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LEO HIRSCHLAFF
Kritische Bemerkungen
über die Lehre vom Hypnotismus

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"Wir verstehen unter Suggestion - unter Vorbehalt späterer theoretischer Erörterungen - nur diejeninge seelische Beeinflußung, die sich entweder gänzlich unmotiviert oder aufgrund unlogischer Motive vollzieht. In der Fähigkeit, normal motivierte Vorstellungen in Handlungen umzusetzen, erblicken wir dagegen nur einen Akt des Gehorsams, der Überzeugungskraft, der Belehrung, also von Faktoren, die im wachen Zustand auch ohne Anwendung der Hypnose wirksam sind, und zwar umso wirksamer, je intelligenter und ethisch gebildeter die Versuchspersonen sind, mit denen man operiert."

"Es ist ein Zeichen einer ungenügenden Fähigkeit in der Pädagogik, wenn es dem Lehrer nicht gelingt, im wachen Zustand den etwaigen Widerstand des Kindes zu entwaffnen: die Aufgabe des Lehrers ist nicht, die Seele des Kindes nach Art einer passiven Phonographenwalze zu beschreiben, sondern die Aktivität der kindlichen Seele in die richtigen Bahnen zu lenken. Dazu ist die hypnotische Suggestion ebensowenig imstande, wie es mit Hilfe einer Rute gelingt, ethische Vorstellungen in die Seele des Kindes zu pflanzen."

Nachdem wir die Erfolge der hypnotischen Behandlung berichtet haben, die in der Literatur der letzten Jahre aufgeführt worden sind, wollen wir die Vorurteile und Gefahren besprechen, die noch immer von manchen Seiten mit dem Begriff der Hypnose verknüpft werden. Die Tatsache freilich, daß die ernst zu nehmenden Gegner des Hypnotismus immer spärlicher werden, ist ein erfreulicher Beweis dafür, daß die Wissenschaft des Hypnotismus auch in weiteren ärztlichen und psychologischen Kreisen immer mehr Boden gewinnt. Immerhin melden sich noch immer einige Gegner der Hypnose zu Wort. So erklärt GOLDSCHEIDER (69) - ohne Angabe näherer Gründe - die Hypnose für eine nicht menschenwürdige Sklaverei, obwohl er am selben Ort versichert, daß die schönste und höchste Aufgabe des Arztes sei, die Kranken von Schmerzen zu befreien. ROSENBACH (70) behauptet mit Recht, daß die psychische Beeinflußung niemals Kraft schaffen, sondern nur die Verteilung der Kraft zweckmäßig regulieren könne. Wie er aber daraus der psychischen Behandlung einen Vorwurf machen will, ist uns nicht recht verständlich. Denn Kraft schaffen kann wohl nur die Ernährung. Ist deshalb jede andere Therapie verwerflich?

DURAND de GROS (71) widerlegt die Anschuldigung derer, die in der Hypnose ein moralisches Unrecht erblicken. Es handele sich gar nicht um eine Unterschiebung des Willens beim Hypnotisieren, so daß die Frage der Moral hier nicht am Platz sei. Daß in der Hypnose weder das Bewußtsein aufgehoben ist, noch Willensschwäche eintritt, ist längst von MOLL und anderen erkannt und betont worden. Wir glauben allerdings, wie schon früher angedeutet, daß die tiefe und oberflächliche Hypnose vom ethischen Standpunkt aus verschieden beurteilt werden müssen. Während wir kein Bedenken dagegen sehen können, eine oberflächliche Hypnose einzuleiten, bei der sich der Hypnotiseur darauf beschränkt, Heilsuggestionen zu geben, die sich im Grunde genommen durch nichts von dem unterscheiden, was wir auch im wachen Zustand den Patienten sagen, liegen die Verhältnisse bei der tiefen Hypnose anders. Hier werden unter Umständen Halluzinationen hervorgerufen, es werden Willensvorgänge ausgelöst, die dem normalen Wachzustand fern liegen, mit einem Wort: es werden "unmotivierte" Suggestionen realisiert. Das kann unter Umständen nützlich und notwendig sein, ebenso, wie es unter Umständen nützlich und notwendig ist, einem Kranken Morphium oder andere schwere Gifte zu geben. Aber wie es verwerflich wäre, jeden Schmerz, über den ein Kranker klagt, durch Morphium bekämpfen zu wollen, so ist es notwendig, für die Anwendung dieser tiefen Hypnose, in der eine Alteration des normalen Geisteszustandes eintritt, bestimmte streng einzuhaltende Indikationen aufzustellen. Eine wahllose Anwendung der tiefen Hypnose mit "unmotivierten" Suggestionen - die Erläuterung zu diesem Begriff wir unten gegeben werden - verwerfen auch wir aus ethischen Gründen.

