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 Rechtskonservative Wissenschaft
THEODOR KISTIAKOWSKI

 
Die Anhänger der organischen Schule glauben, die ganze reale und konkrete Mannigfaltigkeit der verschiedensten sozialen Gebilde dadurch überwinden zu können, daß sie dieselben als Organismen auffassen. Zu dem Zweck müssen sie aber auch den Begriff des Organismus möglichst locker, verschwommen und unbestimmt formulieren. Beim jetzigen Zustand der Naturwissenschaften bedarf dieser Begriff einer immer noch schärferen Abgrenzung, und man geht nicht fehl, wenn man behauptet, daß hauptsächlich die Soziologen und manche Rechtsgelehrte dazu beitragen, diese Aufgabe besonders zu erschweren. Man sollte überhaupt die Aufforderung, eine so komplizierte Vorstellung wie die Gesellschaft im Ganzen möglichst einfach aufzufassen, als eine unberechtigte Zumutung abweisen. Die organische Schule hat durch ihr Verfahren aber noch nicht einmal eine relative Vereinfachung erreicht, sondern ihren Gesellschaftsbegriff durch die Vermengung mit ganz anderen Vorstellungen immer mehr kompliziert. Sie verfolgt also Bestrebungen, die von den verschiedensten Standpunkten aus also im schroffsten Gegensatz zu rein wissenschaftlichen Zielen stehend zu betrachten sind. Deshalb ist es so schwer, diese Theorie von ihren schwachen Seiten zu packen. Das vollständige Leugnen der anerkannten Regeln der Begriffsbildung macht sie unangreifbar. Der Vertreter der organischen Schule kann immer einen Ausweg finden, weil er keine allgemeingültigen logischen Normen anerkennt. Er untergräbt damit die allgemeinen Grundlagen des Denkens. Um einen Fortschritt in der Wissenschaft zu erreichen, muß man sich aber über die einfachsten Begriffe verständigen. Wenn dieselben Erscheinungen mit verschiedenen Namen bezeichnet werden, oder die verschiedenen mit denselben, wenn gleiche sprachliche Ausdrücke unmittelbar nacheinander verschiedenes bedeuten, dann kann man zu keinen allgemeinen Ergebnissen gelangen.

In den letzten Jahrzehnten ist es sehr geläufig geworden, zu behaupten, daß die Naturgesetze auch für die gesellschaftlichen Erscheinungen gelten, oder daß dieselben allgemeinen Gesetze in der Gesellschaft wie auch in der Natur herrschen müssen. Solche angeblich wissenschaftlichen Redensarten verdanken ihre Entstehung hauptsächlich dem oberflächlichen Gebrauch der Worte "Gesetz" und "Naturgesetz". Daraus, daß diese in den modernen Naturwissenschaften so stark benützt werden, schließt man gewöhnlich, daß sie eine ganz klare und präzise Bedeutung haben, welche von allen in demselben Sinn verstanden wird. In Wirklichkeit aber haben wir keine "Naturgesetze" im Allgemeinen. Was die Naturwissenschaft bis jetzt erreicht hat, besteht in der Entdeckung der mechanischen, astronomischen, physischen, chemischen, physiologischen und sonstigen Gesetze. Der Begriff "Naturgesetz" faßt bloß diese getrennten Klassen von Gesetzen in einem gemeinsame begriffliche Gruppe zusammen. Es gibt aber kein höheres Naturgesetz, in dem all diese Gesetze auch wirklich aufgehen könnten. Wenn wir also prüfen, was diesen einzelnen, verschiedenen Reihen der Naturgesetze gemeinsam ist, dann können wir nur die kausale Verbindung der Erscheinungen als solche ausscheiden. Dieser gemeinsame Zug aller Naturgesetze ist jedoch selbst kein Gesetz, sondern eine Norm unseres Denkens.


LITERATUR, Theodor Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen, Berlin 1918