ra-4Wie wir arbeiten und wirtschaften müssen    
 
JOHN RUSKIN
Gute Bücher und gute Leser

"...daß Spitzbüberei und Lügen unzulässig sind und sofort aus dem Wege gepeitscht werden sollen, sobald sie entdeckt werden..."

Du könntest, wenn du dazu lange genug lebtest, alle Bücher im britischen Museum lesen und ein vollständig "ungelehrter", ungebildeter Mensch bleiben; aber wenn du zehn Seiten eines guten Buches, Buchstabe für Buchstabe, - d.h. mit wirklicher Genauigkeit liest, bist du auf immer ein einigermaßen gebildeter Mensch. Der ganze Unterschied zwischen Bildung und Nichtbildung besteht, sofern er den rein geistigen Teil betrifft, in dieser Genauigkeit. Ein gebildeter Mann mag nicht viele Sprachen kennen, nur seine eigene zu sprechen imstande sein, und nur sehr wenig Bücher gelesen haben. Aber die Sprache, die er kennt, kennt er genau; jedes Wort, das er ausspricht, spricht er richtig aus. Vor allem ist er über den  A d e l  der Wörter unterrichtet; kennt mit einem Blick die Wörter echter Abstammung und alten Blutes auseinander von den Wörtern moderner Canaille; erinnert sich ihrer ganzen Ahnenreihe, ihrer Wechselheiraten, entfernten Verwandtschaften und des Umfanges, in welchem sie zugelassen wurden, der Ämter, welche sie unter dem nationalen Adel der Wörter zu jeder Zeit und in jedem Lande innehatten. Aber ein Ungebildeter mag gedächtnismäßig viele Sprachen können, sie alle sprechen und doch in Wahrheit kein Wort davon kennen, nicht einmal ein Wort von seiner eigenen Sprache. Jeder vernünftige Seemann wird imstande sein, sich am Lande in den meisten Häfen fortzuhelfen und braucht doch nur einen Satz in irgend einer Sprache zu sagen, um als ungebildet erkannt zu werden; ebenso bezeichnet die Aussprache und Ausdrucksweise eines einzigen Satzes sofort den wirklich Gebildeten.

Ein Wort eines Schriftstellers nach dem andern untersuchen, das wird mit Recht "Lesen" genannt; jede Betonung und jeden Ausdruck beobachten, uns selbst in den Verfasser hineinversetzen, unsere eigene Persönlichkeit vernichten und in die seine einzugehen suchen, so daß wir imstande sind, mit Sicherheit zu sagen "So dachte MILTON" und nicht "So dachte  i c h , als ich MILTON schlecht las". Auf diese Weise wirst du allmählich dahin kommen, deinem eigenen "So dachte ich" ein anderes Mal weniger Gewicht beizulegen. Du wirst anfangen einzusehen, daß, was  d u  dachtest, nicht von ernster Wichtigkeit war, daß deine Gedanken über irgend einen Gegenstand vielleicht nicht die klarsten und weitesten sind, die man darüber haben kann; ja, daß, wenn du nicht eine ganz merkwürdige Person bist, man nicht von dir sagen kann, daß du überhaupt "Gedanken" hättest, daß du in einer ernsten Sache keinen Stoff dazu hast; - kein Recht, zu "denken", sondern versuchen mußt, mehr aus den Tatsachen zu lernen. Höchst wahrscheinlich wirst du in deinem ganzen Leben (wenn du nicht, wie ich sagte, eine sehr merkwürdige Person bist) kein gesetzliches Recht zu einer Meinung über irgend ein Geschäft haben, dasjenige ausgenommen, was du gerade unter Händen hast. Du kannst ohne Frage immer ausfindig machen, wie du, was mit Notwendigkeit geschehen muß, zu tun hast. Hast du ein Haus in Ordnung zu halten, eine Ware zu verkaufen, ein Feld zu pflügen, einen Graben zu reinigen? Über solches Verfahren sind nicht zwei Meinungen nötig; es geht auf deine Gefahr, wenn du nicht über die Weise, solche Sachen zu handhaben, viel mehr als eine "Meinung" hast. Auch außerhalb deiner Geschäfte gibt es ein oder zwei Dinge, über welche du eine Meinung zu haben verpflichtet bist. Daß Spitzbüberei und Lügen unzulässig sind und sofort aus dem Wege gepeitscht werden sollen, wann sie entdeckt werden; daß Begehrlichkeit und Streitsucht selbst in Kindern gefährliche, in Männern und Völkern tödliche Anlagen sind; daß, schließlich, der Gott Himmels und der Erde tätige, bescheidene und gütige Leute liebt und die trägen, stolzen, gierigen und grausamen haßt; - über diese allgemeinen Tatsachen sollst du nur eine und eine sehr starke Meinung haben. Im übrigen wirst du finden, daß du, was Religionen, Verfassungen, Wissenschaften, Künste betrifft,  n i c h t s  wissen, nichts beurtheilen kannst, selbst wenn du ein recht gebildeter Mensch bist, ist, still zu schweigen, dich zu bemühen, täglich weiser zu werden und etwas mehr von den Gedanken anderer zu verstehen; sobald du das redlich zu tun versuchst, wirst du entdecken, daß die Gedanken auch der Weisesten wenig mehr sind, als angemessene Fragen. Die Schwierigkeit klar zu gestalten und dir die Gründe zu Unentschiedenheit darzustelen, ist meistens alles, was sie für dich tun können; wohl ihnen und uns, wenn sie wirklich imstande sind, "Musik mit unsern Gedanken zu vermischen und uns mit himmlischen Zweifeln zu betrüben."

