ra-2T. GrigoroviciI. RubinK. Marx    
 
RICHARD SCHUBERT-SOLDERN
Nochmals zu Marx' Werttheorie

"Die Arbeit kann nur dazu da sein, um Gebrauchswerte zu schaffen. Trotzdem ist aber die Arbeit nicht Maßstab des Gebrauchswerts, denn der Gebrauchswert einer Sache ist individuell so verschieden, daß er keinen festen Maßstab zuläßt. Jedes Individuum hat einen anderen Maßstab und zu jeder Zeit einen verschiedenen Maßstab des Gebrauchswertes ein und derselben Sache. Der Gebrauchswert hat daher keinen allgemeinen Maßstab. Trotzdem ist das, was die Arbeit erzeugt, Gebrauchswert und dieser verleiht ihr in letzter Linie allen Wert."

In höchst scharfsinniger und klarer Weise hat MARX im "Kapital" seine Werttheorie entwickelt. Schon F. A. LANGE hat jedoch auf einen bedenklichen Punkt in ihr hingewiesen: es fehlt die Brücke vom Gebrauchswert zum Wert. Dieser "Wert" hängt bei MARX in der Luft. Allerdings gesteht er zu, daß sein Wertbegriff den Gebrauchswert voraussetzt, isoliert jedoch beide vollständig voneinander. Das Austauschverhältnis, in das zwei oder mehrere Waren zueinander treten, hängt wesentlich nicht vom Gebrauchswert ab, dennoch sind zwei Waren in dem Quantum, in dem sie gegeneinander ausgetauscht werden, einander gleich an Wert. Da dieser Wert nicht ihr Gebrauchswert ist, so müssen sie, um gleichgesetzt werden zu können, eine andere gemeinsame Qualität besitzen, durch die sie verglichen werden, weil nur qualitativ Gleiches quantitativ gleichgesetzt werden kann: fünf Äpfel können niemals fünf Nüssen gleichgesetzt werden, sondern immer wieder nur fünf Äpfeln. Außer dem Gebrauchswert haben aber Waren nur noch eine gemeinsame Eigenschaft - jene Arbeitsprodukte zu sein. Also gegeneinander ausgetauschte Waren sind gleich als Arbeitsprodukte, sie sind gleich, weil sie ein gleiches Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit darstellen und da Arbeit nur durch ihre Dauer gemessen werden kann, so sind Waren einander gleichwertig, wenn sie gleich große gesellschaftlich notwendige Arbeitszeiten zu ihrer Herstellung erfordert haben. Die Arbeit stellt aber nicht selbst einen Wert dar, sie verleiht nur Wert und ist zugleich Maßstab dieses Wertes. Wäre sie selbst, ansich schon etwas wert, dann müßte auch eine unnütze Arbeit, z. B. Kieselsteine ins Meer zu werfen, einen Wert haben. Das ist ungefähr der Gedankengang von MARX in seinem "Kapital", den ich nun einer kritischen Erörterung unterziehen will.

