ra-2LammaschF. AdickesP. EltzbacherJ. Bahnsen    
 
ERNST ZITELMANN
Irrtum und Rechtsgeschäft

"Wo die gewöhnlichen regelmäßigen Folgen solcher juristischen Tatsachen, die auf dem freien Willen beruhen, durch das Dasein eines Irrtums aufgehoben oder verändert werden, indem der Wille, mit Rücksicht auf diesen Irrtum, als ein unvollkommener Wille betrachtet wird, da liegt ein echter Irrtum vor, denn nur hier kann von einer wahren Einwirkung des Irrtums die Rede sein."

"Bei Rechtsgeschäften erscheint der echte Irrtum als Irrtum im Beweggrund: als solcher hat er nur ausnahmsweise eine Einwirkung, der unechte Irrtum hingegen bringt eine Nichtübereinstimmung zwischen Wille und Erklärung hervor und spezieller bei Verträgen auch eine Nichtübereinstimmung zwischen der Willenserklärung des einen und der des anderen Kontrahenten, infolge deren das Rechtsgeschäft nichtig ist."


Einleitung

I.
Die Aufgabe

Der Irrtum ist eine so bedeutungsvolle, in alle Verhältnisse des privaten wie öffentlichen Lebens so stark eingreifende und den Menschen bei seinem Tun und Lassen so vielfach begleitende Tatsache, daß eine Gesetzgebung sich seiner Berücksichtigung nicht entziehen darf. In der Tat findet sich auch im römischen Recht wie in den neueren Gesetzgebungen der Irrtum in mannigfacher Hinsicht als wichtig anerkannt; im öffentlichen wie im Privatrecht, im Prozeß wie im materiellen Recht, im Kirchenrecht wie im Strafrecht, überall ist er da: fast kein Institut gibt es, bei dem er nicht sorgsame Beachtung verlangt und erfährt. Es erwächst daher auch der Wissenschaft die Pflicht, aus den verschiedenen Rechtsteilen die zerstreuten Glieder zu sammeln und den Irrtum in all seinen Bedeutungen und Anwendungen als einheitliches Objekt wissenschaftlich zu behandeln.

Eine vollständige Darstellung der Lehre vom Irrtum zu geben, hat diese Arbeit nicht im Sinn. Vielmehr beschränkt sie sich nach zwei Seiten.

Einmal will sie nur die Grundlagen der Lehre feststellen: sie will die Gesichtspunkte finden, von denen aus die ganze Masse des Stoffs zu betrachten, nach denen sie zu gliedern ist.

Sie bezieht sich sodann nur auf das Zivilrecht, und hier nur auf die Lehre vom Rechtsgeschäft. Freilich war es weder möglich noch wünschenswert, die ganze Arbeit so zu beschränken. Vielmehr ist ein großer Teil der Arbeit Grundlage für die  ganze  Lehre vom Irrtum, und sie beschränkt sich nur insofern auf das Rechtsgeschäft, als sie die gewonnenen allgemeinen Resultate auf dieses Gebiet speziell anwendet. Das Schwergewicht der Arbeit liegt daher auch in den ganz allgemeinen, für alle Rechte und Rechtsteile gleichmäßig gültigen Erörterungen. Diese Untersuchungen mögen auf den ersten Blick unpraktisch erscheinen, aber "das ist auch eine von den guten Lehren, die uns die römische Jurisprudenz gegeben hat, daß die Wissenschaft, um praktisch zu sein, sich nicht auf das Praktische beschränken darf." (1)

Die Lehre vom Irrtum ist in doppelter Hinsicht bisher systematisch unrichtig gestellt worden. Einmal gehört sie nicht ins Zivilrecht, sondern in eine (freilich erst zu schaffende) allgemeine Rechtslehre, und man darf wohl wagen zu behaupten, daß der Stand der heutigen zivilistischen Doktrin bezüglich der Lehre vom Irrtum nicht ein so verworrener wäre, hätte sich sich enger an die Strafrechtswissenschaft angeschlossen. In der Tat ist eine Reihe von Fragen in der meines Erachtens richtigen Weise bereits durch die letztere gelöst worden, während unsere Zivilrechtsdisziplin noch immer nach einer Antwort sucht.

