Die ArbeiterfrageDie sittliche Frage eine soziale Frage | |||
Der wirtschaftliche und geistige Untergrund des Sozialismus [ 2/2 ]
II. Wenn der Sozialismus eine Schöpfung wollender Menschen ist, wenn er ein gegebenes, mangelhaftes Kultursystem in eine andere Richtung lenken, die Menschheit in neue Bahnen einführen möchte, so ist klar, daß er zur Begründung solcher Bestrebungen, wo immer es gehen wird, seine Zuflucht zum Wissen seiner Zeit nehmen, seine Forderungen auch mit den Begriffen der Ethik eine Rechtfertigung zuteil werden lassen wird. In dieser Hinsicht hat denn der moderne Sozialismus in weitestem Maße das Erbe eben jenes Kultursystems angetreten, dessen Vernichtung sein letzter Zweck ist. Da sind es einmal die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die einleuchtenden Sternbilder der Französischen Revolution, denen der moderne Sozialismus zustrebt. Denn mitnichten hatte je gewaltige Umwälzung das soziale Friedensreich, das begeistert herbeigesehnt wurde, heraufgeführt. Sie hatte im mächtigen Ansturm gegen die Gewalten mittelalterlicher Prägung, gegen die katholische Kirche und den Feudalismus, gegen die verottete absolute Monarchie auch und die unzähigen Fesseln, die die Bewegungsfreiheit des wirtschaftlichen Lebens unterbanden: die zum Nachteil der Gesellen führenden Zunftsatzungen sowohl wie die allmählich lästig gewordene Bevormundung der kapitalistischen Betriebe durch die Regierung - in jähem Anprall gegen diese bindenden Mächte hatte sie der Persönlichkeit die Selbstherrlichkeit eines sich ungebunden auslebenden Daseins verleihen wollen. Ein ungeheures Zerstörungswerk war vollbracht worden, aber die erwartete Harmonie blieb aus. Die Freiheit, wie sie die Revolution brachte, hatte wohl dem Bürgertum die Bahn ungehemmte Aufsteigens eröffnet, aber den mittellosen, schwachen Arbeie der Willkür der sich nun regellose auswirkenden sozialen Kräfte ausgesetzt und ihm alles andere eingebracht hatte, als Freiheit: gesetzliche Behinderung selbst aller Versuche, durch Zusammenschluß mit seinen Genossen seine Lage zu verbessern. Denn auch in Frankreich hatte gleichwie in England zur Neige des 18. Jahrhunderts eine kräftige Entwicklung kapitalistischer Art eingesetzt. Gewiß hat die Freiheit, welche die Revolution brachte, zufolge der großen Wirren dieser Umwälzung anfangs nur langsam die wirtschaftliche Entwicklung gefördert, aber im Laufe von Jahrzehnten war der erzielte Fortschritt offenbar: mit regem Eifer hat die französische Nation, allenthalben gefördert selbst durch NAPOLEON, der die modernen Wirtschaftsgrundsätze unangetastet ließ, die neu eröffnete Bahn beschritten. Schon unter dem Konsulat wurde die Bank von Frankreich als ein großes Zentralinstitut, das 1806 der Überwachung des Staates unterworfen wurde, gegründet, es entstanden zahlreiche Fabriken, die Verkehrswege wurden verbessert, es wurden große öffentliche Arbeiten vergeben und durch finanzielle staatliche Beihilfen und Wettbewerbe wurde nach so vielen Jahren der Unordnung der wieder erwachte Erwerbstrieb lebhaft angefacht. Trotz der Krisen der Jahre 1803, 1805 und 1807 und trotz dem Übermaß der die folgenden Jahre heimsuchenden Kriegswirren, die viele Menschenopfer erforderten, hob sich so der Wohlstand und nahm die Bevölkerung rasch zu. Dieses große Erbe des Kaiserreiches, eine auf kapitalistischer Grundlage erblühte Industrie, übernahm nun die Restaurationszeit, wo die 1819, 1823 und 1827 veranstalteten Ausstellungen offensichtlich die großen Erfolge, welche das neue Wirtschaftssystem zeitigte, erkennen ließen. So ging denn unter dem Ansporn des durch die wirtschaftliche Freiheit möglich gewordenen allseitigen Wettbewerbes der Kapitalismus zunehmender Ausreifung entgegen, aber ihr folgte gleichwie in England das Elend. Schmählich hat das