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WILLIAM JAMES
Psychologie
Denkendes Erfassen
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Die traditionelle Allgemeinheitsverehrung kann nur als ein Stück verkehrter Sentimentalität, als eines der philosophischen Irrtümer, die durch Einseitigkeit der Betrachtung bedingt sind, betrachtet werden.

Verschiedene Geisteszustände können dasselbe meinen. Diejenige Funktion, durch welche wir numerisch verschiedene Gegenstände uns zum Bewußtsein bringen, herausheben, abgrenzen und identifizieren, heißt "denkendes Erfassen". Es ist klar, daß da, wo durch einen und denselben geistigen Zustand an viele Dinge gedacht wird, der betreffende Zustand einen Träger vieler Akte denkenden Erfassens bedeutet. Wenn er eine solche vielfältige Bedeutungsfunktion hat, mag er ein Zustand komplizierten denkenden Erfassens genannt werden.

Wir können Realitäten denken, von denen wir annehmen, daß sie außerpsychisch sind, wie eine Dampfmaschine; ferner Fiktionen, wie eine Nixe; oder reine Gedankendinge, wie Verschiedenheit und Nichtsein. Allein woran wir auch denken, unser denkendes Erfassen bezieht sich auf dieses ganz Bestimmte und sonst nichts, d.h. auf keinen Gegenstand, der an die Stelle dieses Gegenstandes treten würde, obwohl wir vielleicht an manches denken können, was noch  neben  dem zunächst Gedachten für uns vorhanden ist.

Jeder Akt unseres denkenden Erfassens besteht darin, daß unsere Aufmerksamkeit aus der Masse der Gedankenstoffe, welche die Welt darbietet, einen bestimmten Bestandteil herausgreift und daß wir diesen, ohne ihn mit anderen zu verwechseln, festhalten. Eine Verwechslung findet statt, wenn wir nicht wissen, ob ein uns gegebenes Objekt mit dem Gegenstand eines unserer Begriffe identisch ist oder nicht; die Funktion des denkenden Erfassens wird also erst dadurch vollkommen, daß der Gedanke nicht nur den Sinn hat "ich meine dieses", sondern auch "ich meine jenes nicht".

Jeder Begriff bleibt so in der Ewigkeit was er ist, und kann nie zu einem anderen werden. Der Geist kann seine Zustände und seine Meinungen von Zeit zu Zeit verändern; er kann einen Begriff fallen lassen und einen anderen aufnehmen: aber es hat keinen verständlichen Sinn, zu sagen, der fallen gelassene Begriff  verwandle  sich in den, der an seine Stelle tritt. Das Papier, das einen Augenblick vorher weiß war, kann mir jetzt kohlschwarz erscheinen. Aber mein Begriff "weiß" schlägt dabei nicht in den Begriff "schwarz" um. Im Gegenteil, er bleibt neben der objektiven Schwärze bestehen als etwas zu beurteilen, was sich am Papier verändert hat. Wenn er nicht vorhanden wäre, würde ich einfach "Schwärze" sagen und weiter nichts wissen. So aber steht die Welt der Begriffe oder der Gegenstände, die wir meinen, wenn wir darüber denken, starr und unbeweglich, inmitten der Veränderung unserer Meinungen und der physischen Dinge, wie PLATONs Reich der Ideen.

Gewisse Begriffe beziehen sich auf Dinge, andere auf Ereignisse, wieder andere auf Eigenschaften. Jede Tatsache, sei sie ein Ding, ein Ereignis oder eine Eigenschaft, ist für die Zwecke der Identifikation hinreichend bestimmt, wenn sie nur so herausgehoben und beachtet ist, daß sie von anderen Dingen getrennt erscheint. Es genügt, sie einfach "dies" oder "jenes" zu nennen. Wenn wir uns technischer Ausdrücke bedienen wollen, so können wir sagen: ein Gegenstand könne erfaßt werden durch einfache Bezeichnung, wobei die Bezeichnung keine weitere oder nur ein Minimum weiterer Nebenbedeutung zu besitzen braucht. Die Hauptsache ist, daß wir in ihm beständig den wiedererkennen, von dem die Rede ist; und dazu bedarf es keinerlei vollständiger Vorstellung, selbst dann, wenn es sich um ein ganz anschauliches Ding handelt.

