ra-4KirchmannLundstedt
Kindische Fiktionen
in der Rechtsprechung

Alf Ross

AUSTINs Lehre von der Gewohnheit - und den anderen vermeintlich selbständigen Rechtsquellen - bezeichnet einen entscheidenden Wendepunkt in der englischen Quellentheorie. Es ist hier zum erstenmal ausgesprochen, daß der Richter, in seiner Eigenschaft als Organ des Souveräns, Recht schaffen kann und Recht schafft. Was BLACKSTONE hinderte, dies einzusehen, sagt AUSTIN:
    "war die kindische Fiktion unserer Richter, daß die Judikative oder das Gewohnheitsrecht nicht von ihnen gemacht werden, sondern etwas Wundersames ist, das von niemandem geschaffen wurde, das wohl wahrscheinlich seit Ewigkeiten existiert und lediglich von Zeit zu Zeit von den Richtern erklärt wird."
Mit dieser "kindlichen Fiktion" ist es von nun an in der englischen Jurisprudenz vorbei. Es wird allgemein anerkannt, daß der Richter neues Recht schaffen kann und schafft. Etwas anderes ist es, daß diese Fiktion wie so viele andere insofern praktische Bedeutung haben kann, als sie eine Wahrheit verhüllt, die man aus dem einen oder anderen Grund seinen Mitmenschen - oder sich selbst - nicht gern eingestehen will. Wenn ein Richter ungern offen eingestehen will, daß er neues Recht schafft, sondern es vorzieht, die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß er in allen Fällen bloß ein vorgefundendes Recht anwendet, so können hierfür verschiedene erklärende Gründen angeführt werden. Einmal kann diese Fiktion sich aus einem persönlichen Konservatismus, einer Angst, Veränderungen im Ererbten einzuführen, herschreiben. Wo doch die Umstände den Richter zwingen, das Recht zu erneuern, zieht er es deshalb vor, durch allerlei listige Kunstgriffe (an den Haaren herbeigezogene Auslegungen, kühne Analogien, Fiktionen und dergleichen) die neue Regel in die Kleider der alten zu stecken und ihr so das Aussehen zu geben, als wäre alles beim alten geblieben. Andererseits und vielleicht in noch höherem Grad hat diese Fiktion eine mehr objektive Ursache. Es stärkt die Autorität des Gerichts gegenüber den Parteien und dem Volk, wenn die Fiktion aufrechterhalten wird, als schaffe das Gericht nicht Recht, sondern wende es nur an. Es stärkt die Macht und das Ansehen des Richters bei den streitenden Parteien, wenn diese glauben, daß der Richter zur Entscheidung ihres Streites Recht anwenden will, das sowohl für ihn, wie für sie existiert, und das der Richter nur zu finden hat. Es wird dagegen die Autorität des Richters schwächen, wenn er offen einräumt, daß er erst jetzt, - ex post facto [nachträglich] - die Rechtsregel schaffen soll, nach der der Rechtshandel gelöst wird.

LITERATUR, Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, Wiener Staats- und Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. XIII, Leipzig 1929