französische Bürgertum, nachdem es während der Revolution die politische Macht an sich gerissen hatte, den Lohnarbeiter, der ihm, solange es galt, die alten Mächte zu stürzen, ein willkommener Bundesgenosse war, im Stich gelassen. Man stellte den Begriff des "citoyen aftif" auf und verstand unter einem wahlberechtigten Bürger denjenigen, der eine zwar kleinbemessene Steuer entrichtet, aber in keinem Lohnverhältnis steht. Damit war die politische Scheidung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden vollzogen und der Lohnarbeiter zur Rolle des politisch rechtlosen Untertanen verurteilt. Und auch wirtschaftlich suchte man ihn sich unterwürfig zu machen. Das Koalitionsgesetz des Jahres 1791 verbot, wie es heißt, im öffentlichen Interesse die Bildung von Korporationen und lieferte dadurch den in seiner Vereinzelung schwachen, bei Strafe des Hungerns zur Arbeit einfach gezwungenen Proletarier der Übermacht des Unternehmers aus. Und dabei war die Lage des Arbeiters eine gedrückte. Die Übel, die der Kapitalismus dem englischen wie später auch dem deutschen Proletariat brachte, blieben auch in Frankreich nicht aus, wenn auch hier, zumal nach den ersten Jahrzehnten der großen Revolution, dank der verhältnismäßig langsam fortschreitenden kapitalistischen Entwicklung, die nichts von der überstürzten Hast der englischen an sich hatte, die geistige und körperliche Entartung der Arbeiter dem Elend Englands in keiner Weise gleichkam. Aber auch in Frankreich kannte man keine gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz des Proletariats, auch hier drückte die Konkurrenz unter den Arbeitern - die namentlich nach Beendigung der napoleonischen Kriege, wo Zehntausende ehemaliger Soldaten arbeitsuchend in die Städte strömten, heftige Formen annahm - die Löhne auf den denkbar niedrigsten Stand herab, herrschten die Übel der Fabrikarbeit. Zu offensichtlich war die vorhandene soziale Not, als daß ihre Unvereinbarkeit mit dem Ideal der Revolution scharfblickenden Denkern hätte entgehen können. Eine Gesellschaftsordnung, der zufolge bei Millionen arbeitsamer Menschen Not und Sorge als ungebetener Gast sich täglich einstellt, wo heftige ökonomische Erschütterungen den Arbeiter aufs Pflaster werfen, wo sich andererseits großer Reichtum in verhältnismäßig wenigen Händen ansammelt und zu übertriebenem Luxus führt - eine solche Gesellschaftsordnung ist ein Hohn auf alle Brüderlichkeit und Freiheit, nicht das Reich der Freiheit selbst. So wurde jener erhabenen Bestimmung, die der so allgemein gehaltene Kampfesruf der Revolution dem Menschen angewiesen: daß er fürderhin frei, ein Bruder unter seinesgleichen, kein Gegenstand der Beherrschung und Unterdrückung sein solle, von allen Propheten des neuen Sozialismus ein neuer, lebenswirklicher Inhalt verliehen. Wahre, wirkliche Freiheit soll der Mensch künftig genießen, Freiheit, die nichts als den Namen mit jener durch die Französische Revolution eingeführten bürgerlichen Freiheit gemeinsam hat, die Freiheit auch im wirtschaftlichen und kulturellen Leben, die soziale Freiheit. Ein merkwürdiges Zusammentreffen ist es, daß eine wichtige Richtung des modernen Sozialismus einen Ausläufer jener sozialphilosophischen Strömung bildet, die ursprünglich das "wissenschaftliche" Rüstzeug im Kampf gegen die bindenden Mächte mittelalterlicher Art, wie sie durch die Französische Revolution beseitigt wurden, abgab und mächtig zur Heraufführung jener Gesellschaftsordnung beitrug, die eben, wie schon angedeutet, der Sozialismus bekämpft: der kapitalistischen. ROUSSEAU und HELVETIUS sind nicht allein die geistigen Väter der Französischen Revolution, sie haben mit ihren Gednaken auch die Herausbildung eines wichtigen Zweiges des modernen Sozialismus, nämlich des rationalen Sozialismus, wie wir diese Richtung mit