In diesem Sinne können Geschöpfe, die auf einer sehr niedrigen geistigen Entwicklungsstufe stehen, Begriffe haben. Alles was dabei vorausgesetzt wird, ist nur, daß sie die gleiche Erfahrung wiedererkennen. Ein Polyp würde ein Begriffsdenker sein, wenn je ein Bewußtsein wie "Hallo! wieder so ein wurmartiges Dingsda!" durch seinen Geist huschen würde. Dieses Erfassen der Identität ist so recht das Skelett unseres Bewußtseins. Die gleichen Gegenstände können durch verschiedene Bewußtseinszustände denkend erfaßt werden, und jeder dieser Zustände kann ein Wissen davon einschließen, daß er dasselbe meint wie ein anderer. Mit anderen Worten, der Geist kann immer intentional auf etwas gerichtet sein und dabei die Identität seiner Gegenstände erfassen.

Begriffe abstrakter, allgemeiner und problematischer Gegenstände. - Das Erfassen von etwas, was wir meinen, ist ein ganz besonderer Bestandteil unseres Bewußtseins. Er gehört zu jenen flüchtigen und "transitiven" psychischen Tatsachen, welche von der inneren Wahrnehmung nicht zwecks genauerer Erforschung isoliert und festgehalten werden können, wie ein aufgespießtes Insekt von dem Entomologen (Insektologen). Nach der (etwas groben) Terminologie, deren ich mich bediene, gehört er zur "Franse" des Objekts und ist ein "Richtungsbewußtsein", dessen nervöses Korrelat zweifellos in einer Anzahl entstehender und vergehender Prozesse besteht, die zu schwach und verwickelt sind, um ihre Spur verfolgen zu lassen.

Der Geometer, der eine einzige bestimmte Figur vor sich hat, weiß sehr wohl, daß seine Gedanken sich ebensogut auf zahllose andere Figuren anwenden lassen und daß, wenn er auch Linien von bestimmter Dicke, Richtung und Farbe etc.  sieht,  er doch nicht eine dieser Einzelheiten  meint.  Wenn ich das Wort  Mensch  in zwei verschiedenen Sätzen anwende, mag ich beide Male denselben Schall auf meinen Lippen und dasselbe Bild vor meinem geistigen Auge haben, aber ich kann dabei im Augenblick, wo ich das Wort ausspreche und das Bild vorstelle, zwei absolut verschiedene Dinge meinen und mir dessen bewußt sein.

So bin ich mir, wenn ich sage: "was für ein herrlicher Mensch ist Mr. JONES!" vollkommen bewußt, daß ich mit dem Wort Mensch etwas meine, was nicht NAPOLEON BONAPARTE und SMITH ist. Aber wenn ich sage: "Was für ein herrliches Wesen ist der Mensch!" bin ich mir ebensowohl bewußt, daß ich keine solche Ausschließung meine. Dieses hinzutretende Bewußtsein ist etwas absolut Positives, wodurch das, was sonst bloß Geräusch oder Gesichtseindruck wäre, in etwas  Verstandenes  verwandelt wird und wodurch der Verlauf meines Denkens, die später kommenden Wörter und Bilder in vollkommen bestimmter Weise determiniert werden.

Ganz gleich wie bestimmt und konkret die gewohnte Vorstellungsweise irgendeiner Psyche sein mag, die vorgestellten Dinge erscheinen immer umgeben von ihrer Frans von Beziehungen, und diese bildet einen ebenso wesentlichen Bestandteil des erfaßten Objekts, wie das betreffende Ding selbst. Wir gelangen, wie hinreichend bekannt ist, schrittweise dazu, ganze Klassen von Dingen ebenso wie einzelne Exemplare, spezielle Eigenschaften und Attribute der Dinge, wie die ganzen Dinge denkend zu erfassen, mit anderen Worten wir gelangen in den Besitz von Allgemein- und Abstraktionsbegriffen, wie sie die Logiker nennen.

Wir kommen auch dazu an Objekte, die nur problematisch, oder noch nicht bestimmt vorstellbar sind ebenso gut zu denken, als an solche, die mit all ihren Einzelheiten vorgestellt werden können. Ein Objekt, das problematisch ist, wird nur durch seine Beziehungen bestimmt. Wir denken an ein Ding, von dem gewisse Tatsachen gelten müssen. Aber wir wissen noch nicht, wie das Ding aussehen wird, wenn es realisiert ist, - d.h. obgleich wir es denkend erfassen, vermögen wir es nicht  vorzustellen.  Die Beziehungen genügen uns jedoch vollkommen, unseren Gegenstand zu individualisieren und ihn von alle anderen Gemeinten zu unterscheiden.

So können wir z.B. an ein  perpetuum mobile  denken. Solch eine Maschine ist ein Wunschgegenstand ganz bestimmter Art - wir sind jederzeit imstande, zu sagen, ob irgendeine wirkliche Maschine, die man uns zeigt, mit demselben übereinstimmt oder nicht. Die natürliche Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Dinges hat nichts zu tun mit der Frage, ob es in dieser problematischen Weise denkend erfaßt werden kann. So sind "rundes Viereck" oder "schwarz-weißes Ding" absolut bestimmte Denkgegenstände; für unser denkendes Erfassen derselben ist es ein reiner Zufall, daß sie Dinge bedeuten, die in der Natur niemals vorkommen, und von denen wir uns infolgedessen kein Bild machen können.

