tb-3ra-3Umgang mit KindernEin Unterrichtsprogramm der AS    
 
RACHEL M. LAUER
Allgemeine Semantik und Erziehung

Ich fragte sie: "Warum begann dieser Kampf?" "Er trat mich", schrie Billy. "Und was ging gerade vorher vor sich?", fragte ich. Beide starrten mich unverwandt an, und dann bot John dies an: "Vorher war ich zum Mittagessen zuhause."

Das System der öffentlichen Erziehung hat bis jetzt in seinem Lehrplan noch nicht eins der interessantesten Gebiete, die der Mensch kennt, aufgenommen - den Bereich des eigenen  inneren  Lebens; seiner eigenen Gefühle, Reaktionen und Wünsche. Es ist erstaunlich, wie sehr Lehrer von der Annahme ausgehen, daß alles, was zu lernen sich lohnt,  außerhalb  der menschlichen Haut liegt.

Geographie, Buchstabieren, Arithmetik und Lesen befassen sich damit, was draußen liegt. Die Welt im Inneren des Kindes, wenn sie überhaupt Beachtung findet, scheint wie ein Ärgernis betrachtet zu werden, wie etwas, das die Disziplin im Klassenzimmer und den Lernprozess beeinträchtigt. Der ideale Schüler sitzt still da und verleibt seinem Gedächtnis ein, was ihm geboten wird. Freilich lassen gute Lehrer ihn über den Gegenstand Fragen stellen, aber wehe dem Kinde, das tagträumt, auf einen anderen Gegenstand übergeht, sich zu lernen weigert oder seinen Willen gegen den des Lehrers stellt.

Von solch einem Kind wird angenommen, daß in seinem Kopf etwas nicht stimmt. Schick' es zum Psychologen und treibe ihm seine inneren Gedanken aus! Verlange vom Psychologen, es zurechtzusetzen, damit es sich an das wahre Geschäft der Erziehung machen kann - nämlich die Externas zu meistern. Solche Situation erinnert mich an einen alten Witz. Ein Lehrer bemerkt einen Schüler, der zum Fenster hinausstarrt. "Was tust du da?", fragte der Lehrer. "Ich denke nach", antwortete das Kind. "Nun", sagte der Lehrer, "hör auf nachzudenken und mach Dich an die Arbeit."

Die meisten Erzieher haben es nicht nur versäumt, sich unmittelbar und ehrlich mit dem Vorhandensein eines inneren Lebens im Menschenwesen auseinanderzusetzen, sie haben sogar indirekt oder direkt die Auffassung verbreitet, daß es für dich schlecht ist, dich mit dir selbst zu beschäftigen. Sie sagen, "beschäftige dich mit lohnenden Aufgaben, und du wirst vorankommen."

Nach meiner Erfahrung haben sich Erzieher erfolgreich vor der großen Anzahl von Einsichten geschützt, die aus dem Felde der Psychoanalyse erwachsen sind. Freuds Begriffe, wie das Unbewußte, das Es und das Ego, scheinen für einen Durchschnittslehrer beinahe mystisch, ja verwirrend zu sein. Der Nachdruck, den JOHN DEWEY darauf legt, daß die Erziehung mit der persönlichen Erfahrung des Kindes integriert werden, scheint vielen Erziehern bestenfalls auf abwegigem, philosophischem Geschwätz oder schlimmstenfalls auf einem Glauben an Anarchie und Chaos beim Kind zu beruhen.

Ich möchte Ihnen jetzt illustrieren, warum ich glaube, daß das Versäumnis von Lehrern, das Bewußtsein (awareness) ihrer Kinder ihres inneren und interpersonalen Lebens anzuerkennen und zu entwickeln, außerordentlich ernste Folgen für Individuen und für die Zivilisation hat. Dann möchte ich erklären, warum meiner Meinung nach die Grundsätze der  Allgemeinen Semantik  für Erzieher annehmbar sein und dazu beitragen könnten, diesem schweren Mangel abzuhelfen.

Obwohl  Allgemeine Semantik  unendlich viel zu bieten hat, werde ich diese Diskussion darauf beschränken, zu illustrieren, wie zwei Hauptideen der  Allgemeinen Semantik  auf die Erziehung angewandt werden könnten.
  • Der Mensch hat die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken (self-reflexiveness), und
  • die Menschen sind unauflöslich voneinander abhängig (inextricably interdependent).
Vor zwei Wochen nahm ich an einem intensiven Kurs über "Wie wird man mit Konflikten fertig?" teil, der vom  National Training Laboratory  in Bethel/Maine veranstaltet wurde. Es gab dort so viele aufregende Vorfälle, daß ich sie in diesem Vortrag verwerten möchte. Alle Teilnehmer waren hochgebildete Erwachsene im mittleren Lebensalter und kamen aus führenden Positionen in der Erziehung, Industrie, in der Geschäftswelt, in der Religion usw.

