Monotheismus, Intellekt,  gewisse Bedeutungen beilegen.

Diese Begriffe können nicht durch sichtbare Gegenstände wirklich wiedergegeben werden, aber man versteht sie durch die Analogien zwischen unkörperlichen Begriffen und den durch sie hervorgerufenen Vorstellungen äußerlicher Dinge. Ideenverbindungen veranlassen mich, zu sagen, daß Weiß erhaben und rein, daß Grün üppig ist, daß Rot mich an Liebe oder Scham oder Stärke denken läßt. Ohne Farbe oder den gleichwertigen Ersatz dafür würde das Leben für mich dunkel und öde sein - eine schwarze Wüste.

Vervollständigung von Begriffen
So dürfen denn nach einem innerlichen Gesetz der Vervollständigung meine Gedanken nicht farblos bleiben. Es treibt meinen Geist, Farbe und Klang von Gegenständen zu trennen. Seit dem Beginn meiner Erziehung wurden mir stets von einem Menschen mit scharfen Sinnen und einem feinen Gefühl für das Kennzeichnende alle Gegenstände mit ihren Farben und Tönen beschrieben. Darum stelle ich mir gewohnheitsmäßig in meinen Gedanken alle Gegenstände als farbig und tönend vor. Dies erklärt sich aber nur zum Teil aus einer seelischen Anlage und zum letzten Teil aus der auf fünf Sinne berechneten Anlage des Gehirns, die ebenfalls ihre Rechte geltend macht.

Abgesehen von diesem allem verlangt die Einheit der Welt, daß Farbe darin sei, einerlei, ob ich Kenntnis davon habe oder nicht. Statt mich davon ausschließen zu lassen, nehme ich lieber Teil daran, indem ich über Farbe spreche, sie mir vorstelle und glücklich bin in dem Glücke meiner Nächsten, die das liebliche Farbenspiel des Abendhimmels oder des Regenbogens anstaunen.

Meine Hand hat ihren Anteil an dieser mannigfaltigen Kenntnis, aber es darf niemals vergessen werden, daß ich mit den Fingern nur einen sehr kleinen Teil einer Oberfläche sehe, und daß ich beständig mit der Hand darüber hinfahren muß, bevor meine Tastempfindung das Ganze begreift. Noch wichtiger indessen ist es, sich zu erinnern, daß meine Phantasie nicht an bestimmte Punkte, Örtlichkeiten und Entfernungen gebunden ist. Sie bringt alle Teile gleichzeitig zusammen, wie wenn sie sie sähe oder kennte, anstatt sie nur zu fühlen.

Obgleich ich von meinem Pferde nur einen kleinen Teil zur Zeit fühle - denn mein Pferd ist kitzlig und duldet keine Forschungsreise meiner Hand - so habe ich doch so oft Fesseln, Nase, Huf und Mähne gefühlt, daß ich die Rosse des Phoebus Apollo sehen kann, wie sie über das Himmelsgewölbe rennen.

Mit solcher tätigen Kraft begabt, kann unmöglich mein Denken undeutlich und unbestimmt sein. Dies ist wirklich ein Gegenstück zu der philosophischen Wahrheit, daß die wahre Welt nur für den Geist vorhanden ist. Das heißt: ich kann niemals die Welt in ihrer Ganzheit berühren; ich berühre in der Tat weniger von ihr als die anderen Menschen, nämlich den Teil nicht, den jene sehen und hören. Aber alle Geschöpfe, alle Gegenstände gelangen ganz und gar in mein Gehirn und nehmen dort dieselbe Ausdehnung ein wie im körperlichen Raum.

Ich erkläre: Für mich biegen und schmiegen sich, sausen und brausen statt wirklicher Fichten geästete Gedanken und erfüllen mit ihrer Musik die Bergketten, welche Gipfel hinter Gipfel sich erheben. Sprecht mir von einer Rose, die zu weit von mir entfernt ist, als daß ich sie riechen könnte. Sofort schleicht sich ein Duft in meine Nase, ein Gebilde drückt sich weich in meine Handfläche und weitet sich aus mit seinen gerundeten Blumenblättern, mit den leicht umgerollten Rändern, mit dem gekrümmten Stengel, mit herabhängenden Blättern.