WERNER SOMBART nennen wollen, in weitem Maße beeinflußt. Gleich der Sozialphilosophie - oder richtiger gesagt, der vorherrschenden Sozialphilosophie - des 18. Jahrhunderts nimmt diese Richtung an, daß der Mensch in paradiesischer Unschuld aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen ist: die Behauptung ROUSSEAUs, daß der Mensch im Naturzustand gut war, ist zu einem Hauptsatz auch dieser Strömung geworden. Und doch haben sich im Laufe der Jahrtausende solche Mißstände herausbilden können, die nun in besonderem Maße die Menschheit heimsuchen! Wie läßt sich diese Erscheinung mit der ursprünglichen Anlage des Menschen vereinbaren, die der Gott der Liebe seinem Ebenbild in unbegrenztem Wohlwollen verliehen hat? Es kann nicht anders sein, als daß die Menschen willkürlich von den ihnen angewiesenen Pfaden abgewichen sind, daß sie die Herausbildung von Einrichtungen geduldet haben, die ihren Handlungen das Gepräge der Schlechtigkeit und Unsittlichkeit verleihen. Die Verhältnisse, so behauptet mit der Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts der rationale Sozialismus, geben den Menschen, denen von Natur aus eine fast völlige Gleichheit der Anlagen zukommt, ihre Eigenart, die Umwelt, in die sie hineingeboren sind, bedingt die außerordentliche Verschiedenartigkeit der Charaktere und Fähigkeiten, ist der Urquell namentlich des vorhandenen Übels. Laßt uns also die äußeren Bedingungen des menschlichen Daseins ändern, das ist der aus dieser Erkenntnis abgeleitete Wahrspruch, den sich auch der rationale Sozialismus zueigen gemacht hat, auf daß der durch die Zivilisation, den Kapitalismus, wie wir heute sagen würden, verdorbene Mensch seine ursprüngliche Reinheit wiedergewinne; laßt uns die Umwelt den ursprünglichen, zur Eintracht führenden Neigungen des Menschen anpassen und führe diese Umbildung auch zu einer grundstürzenden Änderung der gegebenen Gesellschaftsverfassung. Aber noch weitere Anleihen hat diese Gedankenrichtung bei der erwähnten Sozialphilosophie gemacht. Auch die aus der ungeschichtlichen Denkart des 18. Jahrhunderts entsprungene Lehre: daß neben der vorhandenen, geschichtlich gewordenen brüchigen Lebensordnung noch eine natürliche Ordnung der Dinge vorhanden sei, in der alle Zwietracht verbannt und die Eintracht in vollem Maße verwirklicht ist, ist dem rationalen Sozialismus feststehende Wahrheit geworden. Mithin gilt es, dieses Reich der Vollkommenheit, das unabhängig von Zeit und Raum seine Gültigkeit hat und dessen Herbeiführung also dem gesamten Menschengeschlecht das ihm solange versagte Glück zu bringen vermag, zu ergründen und die in ihm herrschenden Grundsätze als die immerdar geltenden Gebote der Wahrheit der Welt zu verkünden. So ist es die Vernunft, zu der diese Richtung des Sozialismus in Übereinstimmung mit der Sozialphilosophie des Aufklärungszeitalters ihre Zuflucht nimmt: auch sie ist ihm die hell leuchtende Sonne, die das Dunkel, in dem bisher die Menschen irrend herumtappten, belichtet und ihnen den einzig möglichen Weg des Heils zeigt. Die Unwissenheit, so lehren diese Denker immer und immer wieder, hat alles Unglück gebracht, die Kenntnislosigkeit der unverrückbaren Grundsätze des Glücks. Diesen Irrtum zu verscheuchen, ist das große Werk der Vernunft (Ratio), aus welchem Grunde diese Richtung als rationaler Sozialismus bezeichnet wird. Aus der Tatsache, daß gemäß den Anforderungen dieser Richtung das soziale Endziel ein eindeutig bestimmtes, angeblich aus der Natur der Dinge entspringendes ist, daß es, wie man sagen könnte, die soziale Wahrheit verkörpert, die das überlegene Genie eines auserlesenen Menschen, dem der Allmächtige prophetische Gaben verliehen hat, ergründet: aus dieser Tatsache folgt die oft an übermenschliche Zähigkeit grenzende Ausdauer unserer Weltverbesserer, die