Sodann hat die Lehre vom Irrtum auch innerhalb des Zivilrechts keine richtige Stellung erhalten. Gewöhnlich werden unter den juristisch relevanten Tatsachen die "Handlungen" und der "Zeitablauf" besonders hervorgehoben, und man pflegt den Irrtum dann in der Lehre von den juristischen Handlungen, ja sogar nur in der von den Rechtsgeschäften zu behandeln; da man sich jedoch nicht der Erkenntnis verschließen kann, daß der Irrtum weit über das Gebiet der Handlungen hinaus Bedeutung hat, so schaltet man dann häufig mitten in die Lehre von den juristischen Handlungen einen ganz außeretatmäßigen Flick- und Notparagraphen ein, in dem jene weitere Bedeutung des Irrtums besprochen wird.

Es liegt auf der Hand, wie wenig man durch eine solche Anordnung des Stoffs diesem selbst Genüge tut. Der einzige Zweck, den ein Jurist überhaupt vernünftigerweise verfolgen wird, wenn er unter den unzählig vielen juristischen Tatsachen einzelne Gruppen im System zusammenfaßt, ist ein praktischer: der nämlich der Erleichterung; er stellt das zusammen, was in irgendeiner Weise unter juristisch gleichen Grundsätzen steht. Wenn dem aber so ist, dann sollten unter den juristischen Tatsachen weitere Gruppen als bisher gebildet und zu gesonderter Betrachtung herausgehoben werden. Insbesondere sollten alle psychischen Tatsachen, ob sie auf dem Gebiet des Willens oder der Vorstellung oder der Affekte liegen, sofern sie nur irgendwo Momente eines juristischen Tatbestandes sind, zusammengestellt werden, schon allein aus dem einen Grund, weil bei ihnen allen die gleiche Schwierigkeit des Beweises und die gleiche rechtliche Lösung dieser Schwierigkeit vorliegt. Innerhalb dieses allgemeineren Kreises würde man dann eine Lehre nicht vom Irrum, sondern von der Vorstellung zu geben haben. Es würde sich zeigen, daß die Vorstellung teils in Beziehung auf eine Handlung relevant ist, teils ohne eine solche Beziehung; beide Fälle würden zu trennen sein; andererseits würde sich herausstellen, daß bald die richtige, bald die falsche oder mangelnde Vorstellung als Tatbestandsmoment vorkommt. Nach diesen Gesichtspunkten wäre dann einzuteilen.

Diese großen Gruppen zu finden, die richtigen Gesichtspunkte für die Beurteilung aufzustellen, daß bald die richtige, bald die falsche oder mangelnde Vorstellung als Tatbestandsmoment vorkommt. Nach diesen Gesichtspunkten wäre dann einzuteilen.

Diese großen Gruppen zu finden, die richtigen Gesichtspunkte für die Beurteilung aufzustellen, strebt diese Arbeit an; in dieser Begrenzung will das Thema verstanden sein. Sie will Antwort geben auf die Frage: welches sind die Beziehungen, in denen der Irrtum zum Rechtsgeschäft stehen kann, und welchen Einfluß hat er auf das Rechtsgeschäft? Sie wird dabei auch, über die Lehre vom Irrtum hinübergreifend, den Begriff des Rechtsgeschäfts selbst einer genauen Erörterung unterziehen.