Wenn ich gerne die Welt als Ganzes sehen möchte, so schießt sie vor meinem geistigen Blick auf - Mensch, Tier, Vogel, Reptil, Käfer, Himmel, Meer, Berge, Ebene, Fels und Kiesel. Die Wärme des Lebens, die Wirklichkeit der Schöpfung ist überall: im Pulsschlag menschlicher Hände, im weichen Glanz von Pelzwerk, in den geschmeidigen Windungen langer Leiber, im scharfen Summen von Insekten, in holperigen Felsenstufen, die ich hinansteige, in der flüssigen Beweglichkeit des Wassers, im Wogenprall, der gegen die Klippen schlägt.

Seltsam zu sagen: so oft ich es versucht habe, ich vermag meinen Tastsinn nicht zu zwingen, dieses Weltall nach allen Richtungen zu durchdringen. Sobald ich es versuche, verschwindet das Ganze; nur kleine Gegenstände bleiben zurück oder schmale Teile einer Oberfläche, Müsterchen eines willkürlich verstreuten Chaos von Dingen. Kein Schauer des Entzückens wird dadurch in mir erregt. Aber gib dem künstlerischen, verständnisvollen inneren Sinn sein Gebiet zurück, das ihm von Rechtswegen zukommt, und du schenkst mir eine Freude, die der beste Beweis für die Wirklichkeit ist.


Vor meinem geistigen Erwachen
Bevor meine Lehrerin zu mir kam, wußte ich nicht, daß ich vorhanden war. Ich lebte in einer Welt, die eine Nichtwelt war. Ich darf nicht hoffen, diese unbewußte und doch bewußte Zeit des Nichts angemessen beschreiben zu können. Ich wußte nicht, daß ich etwas wußte, oder daß ich lebte oder etwas tat oder wünschte. Ich hatte weder Willen noch Intellekt.

Ich wurde durch einen gewissen blinden, natürlichen Trieb zu Gegenständen und Handlungen geleitet. Ich hatte einen Geist, durch den ich Ärger, Befriedigung, Wünsche empfand. Diese beiden Tatsachen brachten meine Angehörigen auf die Vermutung, daß ich einen Willen hätte, und daß ich dächte. An dies alles kann ich mich erinnern, nicht weil ich wüßte, daß es so war, sondern weil ich ein Gedächtnis für Tastempfindungen habe.

Dank diesem Gedächtnis erinnere ich mich, daß ich niemals denkend meine Stirn zusammenzog. Niemals prüfte ich etwas, niemals wählte ich. Ferner erinnert sich mein Tatsinn der Tatsache, daß ich niemals mit einer Bewegung des Körpers oder mit einem Herzklopfen fühlte, daß ich etwas liebte oder mir um etwas Sorge machte. Mein inneres Leben war also eine Leere ohne Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, ohne Hoffnung oder Erwartung, ohne Wißbegier, ohne Freude oder Glauben:
    Es war nicht Nacht - es war nicht Tag.
    Nur raumverschlingende Leere,
    Ein fester Platz und doch kein Platz -
    Kein Stern - kein Erdball - keine Zeit -
    Kein Halt - kein Tausch - kein Gut - kein Böse.
Mein schlummerndes Ich hatte keinen Begriff von Gott oder Unsterblichkeit, hatte keine Furcht vor dem Tode.

Ich erinnere mich, ebenfalls durch meinen Tastsinn, daß ich eine Gabe besaß, Ideen zu verknüpfen. Ich fühlte rhythmische Erschütterungen, zum Beispiel von dem Aufstampfen eines Fußes, von dem Öffnen oder Schließen eines Fensters, von dem Zuschlagen einer Tür.