Der Grundfehler von MARX' Werttheorie scheint mir zu sein, daß er weder das Verhältnis des Gebrauchswerts zum "Wert", noch diesen selbst irgendwie bestimmt hat. Allerdings kann nichts Wert haben, was nicht nützlich ist, trotzdem hat aber der "Wert" mit dem Gebrauchswert nichts zu tun, er ist gänzlich ohne Einfluß auf ihn. Soll nun wirklich eine Bedingung  sine qua non  [ohne die es nicht geht - wp] des "Wertes" keinen Einfluß auf ihn haben? Schon das ist bedenklich, wenn auch ansich möglich. Aber noch mehr, der "Wert" selbst ist ja von MARX ganz unbestimmt gelassen; die Arbeit mißt wohl den "Wert", aber sie ist nicht der "Wert" selbst, sonst hätte die Zerstörung des von anderen Geschaffenen auch "Wert". Da nun der vom Arbeitsquantum gemessene Wert auch nicht der Gebrauchswert ist, so frage ich, wo ist dann der Wert, der durch die Arbeit gemessen wird?  Der Maßstab ist da, aber der Wert fehlt.  (1) Es wird etwas gemessen, das entweder gar nicht vorhanden ist oder das nicht namhaft gemacht wurde. Oder ist der "Wert", der durch die Arbeit gemessen wird, ansich ebenso gleichgültig wie der Gebrauchswert? Ist das allein Wichtige der Maßstab des Werts? Ist es nicht sehr sonderbar, daß MARX immer nur vom Maßstab des Werts spricht, nie vom Wert selbst, außer wo er, und das tut er sehr oft, den Maßstab als Wert selbst behandelt. Aber es ist auch sehr befremdend, wenn man vom materialistischen Standpunkt aus von einem Wert spricht, der nicht Wert für jemanden ist, denn der letzte kann nur Gebrauchswert sein. Worin soll sich der Wert einer Ware ansich offenbaren? Die in ihr enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit ist nur ein Maßstab des Werts, ihr Gebrauchswert ist nicht ihr Wert, wo steckt also ihr Wert ansich? Dieser Wert ist bei MARX nirgends zu finden, sondern nur sein Maßstab, die Arbeit. Hat es überhaupt einen Sinn, von einem Wert zu sprechen, der nicht Gebrauchswert, nicht Wert für irgendjemand ist? Man spricht allerdings von unbedingtem, absolutem Wert, aber man kann dmit doch nur einen Wert für jedermann, nicht einen Wert abgesehen von jedermann und seinen Bedürfnissen meinen. Die Werttheorie von MARX hat daher eine Lücke, wenn man die Sache möglichst milde benennen will. Wie kann diese Lücke ergänzt werden und wie kommt es, daß MARX trotzdem so hervorragendes in der Nationalökonomie leisten konnte? Beides soll hier erörtert werden.

Die Arbeit kann nur dazu da sein, um Gebrauchswerte zu schaffen. Trotzdem ist aber die Arbeit nicht Maßstab des Gebrauchswerts, denn der Gebrauchswert einer Sache ist individuell so verschieden, daß er keinen festen Maßstab zuläßt. Jedes Individuum hat einen anderen Maßstab und zu jeder Zeit einen verschiedenen Maßstab des Gebrauchswertes ein und derselben Sache. Der Gebrauchswert hat daher keinen allgemeinen Maßstab. Trotzdem ist das, was die Arbeit erzeugt, Gebrauchswert und dieser verleiht ihr in letzter Linie allen Wert. Suchen wir daher den Maßstab des Wertes, den die Arbeit abgibt, nicht in dem, was sie erzeugt (Gebrauchswert), sondern in dem, was sie nimmt. Hier ist gewiß, daß jede Arbeit, zumindest am Anfang, sowohl eine Quelle von Unlust wie von Entbehrung ist, deshalb arbeitet anfangs kein Kind gern. Nur Ehrgeiz, Hoffnung auf Belohung, Freude am Erfolg usw. machen Arbeit zur Lust; das sind aber Gefühle, welche die Areit in der Vorstellung begleiten, sie sind nicht die Arbeit selbst. Arbeit ist Unlust und nötigt oft auf Lust zu verzichten, sie ist also Quelle positiver und negativer Unlust. Für die Unlust aber, die ich durch meine Arbeit auf mich nehme, verlange ich eine Entschädigung in einer Lust, d. h. in