II.
Stand der Frage (2)

Die heute noch herrschende Lehre vom Irrtum führt im Wesentlichen auf SAVIGNY (3) zurück. Das Hauptverdienst der SAVIGNYschen Ausführungen - soweit dieselben für die hier aufgeworfene Frage in Betracht kommen, - besteht darin, daß er die bisher unterschiedslos in Eins gesetzten Fälle des Irrtums in zwei große Gruppen zerschnitten hat. Er unterscheidet die Fälle des echten und des unechten Irrtums (4).
    "Wo die gewöhnlichen regelmäßigen Folgen solcher juristischen Tatsachen, die auf dem freien Willen beruhen, durch das Dasein eines Irrtums aufgehoben oder verändert werden, indem der Wille, mit Rücksicht auf diesen Irrtum, als ein unvollkommener Wille betrachtet wird,"
da liegt ein echter Irrtum vor, denn nur hier kann von einer wahren Einwirkung des Irrtums die Rede sein.
    "Ist aber der Fall, worin ein Irrtum vorkam, auch schon an sich selbst so gestaltet, daß es an den notwendigen Bedingungen einer juristischen Tatsache fehlt, so ist es nicht der Irrtum, der die Folgen derselben hindert" -
der Irrtum ist in diesem Fall ein unechter Irrtum. Bei Rechtsgeschäften insbesondere erscheint nun der echte Irrtum als Irrtum im Beweggrund: als solcher hat er nur ausnahmsweise eine Einwirkung (5), der unechte Irrtum hingegen bringt eine Nichtübereinstimmung zwischen Wille und Erklärung hervor und spezieller bei Verträgen auch eine Nichtübereinstimmung zwischen der Willenserklärung des einen und der des anderen Kontrahenten, infolge deren das Rechtsgeschäft nichtig ist. Dieser  wesentliche  Irrtum kann sich beziehen "auf den Inhalt des Willens im Ganzen" oder "auf einzelne Teile des Willens, und zwar:
    1) auf die Natur des Rechtsverhältnisses;

    2) auf die in einem Rechtsverhältnis uns gegenüberstehende Person;

    3) auf die Sache, die den Gegenstand des Rechtsverhältnisses bildet."
Diese SAVIGNYsche Auffassung ist wie gesagt im Großen und Ganzen immer noch die der herrschenden Lehre. Und gewiß - die Unterscheidung des Irrtums, welcher ein Motiv, von dem, welcher eine Differenz zwischen Wille und Tun ist, so wenig sie auch irgendwie als erschöpfend angesehen werden kann, wird für jede künftige Bearbeitung der Lehre vom Irrtum ihre Bedeutung behalten und ist von berufenster Seite nicht mit Unrecht als "eines der schönsten Verdienste SAVIGNYs" (6) gefeiert worden.

Die SAVIGNYsche Lehre leidet meines Erachtens an zwei Hauptmängeln: einmal deckt die Unterscheidung zwischen Irrtum im Beweggrund und Irrtum als Differenz zwischen Wille und Tun nicht sämtliche vorkommende Fälle, sodann ist die Abgrenzung zwischen den zu der einen und zu den anderen Gruppe gehörenden einzelnen Fällen mißlungen.

Seit SAVIGNY hat die Lehre nicht unerhebliche Fortschritte gemacht. Es ist gleichsam, als habe SAVIGNY die erste Bresche in die zusammengeschlossene Einheit der Irrtumsfälle gelegt, und die Späteren setzten nun, durch die Öffnung nachdringend, von innen heraus das Zerstörungswerk weiter fort.

Unter denjenigen, welche für die Lehre vom Irrtum  überhaupt  erhebliches geleistet haben, sind vier Namen zu nennen, deren Träger die  besondere  hier zur Untersuchung stehende Frage über die Arten des Irrtums in einem bewußten Gegensatz gegen die SAVIGNYsche Lehre und deren Fortbildung literarisch vornehmlich gefördert haben: BEKKER, BRINZ, HÖLDER und HESSE. Das Hauptverdienst BEKKERs (7) sehe ich, um es kurz zu sagen, in der Betonung der Unterscheidung zwischen körperlicher Bewegung und Erfolg für die Lehre vom Irrtum: diese Unterscheidung ermöglichte die Aufstellung der Kategorie  Irrtum über die Folgen der Handlung.  Freilich subsumierte er unter diesen Begriff Fälle, die nicht unter ihn gehören (Irrtum, der sich auf die Beschaffenheit des Gegenstandes des Rechtsgeschäfts bezieht) (8), und kam auch sonst nicht zu der meines Erachtens richtigen Gruppierung: jene Kategorie des Irrtums über die Folgen aber für das Rechtsgeschäft zuerst betont zu haben, ist ein Verdienst, das nicht gering angeschlagen werden darf.