Nachdem ich wiederholt Regen gerochen und die Unbehaglichkeit der Nässe gefühlt hatte, machte ich es wie meine Umgebung: ich lief nach dem Fenster, um es zuzumachen. Aber dies war dieselbe Art von Ideenverbindung, die die Tiere veranlaßt, Schutz vor dem Regen zu suchen. Infolge des gleichen Instinktes, anderen "nachzuäffen", legte ich die Kleider zusammen, die aus der Wäsche kamen, räumte die mir selber zugehörenden weg, fütterte die Truthühner, nähte Perlenaugen auf das Gesicht meiner Puppe und tat viele andere Dinge, deren Erinnerung mein Tastsinn aufbewahrt hat.

Wenn ich irgend etwas haben wollte, was ich liebte - zum Beispiel Vanille-Eis, das ich sehr gern aß - so hatte ich einen köstlichen Geschmack auf meiner Zunge, (den ich, nebenbei gesagt, jetzt niemals mehr habe) und fühlte in meiner Hand die Umdrehungen der Gefriermaschine. Ich machte das Zeichen, und meine Mutter wußte, daß ich Vanille-Eis haben wollte.

Ich "dachte" und wünschte in meinen Fingern. Hätte ich einen Menschen geschaffen, so würde ich sicherlich Gehirn und Seele in seine Fingerspitzen gelegt haben. Aus dergleichen Erinnerungen schließe ich, daß die Möglichkeit, erst als Kind und später als Mensch ins Leben zu treten, auf dem Erwachen von zwei geistigen Fähigkeiten beruht, nämlich erstens, frei zu wollen oder zu wählen, zweitens, Schlüsse zu ziehen, oder von einem Gedanken ausgehend, einen zweiten Gedanken fassen zu können.

Da ich nicht zu denken vermochte, verglich ich auch nicht einen geistigen Zustand mit einem anderen. So war ich mir denn auch nicht bewußt, daß in meinem Gehirn eine Veränderung oder ein Fortschritt stattfand, als meine Lehrerin mich zu unterrichten begann. Ich fühlte nur eine deutliche Freude, daß ich mittels der Fingerbewegungen, die sie mich lehrte, leichter erhalten konnte, was ich wünschte.

Ich dachte nur an Gegenstände, und nach Gegenständen ging mein Wunsch. Es war das Umdrehen der Gefriermaschine in größerem Maßstabe. Als ich die Bedeutung von "ich" und "mir" lernte und merkte, daß ich etwas bedeutete, da begann ich zu denken. In diesem Augenblicke gab es für mich zum ersten Male ein Bewußtsein. So war es also nicht der Tastsinn, der mir Wissen brachte. Es war das Erwachen meiner Seele, das zuerst meinenn Sinnen ihren Wert zurückgab und sie Gegenstände, Namen, Eigenschaften und Eigentümlichkeiten erkennen lehrte.

Denken gab mir den Begriff von Liebe, Freude und allen Gemütsbewegungen. Anfangs wollte ich nur lernen, dann auch verstehen und später über das nachdenken, was ich wußte und verstand. Der blinde Drang, der mich früher nach der Willkür meiner Eindrücke bald hierin, bald dorthin getrieben hatte, verschwand für immer.

Ich kann nicht klarer als andere Menschen die allmählichen, feinen Umwandlungen von ersten Eindrücken zu abstrakten Begriffen darstellen: aber ich weiß, daß meine körperlichen Ideen, das heißt Ideen, die von stofflichen Gegenständen abgeleitet sind, mir zuerst in ähnlicher Weise wie Tasteindrücke bewußt werden. Augenblicklich aber gehen sie in intellektuelle Begriffe über. Später finden diese Begriffe Ausdruck in sogenannter "innerlicher Sprache".

Als ich ein Kind war, da war meine innerliche Sprache ein innerliches Buchstabieren. Obgleich ich selbst jetzt noch oft dabei überrascht werde, wie ich mir selber mit meinen Lippen, und als ich zuerst sprechen lernte, entsagte mein Geist den Fingersymbolen und begann in deutlichen Worten zu sprechen. Dies ist wahr. Wenn ich jedoch mich erinnern suche, was irgend jemand zu mir gesagt hat, so fühle ich deutlich eine Hand, die in die meinige hineinbuchstabiert.