sie mit Blindheit gegenüber den hindernden Mächten des Daseins schlägt, eine Hoffnungsfreudigkeit, die sich, grenzenlosen Zielen zugewandt, oft in hinreißender Kraft der Rede ausspricht; folgt das stete, alle Niederlagen mißachtende Bemühen unserer Propheten, den unglücklichen Menschen, auf denen der Fluch der Unwissenheit lastet, die Heilsbotschaft ewiger Wahrheit zu übermitteln. Gleich den ersten Christen möchten sie, als die auserlesenen Werkzeuge der Vorsehung, den Völkern dieser Erde das erschaute Reich der Glückseligkeit verkünden, sie durch flammende Rede als Anhänger gewinnen. Und gleich den ersten christlichen Glaubensboten verabscheuen sie - mit wenigen Ausnahmen - die Anwendung irgendwelcher Machtmittel, nicht allein die mit der Gewalt des Schwertes sich durchsetzende Revolution, sondern auch den in gesetzlichen Formen sich vollziehenden Klassenkampf. Aber nicht in ihrer Gesamtheit, wie ich WERNER SOMBART gegenüber betonen möchte, sondern nur in der Mehrzahl "stehen sie aller Politik feindlich gegenüber." Aber von Herz zu Herz wollen sie vor allem Reden, den Menschen das Wunderland der Zukunft vor Augen führen und sie durch dessen blendenden Zauber mit fortreißen. Die Hoffnungsfreudigkeit, die auch die Sozialphilosophen des 18. Jahrhunderts namentlich in Frankreich beseelte, jene Propheten, welche von den Fortschritten des Wissens nach den dumpfen Zeiten bisheriger Barbarei das Heraufkommen eines neuen Zeitalters erwarteten, kehrt in verstärktem Maße bei unseren Sozialisten wieder. Freilich, ohne vorbereitende Tätigkeit kann die neue Welt des Glückes nicht geschaffen werden. Wenn die Umstände das Bild des Menschen gestalten, so ist es klar, daß durch pädagogische Maßnahmen, die den ursprünglichen Eigenheiten der menschlichen Natur angepaßt sind, diese letztere so entwickelt werden kann, daß sie den Erfordernissen der künftigen Ordnung vollkommen entspricht: daher die Hochschätzung, die die rationalen Sozialisten einer von sozialen Grundsätzen getragene Erziehung zuteil werden lassen. Weiterhin aber, und das ist wohl der am meisten hervorstechende Zug ihrer Vorbereitungsarbeit: sie glauben, daß es möglich ist, durch ein Experiment, durch Schaffung eines "natürlichen" kleinen, außerhalb des Bereichs der gegebenen Ordnung gelegenen Gemeinwesens die erhofften Wohltaten des vollkommenen Systems der Welt vor Augen führen zu können, um sie auf diese Weise für das soziale Endziel zu gewinnen. Dabei setzen sie große Hoffnungen auf die Mitwirkung der Reichen und Mächtigen dieser Erde. Kaisern, Königen, Ministern, Millionären, Regierungen wird von unseren Propheten in ihrer grenzenlosen Hoffnungsfreudigkeit die hohe Mission zugedacht, im Kampf gegen die Unwissenheit führend voranzugehen, gestützt auf die Macht, die Leuchte der endlich ergründeten Wahrheit den Völkern der Erde zu bringen. So fest überzeugt sind sie von der Richtigkeit und Gerechtigkeit ihrer Grundsätze, daß sie die Widerstände des Lebens völlig übersehen und im kindlichen Vertrauen auf die überzeugende Kraft, die der Wahrheit innewohnt, gerade die festesten Stützen jener Gesellschaftsordnung, die sie der Vernichtung anheimgeben wollen, zu den erwählten Wohltätern der Menschheit machen möchten. Ist es schwer herauszufinden, daß solche Eigenarten des Programms der rationalen Sozialisten letzten Endes verschuldet sind durch den Mangel einer vorurteilslosen Durchleuchtung des geschichtlichen Lebens? Gleich den Sozialphilosophen des Aufklärungszeitalters türmen sie ihre kühn gebauten Systeme auf morschem Grund auf: sie unterlassen es, das historische Dasein in seiner Abwandlung zu verfolgen, die treibenden Kräfte aus dem ungeheuren Wechselspiel der geschichtlichen Erscheinungen herauszulösen, kurz, Sinn und Ordnung in den geschichtlichen Wirrwarr zu bringen. Seien