BRINZ in seinem Lehrbuch der Pandekten (9) baute auf SAVIGNY weiter und umgrenzte das Gebiet des unechten  error  zutreffender als bisher: er schied eine Reihe von Fällen von dieser Irrtumsgruppe aus, die in der Tat nicht hineingehören. Er stellt die so begrenzten Fälle des SAVIGNYschen unechten Irrtums als  error in corpore,  error der Bewußtlosigkeit dem Irrtum in der Vorstellung gegenüber. Zu diesem rechnet er:
    1) Irrtum im Gegenstand, error in substantia.
    2) Irrtum im Beweggrund.
    3) Irrtum in den Umständen unter denen man handelt.
    4) Irrtum über die eigene Person.
Die letztere Unterscheidung innerhalb des Irrtums in der Vorstellung ist psychologisch nicht haltbar. Sie enthält Kreuzeinteilungen; die Kategorie  Irrtum im Beweggrund  ist von der Funktion des Irrtum, die übrigen Gruppen sind vom Gegenstand des Irrtums hergenommen.

BRINZ' Verdienst scheint mir in zwei Aufstellungen zu liegen:
    1) in der Trennung der Fälle, welche er  error in substantia  nennt, von den Fälle des unechten Irrtums; und

    2) in der Aussonderung der Frage, wie weit eine juristische Absicht, welche nach objektiven Sprachregeln fehlerhaft erklärt ist, Wichtigkeit zu beanspruchen hat.
Als dritter war HÖLDER (10) genannt. Er vereinigt einmal die Resultate von BEKKER und BRINZ, tiefer aber als seine Vorgänger dringt er in das psychologische Gebiet ein; genauer als BRINZ begrenzt er die Fälle, welche BRINZ  error in corpore  nennt; er zeigt, daß von einem  error  als Differenz zwischen Wollen und Tun nicht bloß, wie BRINZ will, da die Rede sein kann, wo das Bewußtsein mangelt, sondern auch bei vorhandenem Bewußtsein (z. B. in Zuständen der Aphasie), daß andererseits nicht jedes bewußtlose Tun als Differenz zwischen Wollen und Tun charakterisiert werden kann, daß vielmehr bei den in ihrem letzten Ursprung unwillkürlichen Bewegungen ein  error  nicht vorliegt. Die sonstigen Fälle des Irrtums, welcher das Dasein eines Rechtsgeschäfts negiert, bringt HÖLDER unter die Rubrik des  error  als  dissensus;  als dritte Klasse stellt er neben den wahren Irrtum "als Differenz des in Wirklichkeit zutreffenden und des vorausgesetzten materiellen Gehalts eines Geschäfts".

Den Fortschritt der HÖLDER'schen Arbeit finde ich in der klareren Unterscheidung der beiden Fälle:
    1) daß das Tun "von seinem Ursprung, dem Willen abgelenkt und daher in sich verfehlt ist", und

    2) daß es "sein außer ihm selbst liegendes Ziel, die Mitteilung des Willens, verfehlt hat" (11).
Den Hauptmangel finde ich darin, daß HÖLDER diese zweite Art der Verfehltheit des Tuns nur als mögliches Hindernis des Konsenses und nicht für sich in Betracht kommen läßt.

