Wenn wir zu den Grundlagen unseres Denkens vordringen und auf dem Weg dahin einem Ressentiment oder einem Wunsch begegnen, der es beeinflußt und verzerrt hat, so können wir diese Störungsquelle aus unserem Bewußtsein austreiben, unsere Ideen rektifizieren [berichtigen - wp] und unser Weltbild bereinigen. Dies ist nicht allzu schwierig, vorausgesetzt natürlich, daß wir die nötigen moralischen und psychologischen Eigenschaften besitzen - Ehrlichkeit, Bereitwilligkeit zur Selbstkritik, Respekt für die Wahrheit usw. Aber wenn wir noch weiter zu den wirklich letzten Voraussetzungen unseres Denkes hin vorstoßen, zu jenen Rahmenvorstellungen, innerhalb deren sich all unser geistiges Leben zu bewegen hat, und uns den vom sozialen Leben gegebenen Werttatsachen gegenüber finden, welche diese Rahmenvorstellungen bestimmen, dann können wir keine Operation dieser Art vornehmen. Wenn wir es versuchen würden, sie aus unserem Bewußtsein auszustoßen, so würde sich unser Wirklichkeitsbild einfach auflösen. Es würde in Stücke fallen und nichts davon übrigbleiben. Dies ist der Grund, warum die fundamentalen Denkgewohnheiten sich in der Geschichte als so stark erwiesen haben, und warum sie selbst dann Angriffen zu widerstehen vermochten, wenn sie wegen der ungerechtfertigten Verallgemeinerungen der in ihnen enthaltenen partiellen Wahrheiten mit Irrtum behaftet waren, ja selbst wenn sie in ihren Auswirkungen verderblich waren, wie z. B. die dem primitiven Denken zur Basis dienenden Prinzipien, die LÉVY-BRUHL als "gegen die Erfahrung geschlossen", d. h. von der Erfahrung unbeeinflußbar bezeichnet hat. Wenn sich der Primitive hartnäckig an sein pan-animistisches Weltbild klammert, trotz der in allen praktischen Dingen offenbaren Überlegenheit der Europäer, die ihm ihre eigene Weltauffassung aufdrängen wollen, so verteidigt er die tiefsten Grundlagen seines geistigen Universums, das Verständnis der Wirklichkeit, das er sich erarbeitet hat - ja, mehr als das, seine Überzeugung, daß es überhaupt verständlich ist. Er kämpft nicht gegen eine andere Denkstruktur (die ihm ja noch verschlossen ist), sondern gegen geistige Anarchie. Wir alle würden in der gleichen Lage ebenso reagieren. Das heißt nicht, daß wir für immer und ewig unserer ursprünglichen Sehweise versklavt sind, daß wir nicht über sie hinausschreiten können. Wir können es, obwohl es sehr, sehr schwierig sein wird - so schwierig wie jeder Wechsel von einem uns beherrschenden Gewohnheitssystem, sei es physisch oder geistig, praktisch oder intellektuell, zu einem anderen immer ist und auch immer sein muß. Ein Mensch kann einen Berg von zwei oder drei oder beliebig vielen Blickpunkten aus ansehen. Aber er kann ihn nicht von keinem Punkt aus ins Auge fassen. Wenn er seinen eigenen Gesichtswinkel verläßt, ohne einen anderen ganz oder teilweise dafür zu substituieren, so unterdrückt er die Möglichkeit, den Gipfel überhaupt zu erkennen. Ja, es ist nur eine gelinde Übertreibung zu sagen, daß er dann den Berg ganz und gar aus der Welt schafft.
LITERATUR - Werner Stark, Die Wissenssoziologie, Stuttgart 1960