wir gerecht: auch einzelne rationale Sozialisten, FOURIER besonders, haben zuweilen mit genialer Spürkraft scharfsinnige Deutungen historischer Zusammenhänge gegeben. Aber im Grunde war ihre Forschungsweise unhistorisch durch und durch: dem Gedanken stattzugeben, daß die geschichtlichen Vorgänge eine streng realistische Erklärung zuließ, daß es möglich wäre, etwa gar Regelmäßigkeiten im Ablauf des kulturellen Lebens aufzuweisen, daß man, wie TURGOT einmal sagt, die ungeheure Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter eine wissenschaftliche Methode beugen könnte - dieses wäre für sie eine unerhörte, unbegreifliche Auffassung gewesen. Es steht für sie fest, "daß die vergangenen Zeitalter der Welt nur die Geschichte der irrationalen Menschheit präsentieren und daß wir uns nun auf die Dämmerung der Vernunft hinbewegen, zu einer Periode, in der der Geist des Menschen wiedergeboren wird." In diesen Worten OWENs ist es klar ausgesprochen: alle bisherige Geschichte war, gemessen mit den ewig geltenden Maßstäben der Vernunft, Verirrung, war der Schauplatz unendlicher Sinnlosigkeiten; aber das Reich der Herrschaft der Vernunft steht nun nahe bevor. Eine der ungeheuerlichsten Auffassungen, die je dem menschlichen Gehirn enstprangen, liegt in dieser Behauptung. Da wird die ganze bisherige Politik als "Kretinismus" gebrandmarkt, "idéologie, moralisme, économisme", also Philosophie, Moral, und Wirtschaftsleben werden als Verrücktheiten hingestellt, die dem menschlichen Geschlecht nichts als Elend gebracht haben. Und dieser tolle Wirbeltanz, in dem sich die Menschheit bisher gedreht hat, soll nun abgelöst werden durch eine völlig harmonische Gestaltung der Lebensverhältnisse zufolge der Eingebung eines einzigen genialen Menschen, der die bisherige Verwirrung in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgedeckt und endlich die soziale Wahrheit gefunden hat! Durch eine tiefe Kluft soll die Zukunft, das Reich des Lichts, von dem Der Finsternis, der Vergangenheit und Gegenwart getrennt sein! Man muß sich diese tollen Behauptungen stets vor Augen halten, um den großen Fortschritt jener zweiten Richtung des modernen Sozialismus in seiner vollen Bedeutung erfassen zu können, die namentlich durch die Wirksamkeit von KARL MARX zu gewaltiger Bedeutung gelangt: des entwicklungsgeschichtlichen Sozialismus. Ihr Begründer SAINT-SIMON hat durch seine Kritik der Sozialphilosophie des Aufklärungszeitalters die schärfste Kritik auch des rationalen Sozialismus geliefert. Gewiß, wichtige Grundanschauungen hat er von einem Denker des ausgeheneden 18. Jahrhunderts, von CONDORCET übernommen, der eine positive, d. h. eine auf genauer Ergründung der Tatsachen aufgebaute Philosophie der Geschichte verlangte: der Gedanke, daß die menschliche Gesellschaft in beständiger Veränderung begriffen ist, daß Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Religion, Politik nicht Verrücktheiten darstellen, sondern Äußerungsformen eines bestimmten historisch gewordenen Kulturzustandes sind - dieser für jene Zeit großartige Gedanke ist ihm durch CONDORCET vermittelt worden. Aber was bei CONDORCET noch mehr Ahnung war, wird von SAINT-SIMON nun als Tatsache erwiesen: ihm erscheint die Geschichte als eine fortlaufende Kette von Kulturzeitaltern, die gekennzeichnet sind durch das Vorherrschen einer seelischen Grundströmung, die Gegenwart - und dieses namentlich ist neu -, deren Gebrechen er in vielseitiger Weise enthüllt, erscheint ihm als eine Übergangszeit, die eingeschoben ist zwischen einen Zustand sozialer Gebundenheit (Mittelalter) und eine erst in der Bildung begriffene, durch Festigkeit sich auszeichnende Kultur. Während die rationalen Sozialisten im Namen unwandelbarer Grundsätze die soziale Welt umgestalten wollten und so, trotzdem ihre