einem Gut, das für mich mittelbar oder unmittelbar Gebrauchswert hat. Auch dieser Gebrauchswert besteht aus positiver oder negativer Lust, d. h. wirklicher Lust oder bloßer Abwehr von Unlust. Dieser Gebrauchswert bestand vor der Warenerzeugung in Gegenständen, die einer Gruppe von Personen, die ein wirtschaftliches Ganzes bildeten, gemeinsam gehörten; sie verzehrten die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit in ziemlicher Gleichberechtigung. Am Anfang der Warenerzeugung wurde das Arbeitsprodukt einer kommunistischen Gruppe oder eines einzelnen gegen fremde Arbeitsprodukte umgetauscht, die unmittelbaren Gebrauchswert für sie hatten. Hier wurde also die Unlust, welche die Erzeugung eines Gegenstandes erforderte, unmittelbar abgeschätzt und mit der Lust, welche der einzutauschende Gegenstand gewährte, ebenso unmittelbar verglichen. Hier war der Gebrauchswert (die positive Seite des Wertes) ebenso maßgebend wie der Arbeitswert (die negative Seite des Wertes). Das mußte anders werden, sobald eine Vermittlung eintrat: entweder dadurch, daß eine andere Ware oder daß sich Geld zwischen mein Arbeitsprodukt und den dafür einzutauschenden Gegenstand, der Gebrauchswert für mich hat, einschiebt; besonders wenn noch dazu kommt, daß auch für den andern mein Arbeitsprodukt keinen unmittelbaren Gebrauchswert hat. Dann wäre es notwendig, sich beim Tausch auf einen anderen Standpunkt zu stellen, weil jetzt für diesen nur die auf Erzeugung eines Gegenstandes verwendete Arbeit, das gesellschaftlich notwendige Arbeitsquantum maßgebend sein kann. Denn da ich nun nicht mehr unmittelbar den Gebrauchsgegenstand für mein Arbeitsprodukt eintausche, sondern nur ein Mittel, ihn künftig zu erwerben und meistens nicht einmal weiß, welchen Gebrauchsgegenstand ich für das Mittel künftig eintauschen werden, so kann ich den Gebrauchswert dieses Gegenstandes für micht nicht mehr unmittelbar abschätzen. Ich kenne aber immer noch die Mühe, die mich der von mir selbst erzeugte Gegenstand gekostet hat, den ich gegen anderes eintauschen will; ebenso kann der andere seine Unlust abschätzen, welche ihn die Erzeugung seiner Ware gekostet hat und vielleicht kenne ich diese sogar selbst. Da also die einzutauschenden Waren weder für mich noch für den andern einen unmittelbaren Gebrauchswert haben, so tritt auch der positive Wert der Waren gegen ihren negativen vollständig zurück. Aber auch damit ist noch kein brauchbarer Maßstab gewonnen. Dasselbe Quantum Arbeit hat vielleicht dem  A  mehr Unlust bereitet als dem  B.  Aber diese subjektive Anstrengung, diese Unlust ist nicht meßbar.  A  kennt sein Quantum Unlust und  B  das seinige, aber sie können sie nicht gegenseitig aneinander messen. Jeder weiß aber, wie lange er an seinem Gegenstand arbeitet - er kennt die für ihn zur Erzeugung eines Gegenstandes notwendige Arbeitszeit. Auch diese Arbeitszeit ist verschieden bei verschiedenen Individuen. Hier gilt aber die Tatsache, daß sich bei einer Kooperation diese Verschiedenheit schon bei wenigen Arbeitern ausgleicht; fünf Arbeiter sollen schon zusammen meistens das Durchschnittsquantum an Arbeit liefern, aus welchen Individuen man diese Zahl auch zusammensetzen mag (2). So gelangt man zur gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit als Maßstab des Wertes, aber man gelangt zu ihm nur auf Kosten der Vernachlässigung aller individuellen Verschiedenheiten, Anlagen, Bedürfnisse, ja nur mit vollständiger Hintansetzung des positiven Wertes (des Gebrauchswertes); der negative Wert (Unlust der Arbeit) wird alleiniger Wertmaßstab, nachdem man ihm alle Individualität abgestreift hat.