Die große Streitfrage zwischen Nominalisten und Konzeptualisten ist die, "ob die Seele abstrakte oder allgemeine Ideen bilden kann". Besser würde man sagen Ideen von abstrakten und allgemeinen Dingen. Aber sicherlich ist im Vergleich mit der wunderbaren Tatsache, daß unsere Gedanken, wie verschieden sie auch sonst sein mögen, doch auf dasselbe sich beziehen können, die Frage recht nebensächlich, ob dieses Selbe ein einzelnes Ding, eine ganze Klasse von Dingen, eine abstrakte Eigenschaft oder etwas Unvorstellbares ist. Das was wir meinen, kann sein etwas Singulares, etwas Partikulares, etwas Unbestimmtes, etwas Problematisches und etwas Allgemeines, in verschiedenster Weise kombiniert.

Ein einzelnes Individuum ist ebensogut denkend erfaßt, wenn es in meinem Bewußtsein von der ganzen übrigen Welt abgetrennt und identifiziert ist, wie die sublimierteste und allem zukommende Qualität desselben - seine  Wirklichkeit  z.B., wenn sie in der gleichen Weise behandelt wird. Wie man die Sache auch betrachten mag, man muß sich darüber wundern, daß den Allgemeinbegriffen eine so dominierende und ungeheure Bedeutung zugeschrieben worden ist. Warum die Philosophen von SOKRATES abwärts darin miteinander gewetteifert haben, das Wissen von dem Besonderen zu verachten und dasjenige des Allgemeinen zu verehren, das ist schwer zu verstehen, wenn man einsieht, daß das verehrungswürdige Wissen das von den verehrungswürdigen Dingen sein müßte, und daß die Dinge von Wert alle konkret und individuell sind. Der einzige Wert der allgemeinen Merkmale besteht darin, daß sie uns helfen durch Nachdenken neue Wahrheiten über die individuellen Dinge zu finden. Die Einschränkung des denkenden Erfassens auf ein individuelles Ding erfordert wahrscheinlich sogar kompliziertere Gehirnprozesse als der vage Gedanke an alle Fälle einer bestimmten Art; und das eigentliche Mysterium des denkenden Erfassens wird weder größer noch kleiner, ob die erfaßten Dinge allgemeine oder einzelne sind. Kurz, man sieht, die traditionelle Allgemeinheitsverehrung kann nur als ein Stück verkehrter Sentimentalität, als eines der philosophischen Irrtümer, die durch Einseitigkeit der Betrachtung bedingt sind (BACONs  idola specus ),  betrachtet werden.

Nichts kann als das Selbe aufgefaßt werden, ohne zugleich in einem neuen psychischen Zustand erfaßt zu werden. - Nach dem was gesagt wurde, erscheint dieser Zusatz überflüssig. So ist mein Lehnstuhl eines von den Dingen, von welchen ich einen Begriff habe; ich hatte gestern ein Wissen von ihm und erkannte ihn heute wieder, als ich ihn sah. Aber wenn ich heute an ihn denke als an denselben Lehnstuhl, den ich gestern gesehen habe, so ist natürlich das Denken als an denselben etwas was zu dem Denken an ihn hinzukommt, dieses Denken kompliziert und folglich seine innere Konstitution verändert.

Kurz, es ist logisch unmöglich, daß dasselbe Ding als das gleiche erfaßt werden kann durch zwei sukzessiv auftretende Kopien desselben Gedankens. Außerdem zeigt uns die Erfahrung, daß die Gedanken, durch welche wir wissen, daß wir das nämliche Ding meinen, Eigenschaften haben, durch die sie sich tatsächlich beträchtlich voneinander unterscheiden. Wir denken das Ding bald substantivisch, bald transitivisch (übergehend), bald in einem unmittelbaren Bild, bald in diesem, bald in jenem Symbol; aber nichtsdestoweniger wissen wir stets, welchen von allen möglichen Gegenständen wir im Sinn haben.

Die introspektive Psychologie muß hier nachgeben. Die Schwankungen des subjektiven Lebens sind zu fein, um mit ihren groben Ausdrücken beschrieben zu werden. Sie muß sich darauf beschränken, die Tatsache zu konstatieren, daß die allerverschiedensten subjektiven Zustände den Träger bilden können für den Gedanken an das Nämliche; und so muß man eine Theorie, die dies bestreitet, zurückweisen.
LITERATUR - William James, Psychologie, Leipzig 1920