Jeder kam mit dem ausgesprochenen Wunsch zu lernen, wie man Konfliktsituationen analysiert, um neue Forschungsergebnisse kennenzulernen,und alle hofften, ein theoretisches Modell bei sich zu entwickeln, um sich durch Konflikte zuhause und im Beruf durchzuarbeiten. Man bot uns zwei Arten von Trainings-Erfahrungen. Die eine wurde T-Gruppe genannt, in welcher kleine Gruppen von Individuen mehrere Stunden am Tage darauf verwendeten, zu beobachten, welche Gefühle sie sich selbst und anderen gegenüber hatten.

Die zweite Gruppe hielt vorbereitete theoretische Seminare über Begriffe der Konfliktdiagnose und deren Heilung ab. Welchen Typ von Erfahrungen zogen die meisten Teilnehmer vor? Ganz überwiegend zogen wir die T-Gruppe vor, in der wir die höchst aufregende Erfahrung machen konnten, unsere persönlichen Probleme und unsere Reaktionen aufeinander zu erforschen.

Jedesmal, wenn das Programm der T-Gruppe unterbrochen wurde durch eine Vorlesung über  Begriffsbildung  (conceptualization), waren viele Leute ärgerlich und irritiert. Schlimmer noch, wenn wir in die Theorie-Vorlesungen kamen, hörten wir nicht zu oder konnten nicht zuhören, woraufhin wir uns später beklagten, daß die theoretischen Vorlesungen zu langweilig seien. Wir hatten hier also eine Situation, in welcher Leute zusammenkamen, die anscheinend davon bewegt waren, auf einer Begriffsebene zu lernen, deren Interesse an Selbsterkenntnis überwältigend war, was sogar soweit ging, daß sie das Interesse an den Begriffen verloren.

Gegen Ende der zweiten Woche jedoch, nachdem wir von unserer Beschäftigung mit uns selbst reichlich genug hatten, begann das Interesse an den Theorie-Vorlesungen wieder zurückzukehren. Man könnte es pervers nennen, daß viele von uns am Ende des Kurses sich darüber beklagten, wir hätten nicht genüg Theorie-Vorlesungen gehabt.

Für mich war diese Erfahrung im Prinzip das gleiche Phänomen, das ich oft in gewöhnlichen Klassenzimmern bei Kindern beobachtete. Stellen Sie sich einmal vor, Sie beobachteten einen Lehrer, der mit den Kindern hart an einer mathematischen Aufgabe arbeitet. Nun wird der Lehrer aus der Klasse herausgerufen. Was tun die Kinder? Sie ergreifen schnell die Chance, das zu tun, was sie wirklich tun möchten. Sie beginnen, sich miteinander abzugeben und nutzen zusammen ihre gestohlenen Augenblicke mit schuldbewußter Freude aus.

Andererseits habe ich einige Klassengemeinschaften kennengelernt, denen die Annahme zugrunde gelegt worden war, daß Schüler Menschen sind, Menschen mit inneren Bedürfnissen und die viele Gelegenheiten für interpersonale Handlungen und Reaktionen haben müssen. In solchen Klassen sind die Kinder besser fähig, an ihren Aufgaben zu bleiben, trotzdem der Lehrer abwesend ist.

Es erhob sich die Frage, "in welchem Ausmaße schadet die Leugnung unseres Erziehungssystems, daß es notwendig sei, die interpersonalen Beziehungen zu erforschen, tatsächlich dem an meisten genannten Schulziel, welches darin besteht, das Denkvermögen zu entwickeln?" Ich nehme an, daß wir dadurch, daß wir einen Teil der Wirklichkeit des Kindes leugnen, die volle Funktionsfähigkeit seiner übrigen Teile blockieren könnten. Wer vermag zu sagen, zu welcher Höhe der menschliche Intellekt gelangen könnte, falls er vollkomen mit emotionalem und sozialem Bewußtsein (awareness) integriert wäre?