Wahrheit eine einzige sein sollte, in oft tollen Phantasien schwelgten, ist es eine nüchterne Ergründung der gesellschaftlichen Lebensvorgänge, die den entwicklungsgeschichtlichen Sozialismus bei der Aufhellung seiner Zukunftsordnung leitet. Die Bedingungen des sozialen Daseins will er darlegen, zeigen, welches die bewegenden Mächte der Entwicklung sind, aufweisen, vor allem, auf welchem historisch möglichen Grund die Gesellschaftsordnung, soll sie festen Bestandes sein, ruhen müsse. Nicht will er die vorhandene Gesellschaftsordnung, wie der rationale Sozialismus, als die letzte Ausgeburt der Unwissenheit zerschlagen: weiter entwickelt, ausgebaut vielmehr soll sie werden im fortschrittlichen SInn, auf dem Untergrund der lebensstarken Mächte der Zivilisation, zum Zweck einer Beseitigung der schweren Mißstände. Eine gesellschaftliche Lebensordnung kann so nicht, wie der rationale Sozialismus meint, erfunden, durch die Vernunft ergründet, willkürlich ins Leben gerufen werden, sie kann nur das Ergebnis einer allmählichen Entwicklung sein und ist so an bestimmte historische Voraussetzungen, die es eben aufzuweisen gilt, geknüpft. Dank solcher Betrachtungsweise des geschichtlichen Geschehens haben die Vertreter des entwicklungsgeschichtlichen Sozialismus - und auch hierin ist der geniale SAINT-SIMON führend vorgegangen - die kulturgeschichtliche Bedeutung der modernen Industrie scharfsinnig begriffen. Ist es nicht höchst seltsam: daß die führenden Köpfe des rationalen Sozialismus, von denen FOURIER ausdrücklich den "progrés colossal de l'industrie" feststellt und eine tiefgehene Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems geliefert, während der Engländer OWEN als einer der größten Industriellen seiner Zeit an der Spitze eines mächtigen Unternehmens stand - ist es nicht höchst seltsam, daß diese Denker angesichts des furchtbaren Elends ihrer Zeit gegenüber der Industrie, der Bringerin der Not, ich möchte fast sagen, in Verlegenheit geraten? Bildet doch die Grundlage ihrer Gemeinwesen die Landwirtschaft, wogegen sie der gewerblichen Tätigkeit nur einen untergeordneten Rang zuweisen, ja die moderne Industrie bei der Kleinheit der ersonnenen Gesellschaftsordnung gar nicht in diese eingliedern können. Zum Unterschied davon erhebt sich das neue soziale Gebäude beim entwicklungsgeschichtlichen Sozialismus, bei SAINT-SIMON und BAZARD, bei RODBERTUS und MARX, wie unsere Untersuchungen zeigen werden, nicht allein, aber in erster Linie auf dem Untergrund der modernen Industrie, die nach einer Zeit fessellosen Auswirkens ihrer Kräfte eine organische Umgestaltung finden soll. Was macht nun den Wesensgehalt des Sozialismus aus? Bereits haben wir erfahren, daß es sich um die Ergründung einer neuen Lebensordnung handelt, die ausgedacht ist im Hinblick auf die Gebrechen des Kapitalismus; daß in ihr die Persönlichkeit jene Freiheit erlangen soll, die scharf unterschiede ist von der trügerischen Freiheit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die nur verhältnismäßig wenigen die Bahn sozialen Aufstiegs eröffnet; daß in ihr das Glück die Menschen verklären soll. Damit aber freilich ist der Begriff des Sozialismus in keiner Weise erschöpft. Die in vielen wichtigen Punkten übereinstimmende Kritik, die der Kapitalismus durch die Propheten des Sozialismus erfahren, hat ihren Idealen eine Reihe weiterer übereinstimmender Züge verliehen, die in ihrer Gesamtheit erst ein Bild sozialistischen Daseins ergeben, das sich scharf vom gegebenen Gesellschaftssystem abhebt. Übereinstimmend erblicken die verschiedenen Vertreter des Sozialismus im Privateigentum, dessen fast unbeschränkte Ausnützung durch die bürgerliche Rechtsordnung ermöglicht wird, das Grundgebrechen des Gesellschaftslebens. Tausend Übel hat es im Gefolge: aus der Tatsache, daß