Auch in der Abhandlung von HESSE, "Eine Revision der Lehre vom Irrtum" (1877) (12) ist ein Fortschritt nicht zu verkennen. HESSE erkennt, daß in der Lehre vom Irrtum eigentlich zwei Lehren zusammenliegen: die Lehre von der  scientia  als Tatbestandsmoment und die Lehre vom  error  als Tatbestandsmoment. Den Fortschritt sehe ich nun darin, daß HESSE für das, was SAVIGNY den unechten Irrtum nannte, die richtige und erschöpfende Formulierung gefunden hat: dieser Irrtum kommt nur in Betracht als Negation des Tatbestandsmoments der  scientia.  Hingegen ist es HESSE nicht gelungen, die richtige Antithese zu diesem unechten Irrtum zu finden. (13)

Schließlich muß noch der Abhandlung von VOIGT "Die Theorie von der juristischen Relevanz von error und ignorantia" (14) Erwähnung getan werden. So viel Material auch in der Abhandlung zusammengetragen ist, so mannigfache Belehrung aus derselben im Einzelnen geschöpft werden kann, so sind doch die Aufstellungen VOIGTs bezüglich der hier interessierenden Hauptsache nicht als richtig anzuerkennen. Er macht folgende Einteilung:
    I) Irrtum in der Verlautbarung des Willens bei einem Rechtsakt,

    II) Irrtum in den Willen kausal bestimmenden psychologischen Momenten einer juristischen Handlung (Irrtum in den Motiven und im Zweck)

    III) Irrtum in den den Willen kausal bestimmenden juristischen Momenten eines Rechtsgeschäfts (Irrtum in der causa)

    IV) Irrtum in der Willensbestimmung, welche den subjektiven Tatbestand einer juristischen Handlung bildet.
Diese Einteilung läßt sich psychologisch nicht rechtfertigen. Insbesondere ist ein Unterschied zwischen Irrtum im Motiv und Irrtum in der Willensbestimmung nicht anzuerkennen (15).

Auch die herrschende Theorie ist unterdessen nicht untätig geblieben und hat die SAVIGNYsche Lehre im Einzelnen gefördert und gebessert. Sie rückt der richtigen Unterscheidung immer näher, ohne doch das rechte Wort finden zu können. Aus der großen Literatur darf zuerst UNGER (16) hervorgehoben werden. Dieser beginnt innerhalb des Irrtums, welcher "Nichtübereinstimmung zwischen Wille und Erklärung" ist, zu sondern, ohne jedoch den gewiß vorhandenen Unterschied richtig zu erkennen. Schon die Bezeichnungen, die er braucht: "Nichtübereinstimmung (zwischen Wille und Erklärung) wegen eines Mangels des Willens, oder wegen des Mangels der Erklärung", beweisen, daß er mit seiner Einteilung in die Irre geht. Wenn die zwei Seiten einer Gleichung als nicht übereinstimmend behauptet werden, müssen beide vorhanden sein; nicht aber darf eine fehlen. Zudem ist die Unterscheidung für wahre Irrtumsfälle gar nicht durchführbar. Denn in diesen liegt immer zugleich ein Wille vor, welchem die gehörige Erklärung, und eine Erklärung, welcher der gehörige Wille mangelt. Unter die Rubrik "Nichtübereinstimmung wegen Mangels der Erklärung" fallen heterogene Fälle, sowohl die Fälle des Sichversprechens als auch die, in welchen der Erklärende dem von ihm gebrauchten Zeichen eine andere Bedeutung beimißt, als dasselbe nach der Regel des Lebens hat.

In gleicher Richtung unterscheidet ferner WINDSCHEID, allerdings nur beiläufig (17), zwischen Nichtwollen des erklärten Willensinhalts und Nichtwollen der Erklärungshandlung (18). Er verwertet diese Unterscheidung jedoch nicht und scheint auch die Fälle der ersten Art viel zu eng zu fassen. In der Trennung der einzelnen Fälle schließlich, welche zum unechten und echten Irrtum gehören, sind UNGER und WINDSCHEID nicht glücklicher gewesen, als SAVIGNY.