Möglicherweise verkrüppelt unser gegenwärtiges System die Leistungsfähigkeit eines Kindes bei Dingen sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner Haut, und diese Verkrüppelung kann während seines Erwachsenseins andauern, Auf diesen Gebieten müßte noch viel geforscht werden.

Schon lange haben die Befürworter einer nicht-autoritären Form der Erziehung hier eine nachdrückliche Forderung erhoben. Sie argumentieren, daß die Beschäftigung mit zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig ist, um eine demokratische Gruppen-Struktur zu erreichen, die für produktive Arbeit notwendig ist. Dieser Appell war nich sehr wirkungsvoll.

Manche Lehrer glauben, sie könnten Kinder dazu bringen, ausreichend produktiv zu arbeiten, ohne sich die Mühe zu machen, demokratische Verhaltensmuster (interaction-patterns) auszubilden. Dann gibt es weiter die Mental-Health-Sachverständigen, zu denen ich gehöre, die argumentieren, daß Selbsterkenntnis notwendig für eine gute Gesundheit sei und daß Unterdrückung und Verdrängung später zu emotionaler Erkrankung führen.

Erzieher stehen diesem Argument einigermaßen sympathisch gegenüber; deshalb stellen sie Psychologen, Psychiater und Fürsorger an, um diejenigen Kinder heilen zu helfen, bei denen Anzeichen emotionaler Erkrankung auftreten. Einige wenige Schulen gingen sogar so weit, im Lehrplan ein oder zwei Kapitel über Mental Health aus einem Hygienebuch aufzunehmen. Einige höhere Schulen bieten sogar besondere Kurse über  Human Relation  an. Der Kurs besteht dann solange, bis ihn eine Institutsgruppe als Humbug bezeichnet, - und dann weg mit ihm!

So kommt es, daß in der großen Mehrzahl unserer Schulklassen immer noch die innere Welt verworfen wird. Nun erhebt sich die Frage, was gibt es auf dem Gebiete der Allgemeinen Semantik, das Erzieher dazu bringen könnte, die Wichtigkeit der inneren Welt anzuerkennen? Wie ich sehe, nimmt die  Allgemeine Semantik  einfach an, daß die innere Welt ebenso gewiß existiert, wie die äußere Welt existiert, und daß die beiden Welten sich kaum voneinander trennen lassen und daß die Leugnung des Vorhandenseins irgend eines Aspektes des menschlichen Seins irrational und unwissenschaftlich sei.

Nichts macht auf uns Erzieher einen so tiefen Eindruck wie die offenbare Notwendigkeit, besonders heute, rational und wissenschaftlich zu sein. Überdies propagiert die  Allgemeine Semantik  nicht, was in jener inneren Welt vor sich gehen  sollte,  oder was mit ihr geschehen müsse, und sie schreibt keine Werturteile darüber vor, was gut oder schlecht sei, wodurch den Erziehern eine weitgefürchtete Auseinandersetzung erspart bleibt.

Vielleicht noch überzeugender, glaube ich, ist die Entdeckung, daß viel von dem, was in der sogenannten inneren Welt vor sich geht, Sprache ist. Einen erheblichen Teil der Zeit sprechen wir mit uns selber. Wir erzählen uns alle möglichen Sachen, die vom Realistischen bis zum Lächerlichen reichen, und wir antworten auf unser inneres Gespräch mit entsprechenden Emotionen und Handlungen. Nun, wenn es Sprache ist, was in den Köpfen der Leute vor sich geht, dann gehört das sicherliche in die erzieherische Provinz, und sei es nur, um sicher zu gehen, daß die Grammatik stimmt. Und Erzieher sind traditionell, intensiv daran interessiert, Kindern die Kunst der Kommunikation beizubringen.

 Allgemeine Semantik  stellt ein Modell für den Kommunikationsprozeß zur Verfügung, das, falls angewandt, nicht nur eine größere Selbsterkenntnis, sondern auch bessere Aufsätze und Rezitationen zur Folge haben könnte. Die Anwendung des Modells der Allgemeinen Semantik erfordert die Kenntnis des einzigartigen Input-Apparates jedes Individuums, seines Abstrahierungssystems, seiner Symbolwahl, sodann die Kenntnis desselben beim Empfänger seiner Kommunikationen. Dies alles erscheint höchst wünschenswert. BERGERs und LIVINGSTONs Untersuchungen (Unveröff. Diss. NY) haben bereits bewiesen, daß Training in Allgemeiner Semantik, selbst ohne Grammatikunterricht, eine bedeutende Verbesserung im englischen Aufsatz und der Fähigkeit, kritisch zu lesen, zur Folge haben kann.