Es gibt zwei Klassen von Büchern, Bücher der Stunde und Bücher aller Zeit. Das ist nicht nur ein Unterschied der Qualität. Es ist nicht lediglich das schlechte Buch, das sich nicht hält und das gute, das dauert. Es ist ein Unterschied der Art. Es gibt gute Bücher der Stunde und gute Bücher aller Zeit; schlechte Bücher der Stunde und schlechte Bücher aller Zeit.

Das gute Buch der Stunde, - von den schlechten spreche ich nicht, - ist einfach das für dich gedruckte nützliche oder angenehme Gespräch eines Menschen, mit dem du dich sonst nicht unterhalten kannst. Sehr nützlich, sagt es dir, was du nötig wissen mußt; sehr angenehm oft, wie eines verständigen Freundes gegenwärtige Rede. Diese heiteren Reiseberichte, gutlaunigen und witzigen Erörterungen einer Frage, lebhaften oder rührenden Erzählungen, die gewissenhaften Aufzeichnungen derer, die handelnd in der Geschichte ihrer Zeit stehen, - lauter Bücher der Stunde, die sich mit dem Allgemeinerwerden der Bildung unter uns isa vermehren und ein der Jetztzeit eigentümlicher Besitz sind: wir sollten aufrichtig dankbar für sie sein und uns aufrichtig schämen, wenn wir keinen guten Gebrauch von ihnen machen. Wir machen aber möglichst schlechten Gebrauch von ihnen, wenn wir zulassen, daß sie sich widerrechtlich den Platz wirklicher aneignen; denn, genau genommen, sind sie überhaupt keine Bücher, sondern nur Briefe oder Zeitungen in gutem Druck. Unseres Freundes Brief mag heute erfreulich und nötig sein; ob er des Aufhebens wert ist oder nicht, bleibt zu erwägen. Die Zeitung mag zur Frühstückszeit ganz angemessen sein, sicherlich nicht als Lektüre für den ganzen Tag. Ebenso darf der lange Brief (obwohl er zu einem Band zusammengebunden ist), der dir so unterhalten von den Wirtshäusern, den Wegen, dem Wetter, wie es letztes Jahr an dem und dem Orte war, berichtet, oder dir jene ergötzliche Geschichte erzählt oder dir die wirklichen Umstände der und der Begebenheit angibt, wie wertvoll er auch zu gelegentlichem Nachschlagen sein mag, nicht im eigentlichen Sinne ein "Buch" sein, noch im eigentlichen Sinne "gelesen" werden. Ein Buch ist wesentlich kein sprechendes, sondern ein geschriebenes Ding, geschrieben nicht im Hinblick auf bloße Mitteilung, sondern auf Fortdauer. Das Plauderbuch wird nur gedruckt, weil sein Verfasser nicht zu Tausenden auf einmal sprechen kann; könnte er das, so würde er es tun; - ein  s o l c h e s  Buch ist bloße  V e r v i e l f ä l t i g u n g  seiner Stimme. Du kannst nicht mit deinem Freund in Indien sprechen; du würdest es tun, wenn du könntest; statt dessen schreibst du ihm: das ist lediglich verschicken der Stimme. Aber ein Buch wird geschrieben, nicht um die Stimme zu vervielfältigen oder sie fortzutragen, sondern um sie zu verewigen; der Verfasser hat etwas zu sagen, das er als wahr und nützlich oder hilfreich schön ansieht. Soviel er weiß, hat es noch keiner gesagt; soviel er weiß, kann es kein andrer sagen. Er ist verpflichtet, es zu sagen, schön und klar, wenn er kann; klar auf jeden Fall. In der Gesamtheit seines Lebens ist ihm dies Ding, diese Gruppe von Dingen offenbar geworden; - dies, das Stück wahren Wissens oder Sehens, das zu ergreifen ihm sein Anteil an Sonnenschein und Erde erlaubten. Er möchte es gern auf immer niederschreiben, in den Fels hineinmeißeln, wenn er könnte und sagen: "Das ist mein Bestes; im übrigen aß und trank und schlief, liebte und haßte ich, wie die andern. Mein Leben war wie der Dampf und ist nicht mehr; aber dies sah und wußte ich; wenn etwas an mir, ist dies eures Gedenkens wert." Das ist sein "Schreiben"; in seiner kleinen, menschlichen Weise und je nach dem Grade, in dem göttliche Eingebung in ihm ist, ist es seine Schrift, seine "heilige Schrift". Das ist ein  BUCH. 

