ra-4 blindfishHerbert Marcuse Hermann Schwarz

Synthesis, materialistische
JÜRGEN HABERMAS

 
Im Gegensatz zum HEGEL der  Phänomenologie  ist MARX der Überzeugung, daß die Selbstreflexion des Bewußtseins auf die zugrunde liegenden Strukturen der gesellschaftlichen Arbeit stößt und darin die Synthesis des gegenständlich tätigen Naturwesens Mensch mit der ihn objektiv umgebenden Natur entdeckt. Dieses Synthesis hat MARX nicht auf ihren Begriff gebracht, sie schwebt ihm mehr oder weniger vage vor. Der Begriff der Synthesis selber wäre ihm suspekt gewesen, obschon die erste These über FEUERBACH geradezu die Anweisung enthält, vom Idealismus, soweit er die  tätige Seite  des Erkenntnisprozesses erfaßt, zu lernen. Immerhin können wir aus Andeutungen extrapolieren, wie gesellschaftliche Arbeit als Synthesis des Menschen mit der Natur zu denken sei. Dieses materialistischen Begriffs der Synthesis müssen wir uns vergewissern, wenn wir verstehen wollen, daß sich bei MARX zwar alle Elemente zu einer durch HEGELs Kantkritik radikalisierten Erkenntniskritik finden - aber zum Aufbau einer materialistischen Erkenntnistheorie dann doch nicht zusammengefügt werden.

Synthesis im materialistischen Sinne  unterscheidet sich von dem in der idealistischen Philosophie durch KANT, FICHTE und HEGEL entwickelten Begriff zunächst dadurch, daß sie keinen logischen Zusammenhang herstellt. Sie ist nicht die Leistung eines transzendentalen Bewußtseins, nicht das Setzen eines absoluten Ich oder gar die Bewegung eines absoluten Geistes, sondern die  gleichermaßen  empirische wie transzendentale Leistung eines sich historisch erzeugenden Gattungssubjektes. KANT, FICHTE und HEGEL können auf das Material gesprochener Sätze, auf die logische Form des Urteils rekurrieren: die Einheit von Subjekt und Prädikat ist das paradigmatische Ergebnis jener Synthesis, als welche die Tätigkeit von Bewußtsein, Ich oder Geist gedacht wird. So liefert die Logik des Stoff, in dem sich die synthetisierenden Leistungen sedimentiert [Bodensatz geworden - wp] haben. KANT knüpft an die formale Logik an, um aus der Urteilstafel die Kategorien des Verstandes zu gewinnen; FICHTE und HEGEL knüpfen an die transzendentale Logik an, sei es, um aus einer reinen Apperzeption die Tathandlung des absoluten Ich, sei es, um aus den Antinomien und Paralogismen der reinen Vernunft die dialektische Bewegung des absoluten Begriffs zu rekonstruieren. Wenn sich hingegen Synthesis nicht im Medium des Denkens, sondern des Arbeitens vollzieht, wie MARX annimmt, dann ist das Substrat, in dem sie ihren Niederschlag findet, das System der gesellschaftlichen Arbeit und nicht ein Zusammenhang von Symbolen, Anknüpfungspunkt für eine Rekonstruktion der synthetischen Leistungen ist nicht die Logik, sondern die Ökonomie. Nicht die regelrechte Verknüpfung von Symbolen, sondern die gesellschaftlichen Lebensprozesse, die materielle Hervorbringung und die Aneignung der Produkte, bieten dann den Stoff, an dem die Reflexion ansetzen kann, um die zugrundeliegenden synthetischen Leistungen zu Bewußtsein zu bringen. Die Synthesis erscheint nicht länger als eine Tätigkeit des Gedankens, sondern als materielle Produktion. Das Modell für den naturwüchsigen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft sind die Produktionen eher der Natur als des Geistes. Deshalb tritt bei MARX die  Kritik der Politischen Ökonomie  an die Stelle, die im Idealismus die  Kritik der formalen Logik  einnimmt.


LITERATUR, Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Ffm 1973