Aber eben diser gänzliche Mangel an Individualität des gesellschaftlichen Arbeitswertes oder richtiger Wertmaßstabs macht seine wirtschaftliche Anwendbarkeit aus und daß MARX das klar erkannt hat, darin liegt sein Verdienst und die Ursache der Erfolge seiner Kritik und Darstellung unseres Wirtschaftslebens; aber ebenso bildet es auch überall die Schattenseite seiner Darstellung, wo er nicht umhin kann, über den rein wirtschaftlichen Standpunkt (welchen er für den einzig wissenschaftlichen hält) hinauszugehen. In Handel und Verkehr ist es unmöglich, den Wert eines Gegenstandes nach individuellen Bedürfnisse und Beschaffenheiten zu messen; an seine Stelle tritt eine Art gesellschaftlichen Wertes imaginärer Art, hauptsächlich bestimmt durch die zur Erzeugung eines Gegenstandes gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Daß MARX seinen Wertbegriff nicht als einen imaginären erfaßt hat, daß er so gern vom "Wert" kurzweg wie von einem absoluten Wert spricht, darin liegt meiner Ansicht nach ein großer Fehler. Das treibende Motiv im Leben und daher auch im wirtschaftlichen Leben ist nicht jener Arbeitswert, sondern der unmeßbare subjektive Wert (der Gebrauchswert) mit seiner ganzen schillernden Individualität. Die individuellen Einwirkungen finden eine gesellschaftliche Resultante in der Nachfrage dem Angebot gegenüber. Angebot und Nachfrage drücken bald den Preis bestimmter Warenarten unter ihren Arbeitswert, bald steigern sie ihn darüber hinaus; sie müssen um so schwankender sein, je freier die individuelle Entwicklung der Gesellschaft ist. Auch in der sozialdemokratischen Gesellschaft müßte sich zwar die gesellschaftliche Produktion im allgemeinen nach der individuellen Nachfrage richten; die sozialdemokratische Organisation der Gesellschaft würde aber die Ausbildung individueller Bedürfnisse hemmen und auf ein Minimum herabdrücken. Die Arbeit ist also die Quelle aller volkswirtschaftlichen Werte (3), sie ist aber weder der Maßstab allen Wertes überhaupt, noch Wert ansich.

Was daher für das rein Volkswirtschaftliche Geltung hat, das braucht deswegen nicht Geltung für alle Verhältnisse des menschlichen Lebens zu haben und daher auch keine unbedingte Geltung für die Lösung der sozialen Frage. Der eigentliche Wert ist stets der Gebrauchswert, der Arbeitswert ist nur ein sehr unvollkommenes Hilfsmittel seiner volkswirtschaftlichen Berechnung und kann daher für das menschliche Glück, das stets ein individuelles ist, niemals allein maßgebend sein. Im Gebrauchswert, den die verschiedenen Warenarten für einen bestimmten Menschen haben, darin ist der ganze Charakter dieses Menschen ausgesprochen: seine Anlagen, seine Erziehung und Bildung, seine Stellung, alle seine Erfahrungen haben die individuellen Eigentümlichkeiten in diesem Gebrauchswert geschaffen; die allen Menschen gemeinsame Wertschätzung liegt nur in ihrer gemeinsamen psychischen und physischen Organisation. Diesen Gebrauchswert beiseite zu lassen, heißt daher all  das  beiseite lassen, was dem Menschen individuellen Wert verleiht und für ihn individuellen Wert hat. Der bloße Arbeitswert ist ein trauriges aber notwendiges Hilfsmittel für den wirtschaftlichen Verkehr, vernichtet aber als alleiniger Wertmaßstab alle Individualität. MARX ist ja allerdings materialistischer Geschichtsphilosoph, er geht von dem Gedanken aus, daß wirtschaftliche Verhältnisse die sittlichen und überhaupt alle kulturellen Verhältnisse hervorbringen. In der Theorie hat er in gewisser Hinsicht recht. Sowie die Wahrnehmungswelt die Ursache der Vorstellungswelt ist, so ist die materielle Kultur die Ursache der geistigen Kultur. Aber die Wahrnehmungswelt erzeugt die Vorstellungswelt, Empfindungen und Begehrungen und sie wird die Geister, die sie gerufen, nicht mehr los. Die Wahrnehmungswelt wird jetzt selbst beeinflußt von den Vorstellungen, vom Gefühl, vom Willen des Menschen; so wirkt auch die geistige Kultur, Sittlichkeit, Kunst und Wissenschaft auf die materielle Kultur ein. Allerdings für den Materialisten sind auch die Vorstellungen nur materielle Vorgänge im Gehirn; ich halte diese Ansicht für grundfalsch, jedenfalls nicht für erwiesen, aber sie ist auch praktisch gleichgültig: wenn die geistige Kultur eine Art materielle ist, nun dann steht diese "materielle Kultur" in Wechselwirkung mit der eigentlich materiellen, daß die geistige Kultur, mag sie nun ihrem Wesen nach was auch immer sein, von der materiellen verschieden ist und mit ihr in Wechselwirkung steht, kann nicht abgeleugnet werden.