Vielleicht meinst du, so wären niemals Bücher geschrieben? Ich frage dich, glaubst du überhaupt an Redlichkeit und Güte, oder denkst du, es sei nie Redlichkeit und Wohlwollen in weisen Menschen gewesen? Hoffentlich ist niemand von uns so unglücklich, das zu denken. Gut, was in der Arbeit eines weisen Menschen redlich und gütlich getan worden ist, ist sein Buch oder Kunstwerk. Es ist immer mit schlechten Bruchstücken vermischt, mit schlechter, überflüssiger, erkünstelter Arbeit. Aber wenn du recht liesest, wirst du leicht das Echte entdecken, und das ist das Buch.

Zu allen Zeiten sind Bücher dieser Art von den größten Männern geschrieben worden, von großen Lesern, großen Staatsmännern und großen Denkern. Sie stehen dir alle zur Wahl, und das Leben ist kurz. Du hast das vordem gehört; - hast du aber auch dies kurze Leben und seine Möglichkeiten ermessen? Weißt du, daß du, wenn du dieses liest, jenes nicht lesen kannst? - Das, was du heute verlierst, morgen nicht gewinnen kannst. Willst du hingehen und mit der Hausmagd oder dem Stalljungen schwatzen, wenn du mit Königinnen und Königen reden kannst? Oder bildest du dir ein, es vertrüge sich mit einem würdigen Selbstbewußtsein, dich mit der hungrigen und gemeinen Menge hier um Entree und da um Audienz zu stoßen und zu schieben, während dir unterdessen dieser ewige mit seiner Gesellschaft der Erwählten und Mächtigen, die so weit ist, wie die Welt, so zahlreich, wir ihre Tage, geöffnet ist? Dort magst du immer eingehen; magst Gesellschaft und Rang nach deinem Wunsche nehmen; von dort kannst du, wenn du einmal eingetreten bist, nie wieder ausgestoßen werden, es sei denn durch deine eigene Schuld; durch den Adel deiner Umgebung wird dort dein eigener angeborener Adel sicher erprobt und die Beweggründe, aus welchen du eine hohe Stellung in der Gesellschaft der Lebendigen einzunehmen strebst, werden auf ihre Wahrheit und Aufrichtigkeit hin an der Stellung gemessen, welche du in dieser Gesellschaft der Toten einzunehmen begehrst.

"Die Stellung, welche du begehrst" und die Stellung, für die du tauglich bist, muß ich hinzufügen; denn von jeder lebenden Aristokratie unterscheidet sich dieser Hof der Vergangenheit dadurch, - daß er der Arbeit und dem Verdienst, aber nichts anderem offen steht. Kein Reichtum besticht, kein Name schüchtert ein, keine Arglist täuscht den Wächter jener elysischen Tore. In tiefem Sinne, kein Niedriger oder Gemeiner tritt dort jemals ein. An der Tür jenes stillen Faubourg St. Germain wird nur die kurze Frage gestellt: "bist du wert, einzutreten?" Gehe ein. Willst du der Genosse der Edeln sein? So werde selbst edel. Verlangt dich nach der Unterhaltung der Weisen? Lerne sie zu verstehen und du sollst sie hören. Aber unter anderen Bedingungen? - nein. Wenn du dich nicht zu uns erheben willst, wir können nicht zu dir herabsteigen. Der lebende Lord kann ein höfliches Wesen annehmen; der lebende Philosoph kann dir seine Gedanken mit beträchtlicher Mühe erklären;  h i e r  wir nicht geheuchelt, noch gedeutet. Du mußt dich zu der Höhe unserer Gedanken erheben, wenn du durch sie erfreut sein, mußt unsere Gefühle teilen, wenn du unserer Gegenwart gewiß werden willst.

LITERATUR - John Ruskin, Menschen untereinander, Düsseldorf und Leipzig, ohne Jahr