In forensischer Beziehung ist die Hypnose in den letzten Jahren vielfach Gegenstand einer eifrigen Diskussion geworden. Wir erinnern an die verschiedenen sensationellen Prozesse, die Veranlassung gegeben haben, die Frage der kriminellen Suggestionen einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Das Resultat des bekannten Prozesses CZINSKY war, daß die Frage des hypnotischen Verbrechens verneint wurde, übereinstimmend mit den Gutachten von HIRSCH und FUCHS, denen sich GROSSMANN (72) in einer ausführlichen Schrift anschließt, während GRASHEY, von SCHRENCK-NOTZING und PREYER die Frage in bejahendem Sinn beurteilten. Ein Seitenstück zu diesem Prozeß bilder der Prozeß BERCHTOLD, in dem von SCHRENCK-NOTZING (73) die Frage der Beziehung der Suggestion zur Erinnerung aufrollte, um die Glaubwürdigkeit der Zeugen kritisch zu beleuchten.

Einen merkwürdigen Fall von Faszination hat PREYER (74) veröffentlicht, ohne jedoch den zwingenden Nachweis zu erbringen, daß die Suggestion das bewegende Motiv zur seltsamen Handlungsweise von Frau ELLIDA von PORTA gewesen sei. von VELSEN (75) veröffentlicht einen Fall von Lethargie in Folge verbrecherischen Hypnotisierens; ferner einen zweiten Fall, in dem in Folge fehlerhaften Hypnotisierens Hysterie ausgelöst wurde: beide wurden übrigens wiederum durch Hypnose geheilt. STADELMANN (76) knüpft einige Bemerkungen an den Tod der ELLA von SALAMON und erörtert die Frage, ob durch die bloß Vorstellung der Tod hervorgerufen werden könne; diese Möglichkeit dürfte ebenso nahe liegen, wie die Frage, ob durch die bloße Vorstellung der Tod aufgehoben oder vermieden werden könne. Der Verfasser hat selbst Gelegenheit gehabt, in einem forensischen Gutachten der Frage der kriminellen Hypnose näher zu treten. Wir sind der Überzeugung, daß man in solchen Situationen sehr scharf unterscheiden müsse zwischen der eigentlichen Hypnose und der hysterischen Autohypnose. Vielleicht in den meisten einschlägigen Fällen dürfte es sich um den letzteren Zustand handeln, so daß der forensische Nachweis der Schuld des Angeklagten nicht geführt werden kann, es sei denn, daß der Hypnotisierende vom hysterischen Charakter der betreffenden Person Kenntnis erlangt hätte und seine verbrecherischen Absichten auf die Ausnützung dieses Umstandes gründete.

Eine andere, mehr physiologische Gefahr der Hypnose hat GLEY (77) beim Studium von Tierhypnosen entdeckt. Er fand bei der Hypnose von jungen Fröschen Verlangsamung des Pulses, ja sogar Stillstand der Atmung und Herztätigkeit bis zum Tod und er knüpft an diese Versuche die Warnung, junge Kinder zu hypnotisieren, dab bei ihnen die gleichen Erscheinungen auftreten könnten. Es ist uns rätselhaft, wie diese seltsamen Resultate zustande gekommen sind; wir gestehen, eine Hypnose von Fröschen noch nie gesehen oder auch nur für möglich gehalten zu haben. Wie dem auch sein mag, so ist sicherlich die Hypnose der Tiere, die ja vielfach beschrieben worden ist, ein Zustand, der dem der menschlichen Hypnose nicht ohne weiteres analog gesetzt werden darf, da er auf gänzlich anderem Weg hervorgerufen wird und andere Erscheinungen aufweist.