Schließlich sei noch die klare und eindringende Darstellung der Lehre vom Irrtum in RITTNERs "Österreichisches Eherecht" (19) erwähnt, welche trotz des Titels, unter dem sie auftritt, doch ganz allgemein gehalten ist und daher auch von jedem Juristen, der Nicht-Kanonist ist, Beachtung fordert. RITTNER stellt nebeneinander anormale Erklärung und anomalen Willen. Diesen letzteren findet er in den Fällen des Irrtums im Motiv, die erstere liegt nach ihm überall da vor, wo das Bewußtsein fehlt; auf den Willen, meint er, kommt nichts an (das letztere ist unrichtig; es kann z. B. das Bewußtsein bei einer Reflexbewegung vorhanden sein, und diese ist doch nicht zuzurechnen). Innerhalb der (von ihm weiter gefaßten) Bewußtlosigkeit unterscheidet er das Nichtwissen des Daseins der Erklärung und Nichtwissen des Inhalts der Erklärung.
LITERATUR Ernst Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, Leipzig 1879
    Anmerkungen
    1) RUDOLF von JHERINGs Worte, Jahrbücher für die Dogmatik, Bd. 1, Seite 18
    2) Zum Folgenden: HÖLDER, in der kritische Vierteljahrsschrift, Bd. XIV, Seite 561 - 583.
    3) SAVIGNY, System des römischen Rechts, Bd. III, § 114, 115, 135 - 139, Beilage VIII
    4) SAVIGNY, a. a. O., Seite 440f, 263f
    5) SAVIGNY, a. a. O., Seite 114
    6) WINDSCHEIDs Worte, Pandekten, Bd. 1, § 76
    7) BEKKER, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 3, 1861, Seite 180f, besonders 192f. Siehe dazu Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 5, 1863, Seite 395f
    8) BEKKER, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 3, 1861, Seite 197 unter C.
    9) ALOIS BRINZ, Pandekten, Bd. 2, 1869, Seite 313 - 319, § 357. Man vgl. hierzu die fördernden Bemerkungen von MANDRY, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 14, Seite 378 - 382 in seiner Rezension über BRINZ (1872).
    10) EDUARD HÖLDER, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 14, 1872, Seite 561f; Institutionen des römischen Rechts, 1877, § 18.
    11) HÖLDER; Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 5, 1863, Seite 574
    12) HESSE, in JHERINGs Jahrbüchern, Bd. 15, Seite 62 -135 und Seite 206 - 250. Diese Abhandlung betrifft übrigens zum großen Teil Fragen, die erst in einer Fortsetzung dieser Arbeit zur Sprache kommen können. Die Abhandlung desselben Verfassers im "Archiv für die zivilistische Praxis", Zur Lehre vom Irrtum, Bd. 57, Seite 182 - 253 (1874, (vgl. auch seine Aufsätze über  condictio indebiti,  ebd. Bd. 56, Seite 367 - 398 (1873) und über  bona fides  ebd. Bd. 58, Seite 305 - 359 (1875) kommt noch nicht zu einem klaren und fördernden Resultat, man lese nur die Resultatsangaben Seite 220f, 249f
    13) Das Nähere weiter unten in Kap. IV, Abschnitt I.
    14) MORITZ VOIGT, Archiv für die zivilistische Praxis, Bd. 53, Seite 404 - 432, Bd. 54, Seite 23 - 80, Seite 194 - 241.
    15) Vgl. über VOIGT auch HÖLDER, Kritische Vierteljahrsschrift, Bd. 14, Seite 582f.
    16) UNGER, System des österr. allgem. Privatrechts, Bd. 2, § 77, 81 und 89.
    17) WINDSCHEID, Pandekten, § 76, Note 1 (4. Auflage, 1876)
    18) Ebenso unterscheidet HÖLDER neuestens zwischen dem erklärten Willen und dem Erklärungswillen, wobei er letzteren freilich meines Erachtens unrichtig definiert als "den Willen, einem andern gegenüber ein Urteil abzugeben, damit dieser es sich aneigne als ein von mir zu verantwortendes." Kritische Viertelsjahrsschrift, Bd. 18, Seite 176 - 177
    19) RITTNER, Kritische Vierteljahrsschrift, 1876, Seite 162 - 191