Die belebte Welt
Es ist oft gefragt worden, welches meine ersten Eindrücke von der Welt waren, in der ich mich plötzlich fand. Nun aber weiß wohl jeder, der überhaupt über seine ersten Eindrücke nachdenkt, was für ein Rätsel dies ist. Unsere Eindrücke nachdenkt, was für ein Rätsel dies ist. Unsere Eindrücke wachsen und wechseln unvermerkt. Was wir nach unserer Meinung als Kinder gedacht haben, ist vielleicht ganz verschieden von dem, was wir wirklich in unserer Kindheit erfuhren. Ich weiß nur, daß nach dem Beginn meiner Erziehung die ganze Welt, die in meinen Bereich kam, für mich lebendig war.

Ich buchstabierte meinen Baukastenhölzern und meinen Hunden. Ich hatte Mitgefühl mit den Pflanzen, deren Blüten gepflückt wurden, weil ich dachte, es täte ihnen weh und sie trauerten um ihre verlorenen Blumen. Es dauerte Jahre, bis man mir glaubhaft machen konnte, daß meine Hunde nicht verständen, was ich ihnen sagte, und ich entschuldigte mich stets bei ihnen, wenn ich gegen sie anrannte oder auf sie trat.

Als meine Erfahrungen breiter und tiefer wurden, begannen die unbestimmten poetischen Gefühle der Kindheit sich zu bestimmten Gedanken zu verfestigen. Natur - die Welt, die ich berühren konnte - war ganz und gar von mir angefüllt. Ich bin geneigt, jenen Philosophen zu glauben, welche behaupten, daß wir nichts kennen als unsere eigenen Gefühle und Begriffe. Mit einigen kleinen sinnreichen Schlußfolgerungen mag man dazu kommen, in der körperlichen Welt einfach einen Spiegel zu sehen, ein Abbild fortdauernder geistiger Wahrnehmungen.

In jedem Lebenskreise ist Selbsterkenntnis die Vorbedingung und Grenze unseres Bewußtseins. Dies ist vielleicht der Grund, warum viele Leute so wenig von dem wissen, was außerhalb des engen Bereiches ihrer Erfahrungen liegt. Sie blicken in sich selber hinein - und finden nichts! Daraus ziehen sie den Schluß, daß auch draußen nichts sei.

Wie dies denn auch sein möge, ich begann später an anderen nach einem Abbilde meiner eigenen Gefühle und Empfindungen zu suchen. Ich hatte die äußeren Zeichen innerer Gefühle kennen zu lernen. Ich mußte erst an anderen bemerken, wie sie vor Furcht zusammenfuhren, wie ihre Muskeln im unterdrückten Schmerze sich zusammenzogen, in freudiger Erregung sich ausdehnten, und ich mußte diese Beobachtungen mit meinen eigenen Erfahrungen vergleichen, bevor ich diese bis zu der unberührbaren Seele meines Mitmenschen zurückverfolgen konnte.

Unsicher tastend fand ich doch zuletzt meine Identität, und nachdem ich meine Gedanken und Gefühle an anderen wiederholt gesehen hatte, erbaute ich mir allmählich meine Menschen- und Gotteswelt. Durch Lesen und Studieren habe ich gefunden, daß die anderen Menschen es genau ebenso machen. Der Mensch sieht in sich selber hinein und findet mit der Zeit das Maß und die Bedeutung des Weltalls.


Die Einheit der Menschen
So inmitten des Lebens, des eifrigen, gebieterischen Lebens, das taubblinde Kind an den nackten Felsen der Verhältnisse geschmiedet, aber wie eine Spinne sendet es Sommerfäden des Denkens in die unendliche Leere aus, die es umgibt. Geduldig durchforscht es die Finsternis, bis es sich einen Begriff aufbauen kann von der Welt, worin es lebt, bis seine Seele der Schönheit der Welt begegnet, wo immer die Sonne scheint und die Vögel singen. Dem blinden Kinde ist die Finsternis freundlich. Es findet in ihr nichts Außerordentliches oder Schreckliches. Es ist seine vertraute Welt; selbst das Tasten von Ort zu Ort, die strauchelnden Schritte, die Abhängigkeit von anderen erscheinen dem blinden Kinde nicht sonderbar.