Als klinischer Psychologe würde ich jedoch sagen, daß der Gewinn, der aus der Einstellung der Allgemeinen Semantik zum Kommunikationsprozess zu erwarten ist, in weit mehr besteht als in besseren Aufsätzen und Rezitationen. Bei dem Kurs über die Bewältigung von Konflikten, von dem ich vor einigen Minuten sprach, wurde ich von dem Ausmaß menschlichen Elends tief beeindruckt, das auf eine extreme Schwäche zurückzuführen ist, miteinander in Kommunikation zu treten.

So viele Leute beklagen sich: "Ich kann ihn einfach nicht erreichen", und das war genau der Fall. Ich erinnere mich besonders an einen Fall, in dem eine Frau namens Susanne ihrer Bekannten Betty ihr Gefühl der Schwäche, Isolierung und Einsamkeit beschrieb, das sie nach dem Tod ihres Gatten überfiel. Bettys Erwiderung war: "Wo lebtest Du zu der Zeit?" So gefühllos war diese Antwort, daß andere, die dabei waren, sie fragten, ob die Erzählung, die sie eben gehört habe, in ihr nicht irgend ein Gefühl geweckt habe. "Nein", sagte sie, "ich wollte nur wissen, in welcher Stadt sie lebte." Dann fragte man sie: "Hast du bemerkt, welche Wirkung Deine Antwort auf Susi machte?" "Nein", antwortete sie, "Susanne hat keinen Grund gehabt, irgendwie besonders auf eine reine Bitte um Information zu reagieren. Warum verstehen mich die Leute immer falsch. Ich sage niemals etwas, um die Leute zu verletzen, doch kann ich mir keine Freunde erhalten. Was ist eigentlich mit mir los?"

Ein Pfarrer enthüllte, daß er in seiner Pfarrei während dreißig Jahren die Leute beraten habe, aber unfähig gewesen sei, irgendwelche echte Kommunikation mit seiner eigenen Frau zu haben. Seine Frau, die so verzweifelt war, daß sie sich fast hätte scheiden lassen, zwang ihn, zu einer Eheberatungsstelle zu gehen. Der Pfarrer sagte, ihm sei dort die Tatsache aufgegangen, daß er einfach nicht wisse, was er über wichtige Angelegenheiten denke, und daß er oft schlecht urteilen könne, was andere empfinden, und daß er bei seinen Verhandlungen mit Leuten meist die zentralen emotionalen Anlässe außer acht lasse. Diese Entdeckung war für ihn derart verheerend, daß er kurze Zeit geistesgestört wurde ... Zum Glück folgten auf diesen Zusammenbruch drei Jahre harter Arbeit, bei der es ihm und seiner Frau gelang, über sich selbst genug zu lernen, um ein angemessenes Gefühl der Verbindung zwischen ihnen zustande zu bringen.

Zwei Leute unserer Gruppe wurden derart ärgerlich aufeinander, daß es fast zu handfesten Schlägereien gekommen wäre. Jeder der beiden sagte, daß er den anderen völlig ablehne. Peter verachtete Bill, weil der, wie er sagte, ein gefühlloser Klotz sei, der trotz seiner völligen Unwissenheit, was in den Leuten um ihn herum vorginge, sich berechtigt fühle, ihnen zu sagen, was sie tun sollten. Bill war über Peter wütend wegend dessen, wie er sagte, dummen Witzen, rätselhaften Bemerkungen, wegen seiner Weigerung, einfachen Ratschlägen zu folgen, und weil er nur so mit Zitaten und Philosophiebrocken um sich werfe, von denen sonst noch niemand etwas gehört habe.

Nach eingehender Analyse wurde uns allen klar, daß die beiden Männer auf sehr verschiedenen Ebenen der Komplexität dachten, Keiner von beiden war sich anfangs klar darüber, wie verschieden Menschen sein können. Jeder wünschte den anderen so zu formen, wie es seinem eigenen Bedürfnis entsprach. Schließlich, nach mühevoller Erforschung, war jeder in der Lage, seinen eigenen Stil zu erkennen, denjenigen des anderen wahrzunehmen und darin übereinzustimmen, die Verschiedenheiten zu respektieren.