die Besitzer der Produktionsmittel mit ihrem Eigen nach Gutdünken schalten und walten können, ohne daß eine gebietene Macht ordnungsstiftend in das wirtschaftliche Getriebe eingreift, wird eimal jener rücksichtslose Wettbewerb ermöglicht, der die Gesellschaft zersplittert und heftigen Erschütterungen, Krisen, aussetzt. Es ist durch die soziale Macht, die das Privateigentum verleiht, weiterhin der Anstoß zu seiner unbegrenzten Anhäufung gegeben, in deren Dienst selbst der Staat gestellt wird, so daß dieser als eine reine Klasseneinrichtung erscheint: indem er vor allem die Tendenz auf einer Förderung der Interessen der Besitzenden sich angelegen sein läßt, während die Nichtbesitzenden sich nur in bescheidener Weise seiner Wohltaten erfreuen dürfen. So bewirkt das Privateigentum eine weite Kluft zwischen der besitzlosen Klasse - die, weil sie ihr Leben fristen, in stummem Gehorsam im Dienste der Besitzenden zu fronen hat - und einer verhältnismäßig wenig zahlreichen Klasse von Reichen, der der Besitz ungeheure Vorrechte gewährt. So ist das sozialistische Ideal gegeben: der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus, die zufolge der Herrschaft zur Auflösung führt, den sozialen Körper in feindliche Klassen spaltet, in besitzlose Arbeiter und in die von dämonischen Machtgelüsten beherrschten Besitzer der Produktionsmittel, welche durch Zuhilfenahme der Staatsgewalt die Schwachen unterdrücken und ausbeuten, diesem so beschaffenen Zustnad wird eine Gesellschaft gegenübergestellt, in der durch eine genossenschaftliche Ordnung der Produktion, durch Beseitigung des Klassencharakters des Staates und durch die Verpflichtung aller zur Arbeit der Ertrag der sozialen Arbeit der Gesamtheit zugute kommt.(1) Durch den Radikalismus seiner Forderungen unterscheidet sich der Sozialismus von jenen Systemen der sozialen Reform, die unter Aufrechterhaltung der Grundlagen des vorhandenen Wirtschaftssystems dieses durch Beschneidung seiner Auswüchse zunehmender Vervollkommnung entgegenführen wollen: sein Ziel ist der in allmählicher Entwicklung oder auch in Form einer gewaltigen Umwälzung sich vollziehende Umsturz der auf dem Bestand des Privateigentums der Produktionsmittel ruhenden Klassenherrschaft des Unternehmers und ihre Ersetzung durch eine Gesellschaftsordnung, in der jedem Menschen, der seinen sozialen Pflichten, also vor allem der Arbeitspflicht, nachkommt, die Möglichkeit gewährt wird, seine Anlagen zu entwickeln, so daß er sich als ein vom Glück der Lebensfülle durchstrahltes Wesen fühlen kann. Durch Anwendung des Zwangs unterscheidet sich der Sozialismus vom Anarchismus, der, einem gleichen Ziel zugewandt, hofft, seine Verwirklichung einem freien Zusammenwirken der Menschen überlassen zu können. Durch den Radikalismus seiner Forderungen unterscheidet sich der Sozialismus von jenen Systemen der sozialen Reform, die unter Aufrechterhaltung der Grundlagen des vorhandenen Wirtschaftssystems dieses durch Beschneidung seiner Auswüchse zunehmender Vervollkommnung entgegenführen wollen: sein Ziel ist der in allmählicher Entwicklung oder auch in Form einer gewaltigen Umwälzung sich vollziehende Umsturz der auf dem Bestand des Privateigentums der Produktionsmittel ruhenden Klassenherrschaft des Unternehmers und ihre Ersetzung durch eine Gesellschaftsordnung
1) Der Kommunismus unterscheidet sich vom Sozialismus dadurch, daß er, um TUGAN-BARANOWSKYs Begriffsbestimmung zu gebrauchen, "die Kategorie des persönlichen Einkommens (als einer Wertsumme)" nicht kennt. "In der sozialistischen Gesellschaft wird die Konsumtion durch das Einkommen geregelt, in der kommunistischen aber ist die Konsumtion entweder ganz frei oder wird durch die unmittelbare Verteilung der Produkte in ihrer natürlichen Gestalt unter den einzelnen Personen geregelt." |