Daß es heute noch Professoren der Theologie gibt, die die Hypnose verwerfen, kann nicht wunder nehmen. Daß die Verblendung dieser Gegner aber so weit geht, ohne Kenntnis der Wissenschaft die Behauptung in die Welt zu setzen, daß die Besessenheit nichts weiter sei, als eine diabolische Hypnose, daß der Hypnotismus ein moralisches Gift sei und eine Schädigung der Menschen an Leib und Seele hervorbringe etc., sollte man kaum glauben, wenn nicht SCHÜTZ (78) und HAAS (79) mit schwer verständlichem Eifer dafür Sorge getragen hätten, daß diese Anschauungen der Nachwelt nicht vorenthalten bleiben. Auch BENEDIKT (80), der bekannte "Neuropathologe" ergeht sich in ergötzlichen Schmähungen des Hypnotismus. Er erklärt die Hypnose als eine Gehirnstarre und behauptet, daß an die Stelle dieses gemeinschädlichen und unwürdigen Verfahrens - risum teneatis amici - [Horaz: "Könntet, ihr Freunde, anders als lachen?" - wp] die Behandlung mit dem Magneten gesetzt werden müsse.

Nach dieser Exkursion in das Gebiet des Spaßhaften kehren wir zu den ernsten Forschern und Forschungen zurück. Die Frage der kriminellen Suggestionen, die, wie wir soeben gesehen haben, nicht selten zum Ausgangspunkt von Angriffen gegen die therapeuthische Anwendung der Hypnose gemacht wird, ist von LIÉBEAULT (81) mit Rücksicht auf die früheren, negativen Versuche DELBOEUFs einer erneuten, experimentellen Untersuchung unterworfen worden. LIÉBEAULT mit Rücksicht auf die früheren, negativen Versuche DELBOEUFs einer erneuten, experimentellen Untersuchung unterworfen worden. LIÉBEAULT kommt zu dem Schluß, daß kriminelle Suggestionen prinzipiell sehr wohl möglich sind, aber nur unter gewissen exzeptionellen Bedingungen und zwar
    1) nur bei Somnambulen;
    2) nur bei einem Teil der Somnambulen;
    3) nur, wenn die betreffende Versuchsperson von der zu gebenden Suggestion
ahnungslos überrascht werden, so daß sie keine Gelegenheit haben, im wachen Zustand einen Widerstand dagegen auszubilden. Diese Bedingungen, die LIÉBEAULT nur für die Realisierung krimineller Suggestionen aufstellt, haben wir sogar in allgemeinerem Sinne bestätigt gefunden. Wenn man einer Versuchsperspn, mit der man in der Somnambulie experimentieren will, vorher sagt, welche Experimente man mit ihr machen wolle, so mißlingen sie stets, sobald die Versuchsperson sich aus irgendwelchen Gründen vornimmt, dagegen Widerstand zu leisten. Entgegen der Behauptung also, daß die sonderbaren Erscheinungen der Somnambulhypnose nur auf der Dressur der Individuen beruhen, liegen die Verhältnisse vielmehr häufig umgekehrt. Die nichtsahnende Versuchsperson, mit der man zum erstenmal experimentiert, realisiert alle, noch so unsinnigen Suggestionen. Die dressierte Versuchsperons dagegen realisiert - es sei denn absichtlich, um dem Hypnotiseur einen Gefallen zu tun - keine unsinnigen Suggestionen, von der sie vorher Kenntnis erlangt hat, auf die sie vorbereitet ist. Zu einem ähnlichen Resultat, wie LIÉBEAULT, ist auch DURAND de GROS gekommen, der die Frage der Möglichkeit von Verbrechen in der Hypnose ebenfalls bejaht. Der Hervorrufung falscher Zeugenaussagen durch Suggestionen, wie sie im Prozeß BERCHTOLD von von SCHRENCK-NOTZING behauptet worden ist, ist BÉRILLON (82) experimentell nähergetreten. Er fand, daß es bei Erwachsenen 20% der Fälle gelingt, durch bloße Wachsuggestion Erinnerungstäuschungen hervorzurufen.