Es kennt nicht die unzähligen Freuden, die die Finsternis ihm vorenthält. Erst wenn es sein Leben in der Wagschale der Erfahrungen anderer Menschen abwägt, kommt es ihm zum Bewußtsein, was es heißt, immer im Dunkeln zu leben. Aber die Erkenntnis, die ihm diese bittere Lehre gibt, bringt ihm auch seinen Trost - geistiges Licht, die Verheißungen des Tages, der einst kommen wird.

Das blinde Kind, das taubblinde Kind hat den Geist sehender und hörender Vorfahren geerbt - einen Geist, der auf fünf Sinne bemessen war. Darum muß das Kind, auch wenn es ihm selber unbewußt bleibt, von dem Licht, der Farbe, der Melodie beeinflußt werden, die ihm durch die Sprache, die es lernt, übermittelt werden, denn die Kammern des Geistes sind bereit, die Sprache aufzunehmen.

Das menschliche Gehirn ist so von Farbe durchdrungen, daß es sogar die Sprache des Blinden färbt. Jeder Gegenstand, den ich mir vorstelle, erhält durch Ideenverbindung und durch mein Gedächtnis die Färbung, die ihm zukommt. Es geht dem Taub-Blinden in einer Welt von sehenden, hörenden Menschen, wie einem Schiffer auf einer Insel, deren Bewohner eine ihm unbekannte Sprache sprechen und ganz anders leben, als er bisher gelebt hat. Er ist einer, sie sind viele; die Möglichkeit eines Ausgleiches ist nicht vorhanden. Er muß lernen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören, ihre Gedanken zu denken, ihren Idealen zu folgen.

Wäre die dunkle, schweigende Welt, die den Taub-Blinden umgibt, von der sonnbestrahlten, tönenden Welt wesentlich verschieden, so würde diese für ihn unbegreiflich sein, und man könnte mit ihm niemals darüber sprechen. Wenn seine Gefühle und Empfindungen grundsätzlich von denen anderer Menschen verschieden wären, so würden sie für alle unverständlich sein, ausgenommen für solche, die ebensolche Empfindungen und Gefühle hätten.

Wenn das geistige Bewußtsein des Taub-Blinden dem seiner Mitmenschen durchaus unähnlich wäre, so gäbe es für ihn kein Mittel, sich vorzustellen, was sie denken; da aber der Geist des Nichtsehenden wesentlich ebenso ist wie der des Sehenden, insofern ihm nichts fehlt, so muß er irgend einen Ersatz herbeischaffen für die fehlenden körperlichen Empfindungen. Er muß eine Ähnlichkeit zwischen äußeren und inneren Dingen bemerken, eine Korrespondenz zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Ich benutze eine solche Korrespondenz in mancherlei Beziehungen, und so weit ich auch in ihrer Anwendung auf Dinge, die ich nicht sehen kann, gehen mag - sie hält jede Probe aus.


Einheit der inneren und äußeren Welten
Als eine bloße Hypothese genommen, ist die Korrespondenz auf das ganze Leben in allen seinen Erscheinungsformen anwendbar. Der Blitz des Gedankens und seine Schnelligkeit erklären den Blitzstrahl der Wolken und des Kometen, der über den Himmel fegt. Mein geistiger Himmel öffnet mir die weiten himmlischen Räume und ich mache mich daran, sie mit den Bildern meiner geistigen Sterne zu füllen.

Ich erkenne die Wahrheit an der Klarheit und Führung, die sie meinem Denken gibt, und da ich weiß, was diese Klarheit ist, so kann ich mir vorstellen, was das Licht für das Auge ist. Wenn ich sage: "Oh, ich sehe meinen Irrtum!" oder "Wie dunkel, freudlos ist sein Leben!", so ist das nicht eine herkömmliche Redensart, sondern ein zwingendes Gefühl für Wirklichkeit, worüber ich mich zu Zeiten selber verwundere.