Ich behaupte nun, daß es eine geringe Beobachtungsgabe für interpersonale Prozesse, die eine Wirkung einer Neurose sein  kann,  häufiger noch die Wirkung einer unfruchtbaren Erziehung ist. Ebenso wie ein Kleinkind nicht zwischen einem Spatzen und einer Ente unterscheidet, bis es auf einige Unterschiede hingewiesen wird, so kann der Mensch auch nicht automatisch zwischen seinen Gefühlen der Eifersucht und Furcht, Ärger und Angst differenzieren. Dies lernt er erst mit der Praxis. Und dem Bemühen, es zu lernen, muß Wichtigkeit und Sorgfalt beigelegt werden.

Muß ich hinzufügen, daß ein Training in Selbsterkenntnis weit mehr umfaßt, als Gefühlsschattierungen zu unterscheiden? Sogar ein kleines Kind mit seiner Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist fähig, über sein eigenes Empfindungssystem zu lernen, sein unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegendes Empfindungsvermögen, seine intuitiven Wertungen, seine Träume und sogar seine außersinnlichen Empfindungen zu beobachten. Es kann dasjenige erlernen, was wir den Filtrierungsprozeß nennen; das heißt, seine eigenen Bedürfnisse, Ziele, Glaubensinhalte und Haltungen. Ohne Zweifel kann es etwas über die Sprache und deren Gebrauch erlernen, wenn es abstrahiert und symbolisiert, was in ihm vorgeht.

Im vergangenen Jahr hatte ich die Gelegenheit, mit Fünftklässlern zu arbeiten und Erstklässler zu beobachten. Ich bemerkte, daß die Kleinen sagen konnten, wann sie glücklich waren oder es ihnen schlecht ging - das war jedoch nahezu alles. Ohne Übung empfanden sie häufig Ärger, wo Furcht angemessener gewesen wäre, oder sie waren nur unbestimmt "aufgeregt", wenn sie in Situationen gestellt wurden, die normalerweise Neid oder Aggressivität hervorrufen. Die Fünftklässler waren nur wenig nachdenklicher über ihre Gefühle. Beide Gruppen Kinder gingen mit Freude und gut auf das Training in diesen Gebieten ein.

Ich hatte das größte Vergnügen daran, die Fünftklässler zu lehren, zu bemerken, daß zwischen Leuten Ereignisse in Ketten oder Folgen vor sich gehen. Zum Beispiel mußte ich einmal zwei Buben trennen, die im Begriff waren, aufeinander loszugehen. Ich fragte sie: "Warum begann dieser Kampf?" "Er trat mich", schrie Billy. "Und was ging gerade vorher vor sich?", fragte ich. Beide starrten mich unverwandt an, und dann bot John dies an: "Vorher war ich zum Mittagessen zuhause."

Offensichtlich erinnerten sich die Buben wenig daran, was ihrem Kampf unmittelbar vorausging. Aber mit ein wenig Hilfe, wobei ich die Technik des Rollenspiels anwandte, erinnerten sie sich an die Abfolge. Die Buben wurden gewahr, daß, bevor Billy John getreten hatte, John Billy herausgefordert hatte. Dieser Herausforderung war vorausgegangen, daß John beobachtet hatte, wie Billy einen Zettel einem Mädchen gab - Johns Mädchen! Und irgendwo in der Mitte waren Gefühle der Eifersucht, ebenso wie des Ärgers über das Mädchen, weil es über den Zettel kicherte.

Ich darf hinzufügen, daß die Buben, nachdem sie diese Abfolge der Ereignisse erkannt hatten, darüber lachen mußten, wie wenig angemessen ihre Fäuste waren, um mit ihrem Problem fertig zu werden. Gleichzeitig begann der Lehrer, der eine Neigung dazu hatte, die Jugendlichen mit der Frage zu konfrontieren: "Warum  tatest  du das?", und dann nichtssagende oder absurde Antworten erhielt, zu erkennen, welche Art Hilfe Kinder brauchen, um die Frage "warum?" beantworten zu können.

Ich zitiere die vorstehenden Beispiele nicht in erster Linie, um zu zeigen,  wie  Kinder gelehrt werden können - das ist ein anderes weites Feld -, sondern um ein Nachdenken darüber anzuregen, welch eine Art von Welt wir hervorbringen könnten, falls die Leute sich nur mehr der Ereignisabfolgen bewußt wären, die ihren Impulsen vorhergehen. In allzu weitem Ausmaße lebt der Mann auf der Straße in einer Narrenwelt, wenn er argumentiert: "Ich schlug ihn, weil er mich getreten hat", oder "Wir bombardierten sie, weil sie Abschußbasen errichteten", oder "Neger sollten nicht in Schulen für Weiße gehen, weil sie dumm sind."