MARX hätte vielleicht eingewendet, auch er halte den Arbeitswert (den er "Wert" nennt), nur für einen Maßstab im Warenverkehr der heutigen Gesellschaft (4); in der künftigen sozialdemokratischen Gesellschaft würde der Gebrauchswert an seine Stelle treten. Wenn das wirklich der Fall wäre, warum schalten die Sozialdemokraten dann bei der Beurteilung der sozialen Frage den Gebrauchswert vollständig aus? warum sprechen sie immer nur vom Arbeitswert und übersehen völlig gewisse Konsequenzen des Gebrauchswertes für die soziale Frage? Diese Konsequenzen will ich jetzt etwas zu beleuchten suchen.

Der augenblickliche Gebrauchswert kann oder eigentlich sollte keine große Rolle im menschlichen Leben spielen, auch wenn er sie tatsächlich spielt. Man könnte sonst den Grundsatz aufstellen, den Arbeiter so lange hungern zu lassen, bis das Brot für ihn den höchsten Gebrauchswert erlangt hat. Wäre das nicht nach der Ansicht gewisser Kreise der Bevölkerung eine herrliche Lösung der sozialen Frage? Je mehr der Arbeiter hungert, desto größeren Gebrauchswert hat das Brot für ihn, desto mehr muß ihn sein Genuß für die Unlust der Arbeit entschädigen. So allerdings darf man die Bedeutung des Gebrauchswertes nicht auffassen: nicht um den augenblicklichen Gebrauchswert handelt es sich, sondern um den Gebrauchswert des ganzen Lebens. Der Arbeiter muß für die Arbeit, die Unlust, die Entbehrungen seines Lebens Güter verlangen, die ihn auch für sein ganzes Leben entschädigen. Der Arbeitslohn muß eine Entschädigung des Arbeiters für das Leben bilden und ihn nicht bloß für Augenblicke sein Elend vergessen lassen, er muß daher nicht nur genügend, er muß auch beständig sein. Ein Arbeiter, der lange gehungert hat, wird gewiß gern für ein Spottgeld Arbeit leisten, große Arbeit leisten; sein kleiner Lohn wird ihm vielleicht sogar anfangs eine augenblickliche Befriedigung gewähren. Wird er aber dieselbe Befriedigung fühlen, wenn er tagaus, tagein, jahraus, jahrein für dieselbe schwere Arbeit denselben Spottlohn erhält? Allerdings, ist der Arbeiter auf einen gewissen Punkt des Elends herabgesunken, dann muß er so stumpfsinnig gegen Schmerz und Lust werden, wie ein Mensch überhaupt werden kann. Es ist dann vielleicht grausam, ihn aus seiner Stumpfsinnigkeit aufzurütteln, wenn man glaubt, ihm keine bessere Lage gewähren zu können, es ist aber jedenfalls ein Zeichen der gemeinsten Gesinnung, wenn man ihm helfen kann, ihn in dieser Stumpfsinnigkeit zu belassen. Heute ist der Arbeiter jedoch schon der Bewußtlosigkeit des Elends entrissen und was noch wichtiger ist, mit der Vergrößerung der Produktion und der Produktivität der Arbeit hat auch die Größe und die Mannigfaltigkeit seiner Bedürfnisse zugenommen. Die oberen Stände haben ihren Teil an der größeren Produktivität der Arbeit. Soll also nur der Arbeiter sparen? Durch den größeren Luxus der oberen Stände ist auch die Vorstellungswelt der Arbeiter zu neuen und größeren Bedürfnissen angeregt worden: ein absolut gleicher Lohn wie früher kann ihnen daher nicht mehr die alte Befriedigung gewähren, weil ihre Bedürfnisse größere und mannigfachere geworden sind, weil ihr  standard of life  ein anderer geworden ist. Das ist nicht zu verhindern (auch wenn man wollte), über die Gedanken hat keine Gewalt Macht und der Luxus der Reichen kann nicht im Verborgenen bleiben, man muß daher damit rechnen.