Ich weiß, diese Ausdrücke sind Gleichnisse. Aber ich muß es mit ihnen versuchen, weil es in unserer Sprache nichts gibt, was sie ersetzen könnte. Entsprechende bildlich Ausdrücke für Taub-Blinde sind nicht vorhanden und auch nicht notwendig. Weil ich das Wort "reflektieren" bildlich verstehen kann, ist ein Spiegel für mich niemals etwas Rätselhaftes gewesen. Die Art, wie meine Einbildungskraft ferne Dinge wahrnimmt, ermöglicht es mir zu begreifen, daß es Vergrößerungsgläser gibt, durch die uns die Gegenstände näher gebracht oder weiter gerückt werden.

Verweigert mir diese Korrespondenz, diesen inwendigen Sinn, beschränkt mich auf die fragmentarische, zusammenhanglose Welt, die man berühren kann, und seht, ich flattere ratlos umher wie eine Fledermaus. Angenommen, ich verzichte auf alle Wörter, die sich auf Sehen, Hören, Farbe, Licht, Landschaft und auf die damit verbundenen tausend Erscheinungen, Werkzeuge und Schönheiten beziehen - so würde sich das wißbegierige Entzücken des Erwerbens neuer Kenntnisse sehr vermindern; außerdem - und das wäre ein noch schrecklicherer Verlust - würden meine seelischen Empfindungen abgestumpft werden, sodaß ich durch ungesehene Dinge nicht mehr berührt werden könnte.

Ist etwa irgendwie bewiesen worden, daß diese Korrespondenz kein angemessenes Mittel ist? Ist jemals im Gehirn eines Blinden eine Kammer geöffnet und leer gefunden worden? Hat jemals ein Psychologe den Geist eines Blinden untersucht und sagen können: "Es ist keine Empfindung vorhanden"?

Ich stehe auf der festen Erde; ich atme die würzige Luft. Aus diesen beiden Wahrnehmungen bilde ich unzählige Ideenverbindungen und Korrespondenzen. Ich beobachte, fühle, denke, phantasiere. Ich bringe die unzähligen verschiedenen Eindrücke, Erfahrungen, Begriffe mit einander zusammen. Aus diesen Materialien schmiedet die Phantasie, die geschickte Gehilfin des Verstandes, ein Bild, das der Skeptiker mir abstreiten möchte, weil ich nicht mit meinen körperlichen Augen das wechselnde liebliche Antlitz meines Gedankenkindes sehen kann.

Er möchte den Spiegel des Geistes zerschlagen. Dieser Geistesvandale möchte meine Seele demütigen und mich zwingen, den Staub der Materie zu schlucken. Während ich an dem Bissen des Umstandes kaue, geißelt und spornt er mich mit dem Stachel der Tatsache. Wenn ich auf ihn achten wollte, würde das schöne Antlitz der Erde in Nichts verschwinden, und ich hielte in meiner Hand nur noch einen zwecklosen, seelenlosen Klumpen toter Materie. Aber wenn auch der körperliche Leib lebend an den prometheischen Felsen angewurzelt ist - die geistesstolze Jägerin der Luft wird stets auf den glänzenden, offenen Bahnen des Weltalls dahinziehen.

Ein Mensch, der eines oder mehrerer Sinne beraubt ist, ist nicht, wie viele Leute zu glauben scheinen, in eine pfadlose Wildnis ohne Landmarke und Führer hinausgestoßen. Der Blinde bringt in seine dunkle Umgebung alle Eigenschaften mit, die notwendig sind, um die sichtbare Welt zu begreifen, deren Tore hinter ihm geschlossen sind. Er findet seine Umgebung überall von gleicher Art wie die der sonnenhellen Welt; denn zwischen der Welt drinnen und der Welt draussen ist ein unerschöpflicher Ozean von Ähnlichkeiten, und diese Ähnlichkeiten, diese Korrespondenzen genügen ihm für alle Anforderungen, die sein Leben an ihn stellt.

Wirklichkeit, deren Symbole die sichtbaren Dinge sind, leuchtet vor meinem Geiste. Während ich mit unsicheren Schritten durch mein Zimmer gehe, schwebt mein Geist auf Adlerschwingen himmelwärts zu unauslöschlichen Bildern und blickt herab auf die Welt ewiger Schönheit.
LITERATUR - Helen Keller, Meine Welt, Stuttgart 1912