Weiter würde ich gern ein Problem diskutieren, das die Menschheit plagt und das sich bisher einer Lösung oder Linderung widersetzt - das der Verbrechen und Unordnung unter uns selber. Die Kosten des Verbrechens und des ungesetzlichen Benehmens gehen in astronomische Summen. Die Kosten in Begriffen des Zusammenbruchs an menschlichem Vertrauen, Sicherheit und Mental Health scheinen unberechenbar zu sein. Kann irgend ein nachdenklicher
Mensch bezweifeln, daß der Erziehungsprozess auch das Ziel hat, ordentliche Bürger hervorbringen? Tatsächlich sollte dies vom Erziehungsprozess verlangt werden.

Die nächste Frage ist dann, ist es angesichts des erschreckenden Problems, das in der Gesellschaft existiert, möglich, daß
  • der Erziehungsprozess tatsächlich an diesen Zuständen (Verbrechen usw.)  schuld sein  könnte, und daß
  • die Erziehung Hilfe braucht, um mit diesem Problem fertig zu werden, und daß
  • hierzu die  Allgemeine Semantik  beitragen könnte.
Es ist meine Überzeugung, daß einer der wichtigsten Vorstellungen, die die  Allgemeine Semantik  anzubieten hat, die Vorstellung der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander ist. Wenn diese Auffassung in die Methodologie und in die Lehrpläne eingearbeitet werden würde, könnte dies von gewaltiger Bedeutung für die Entwicklung eines ehrenhaften und ordentlichen Bürgersinns werden.

Lassen Sie mich zunächst meine Wahrnehmungen darüber mitteilen, was Kinder über ethische Angelegenheiten denken. Beim Bemühen, herauszufinden, warum Kinder glauben, sie sollten "brav" und nicht "böse" sein, fragte ich viele von ihnen: "Warum glaubst du, daß sich die Menschen nicht verletzen sollten, daß sie nicht stehlen oder in den Straßen herumlungern sollten?" Beinahe alle Antworten könnten unter der Überschrift "Vermeidung von Strafe" zusammengefaßt werden. Sie sagten: "Weil man dich bestraft" oder "Jemand könnte dich dabei erwischen." Einige wenige sagten: "Du solltest diese Dinge nicht tun, weil sie nicht recht sind." Oder: "Meine Eltern lehrten mich, mich ordentlich zu benehmen." Teenager zitierten häufig die goldene Regel, d.h. was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andern zu. Oder sie gaben religiöse Verbote an, indem sie sagten: "Die Gesetze Gottes verbieten solches Benehmen."

Wie verhelfen Erzieher Kindern dazu, zu denken, wie sie denken? Wie sie wissen, dürfen Erzieher keine religiösen Vorstellungen vermitteln, aber es steht ihnen frei, vom Prinzip der Bestrafung und Belohnung Gebrauch zu machen. Für antisoziales Verhalten wird Kindern Strafe angedroht, und sie werden tatsächlich dafür bestraft. Man gibt ihnen auch häufig Gelegenheit zum Training im richtigen Verhalten, und oft übt die Gruppe einen Druck auf den einzelnen aus, sich konform zu verhalten. Lehrer bringen auf die eine oder andere Weise zum Ausdruck: "Niemand wird dich mögen, wenn du dich derart benimmst." Gelegentlich wird vom Begriff der Kooperation ausdrücklich gesprochen, wenn auch Lehrer mit dem Satz: "Ich möchte, daß du in der Gemeinschaft mitarbeitest" gewöhnlich meinen: "ich möchte, daß du gehorchst."

Aber das moderne Leben krankt immer noch am Verbrechen trotz der Macht der Eltern, des Lehrers, des Vorgesetzten, des Gesetzes oder Gottes, zu strafen, trotz der Wohlanständigkeit und der goldenen Verhaltensregel, trotz des Verhaltenstrainings. Ich behaupte, daß nichts von alledem allein ausreicht, um eine feste Grundlage für sittliches Verhalten abzugeben.
LITERATUR: Rachel M. Lauer, Allgemeine Semantik und die Zukunft der Erziehung, in "Wort und Wirklichkeit", Beiträge zur Allgemeinen Semantik, Hrsg. Günther Schwarz, Darmstadt 1968