So wenig der augenblickliche Gebrauchswert eines Gutes in irgendeiner Beziehung Ausschlag gebend sein soll, so wichtig ist doch der dauernde Gebrauchswert der Güter, das durch sie erzeugte Maß der Lebensbefriedigung und ihr Verhältnis zur Unlust der Arbeit. Hier ist nun mancherlei zu erwägen. Dieselbe Arbeit enthält für verschiedene Individuen, zu verschiedenen Zeiten und für dasselbe Individuum, zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedendes Quantum Unlust. Ebenso wichtig ist die Qualität der Arbeit. Verschiedene Arbeiten haben für verschiedene Individuen ein sehr verschiedenes Maß der Unlust. Die Arbeit ist kein Wertmaß für das Leben, sondern nur ein Aushilfsmaß für das wirtschaftliche Leben, weil sie allein als Arbeitszeit ein genauer bestimmbares Maß abgibt. Deswegen fühlt sich der eine für dieselbe Arbeit durch Güter von geringerem Arbeitswert entschädigt als der andere. Um diese Befriedigung handelt es sich, nicht darum, daß jeder für seine Arbeit auch Güter von möglichst gleichem Arbeitswert erhält, sondern daß er für seine Arbeit Güter von einem ihn befriedigenden Gebrauchswert erhält. Auch diese Befriedigung kann nie eine absolute sein; es würde genügen, wenn jeder Mensch eine solche Befriedigung in seinem gegenwärtigen Zustand fühlen würde, daß der Gedanke an eine gewaltsame Änderung desselben ihm vollständig fern läge (5). Eine Unzufriedenheit, die ihn antreibt, seine Lage gesetzmäßig zu verbessern, muß jeder haben, soll nicht eine allgemeine Rückentwicklung eintreten. Ein solcher Zustand kann aber bestehen bei sehr verschiedener Lebenshaltung der einzelnen Glieder der Gesellschaft, weil nicht nur dieselbe Arbeit (der Quantität und Qualität nach) für jeden einen verschiedenen negativen Wert besitzt, sondern weil auch dasselbe Gut für verschiedene Menschen einen sehr verschiedenen Gebrauchswert hat. Dasselbe Guit hat sehr verschiedenen Gebrauchswert je nach der Anlage, Gewohnheit, Bildung dessen, der es besitzt und konsumiert. Daher muß der Arbeiter vollkommen entschädigt erscheinen, wenn er so viele und derartige Güter für seine Arbeit erhält, daß er in seiner Befriedigung (nicht in seinem Besitz) an die höheren Stände heranreicht. Wird bei den Arbeitern der Gebrauchswert ihrer Güter unterschätzt, so wird er bei den höheren Ständen überschätzt. Dem größeren Arbeitswert der Güter des Reichen entspricht nicht eine gleiche Steigerung ihres Gebrauchswertes für den Reichen. Die Lebensbefriedigung  kann  daher beim Reichen und beim Armen nahezu gleich sein bei sehr verschiedenem Arbeitswert der Güter, die sie konsumieren. Dadurch erscheint aber keineswegs gerechtfertigt, daß jemand ohne Arbeit viel besitzt und genießt. Allerdings, wo keine Arbeit, sondern nur Genuß vorhanden ist, ist die Befriedigung geringer, der Genuß wird dann durch mäßige Entbehrungen geschärft. Aber wenn das der Fall ist, dann erscheint es ja auch gerechtfertigt, darauf hinzuwirken, daß der Reiche arbeitet oder mehr arbeitet, damit er größere Befriedigung in seinem Genuß fühlt. Wenn der Millionär gegen alle Lebensgenüsse abgestumpft wird (schon dadurch, daß er sie mühelos haben kann noch vor allem Genuß), so tut man ihm eine Wohltat, wenn man ihn zur Arbeit zwingt, falls er es aus Mangel an Energie nicht freiwillig tut. Fordert Arbeit Genuß, so fordert Genuß auch Arbeit, man erweist also beiden eine Wohltat, wenn man dem Arbeiter mehr genuß und dem Reichen mehr Arbeit verschafft.

Auch das muß man zugestehen: kann es eine Gesellschaft geben, in der alle für ein möglichst gleiches Arbeitsquantum eine möglichst gleiche Befriedigung in Gütern von möglichst gleichem Arbeitswert finden, so ist diese gewiß ebenso zulässig, wie jede andere; sie kann und wird aber nur angestrebt werden, wenn sie ihren einzelnen Gliedern mehr Vorteile (in materieller und geistiger Beziehung) bietet, wie jede andere, oder wenn durch sie allein allen die möglichst größte Lebensbefriedigung geboten werden kann. Das wäre aber noch zu beweisen. es ist die Frage, ob nicht Ungleichheit sowohl in der Größe und Art der Arbeitsleistung als auch im Arbeitswert der durch sie erlangten Güter ein Erfordernis kultureller Entwicklung ist? ob nicht bei der großen Masse der Antrieb der Mittellosigkeit (nicht des Elends) zur Arbeit notwendig ist? ob die bloß psychischen und moralischen Triebfedern des gesellschaftlichen Ehrgeizes, des einsichtigen Egoismus einerseits und einer vernünftigen Menschenliebe andererseits den physischen Zwang der Mittellosigkeit ersetzen können? ob nicht weiter die durch die Verschiedenheit der Stände und der Lebenslage bewirkte Ungleichheit des Charakters, der Lebensanschauung und der Lebensgewohnheiten ebenfalls ein Erfordernis des kulturellen Fortschritts ist? ob nicht durch diese Verschiedenheit alleine lebendige Bewegung in der Gesellschaft erzeugt werden kann, eine stete Ausgleichung und Wiedererstehung von Gegensätzen? und ob nicht trotz alledem eine mögliche gleiche Lebensbefriedigung bei allen vorhanden sein kann? Aber auch wenn das letzte der Fall wäre, darf man sich der Einsicht nicht verschließen, daß heute diese Lebensbefriedigung beim größten Teil der Bevölkerung nicht vorhanden ist und daß sie nur bewirkt werden kann durch materielle und geistige Hebung der unteren Klassen. Auf die Dauer ist ein gesellschaftlicher Zustand unhaltbar, in dem der größte Teil der Gesellschaft zum Bewußtsein seiner unbefriedigenden Lage gekommen ist. In Herbeiführung einer materiellen und in demselben Maß auch geistigen Hebung der arbeitenden Klassen ist also jedenfalls die Lösung der sozialen Frage zu suchen. Ob diese nur dadurch gefunden werden kann, daß die oberen Klassen in ihrer Lebenshaltung herunterrücken müssen, damit die unteren Klassen hinaufrücken können und ob ein völliger Ausgleich der Lebenshaltung aller Bevölkerungsklassen von heute notwendig ist, erscheint damit noch nicht entschieden, wenn auch das letzte meine Meinung entschieden nicht ist.

Jedenfalls ist die soziale Frage so alt wie die höhere Kultur, nur auf ganz niederen Stufen der kulturellen Entwicklung ist sie nicht vorhanden; sie ist daher auch nicht in Jahrzehnten, sie ist niemals vollständig lösbar. Wir werden niemals den Himmel auf die Erde herabziehen und unsere Annäherung an ihn kann sich nach unserer ganzen vergangenen Kulturentwicklung nur sehr langsam gestalten, unter fortwährenden Rückschlägen, so daß wir uns wohl immer damit begnügen müssen, ihn auf Erden zu erhoffen.
LITERATUR Richard Schubert-Soldern, Nochmals zu Marx' Werttheorie, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 50 Tübingen 1894
    Anmerkungen
    1) Daß die Arbeit Maßstab des Wertes ist, gibt MARX selbst zu: Das Kapital, vierte Auflage, Seite 6. Wenn er auch die Arbeit als "wertbildende Substanz" betrachtet, so gibt er doch zu (Seite 7), daß die Arbeit nur Wert hat, insofern sie nützlich ist, d. h. offenbar Gebrauchswert schafft. Die Arbeit hat also weder ansich Wert, noch mißt sie den Gebrauchswert der Waren, sie also nur Maßstab des "Werts" - aber welchen Werts? Vgl. KAUTSKY, Karl Marx' ökonomische Lehren, Seite 23.
    2) Vgl. MARX, Das Kapital, Seite 286
    3) Vielleicht ist sie es für alle Werte überhaupt (diese Frage kann ich offen lassen), aber auch dann ist sie nicht Maßstab allen Wertes.
    4) Vgl. KAUTSKY, a. a. O., Seite 25.
    5) Natürlich seiner Befriedigung wegen, nicht weil etwa die "gewaltsame Änderung" keine Aussicht auf Erfolg hat.