Dieser Erörterung über die Frage der kriminellen Suggestionen mögen einige kritische Bemerkungen folgen, die sich auf einige in der neueren Literatur berichtete Wirkungen der Suggestivtherapie beziehen und die uns zu der Frage nach der Erklärung der durch Suggestion hervorgerufenen Erscheinungen, sowie zu einer schärferen Fassung des Begriffes der Suggestion überleiten sollen. Zuvor jedoch wollen wir uns einer Pflicht der Objektivität entledigen, indem wir noch eines seltsamen Gegners der Suggestivtherapie gedenken. THILO (83) behauptet in der Monatsschrift für Unfallheilkunde 1897, daß die Gelenkschmerzen der Hysterischen nicht auf psychogenem Weg entstehen, sondern sich aus denselben Ursachen entwickeln, wie bei anderen Sterblichen auch. Aufgrund dieser Tatsache, die übrigens noch niemals ernsthaft bestritten worden ist, behandelt THILO hysterische Kontrakturen mit Gips- und Schienenverbänden, passiven Bewegungen etc.; und er ist naiv genug zu behaupten, daß dabei jede Suggestion ausgeschlossen sei. Aber seine souveräne Verachtung der Suggestion hat doch wenigstens eine Grenze. Wenn nämlich die von ihm behandelten Patienten gebessert aus der Behandlung entlassen sind, so stellt ihnen THILO Rückfälle in sichere Aussicht, falls sie nicht ein Jahr lang in seiner Anstalt mit Massage, Heilgymnastik und Bädern weiter behandelt werden. Vielleicht findet dieser Gebrauch der Suggestion bei einer vorurteilsloseren Nachwelt die gebührende Anerkennung.

Es dient sicherlich nicht zum Fortschritt der hypnotischen Wissenschaft und zur Förderung ihrer Anerkennung in weiteren, wissenschaftlichen Kreisen, wenn die Erfolge der hypnotischen Behandlung von Seiten einiger Autoren gar zu unkritisch publiziert werden. So veröffentlichte STADELMANN (84) 1887 sehr ausführliche Krankengeschichten mit allen notwendigen Suggestionen, die jedoch an einem schwerwiegenden Fehler kranken: nämlich, daß die hinzugefügten Diagnosen von Magenkrankheiten, Epilepsie etc. rein willkürlich und unwissenschaftlich sind, da man schon aus der Lektüre der Fälle den Eindruck gewinnt, daß es sich um hysterische Zustände handelt. Noch verfehlter scheint es uns, Fälle von Ekzema, Furunkulosis, Urticaria [Nesselsucht - wp], ulcerierendem Mammakarzinom [Brustkrebs - wp] usw. zu veröffentlichen, die durch hypnotische Behandlung gebessert oder gar geheilt sein sollen. Ohne den tatsächlichen Erfolg der hypnotischen Behandlung anzweifeln zu wollen, was uns gänzlich fern liegt, müssen wir doch gestehen, daß derartige Veröffentlichungen nur solange den Zweck haben, die allgemeine Meinung über die Leistungen der Hypnose zu verwirren, solange wir nicht dahin streben, die eigentliche causa efficiens [wirkende Ursache - wp] dieser therapheutischen Einwirkung ausfindig zu machen. Denn daß die Suggestion als solche auf direktem Weg imstande sein sollte, eine bestehende Hautkrankheit zu beseitigen, kann man nur annehmen, wenn man sich jeden Restes wissenschaftlichen Denkens entledigt hat. Und doch stehen derartige Veröffentlichungen von Seiten anerkannter und hervorragender Vertreter des Hypnotismus nicht vereinzelt da. So beschreibt DELBOEF (85), dem allerdings seine Eigenschaft als Laie zur Entschuldigung dient, die Heilung einer seit 11 Jahren bestehenden Kinderlähmung durch Suggestion in 1 Monat. Wir fragen: worauf gründet sich die Diagnose "Kinderlähmung" in diesem Falle und ist die Heilung in der Weise zu verstehen, daß die ursprünglich von der Lähmung befallenen Muskeln durch die Behandlung wieder funktionsfähig geworden sind? In einem anderen Fall will DELBOEF (86) die Heilung einer 8 Jahre lang bestehenden Arthritis deformans in einer einzigen Sitzung erreicht haben. Wir fragen wiederum: Was versteht DELBOEF in diesem Fall unter "Heilung"? Ebenso unverständlich sind uns die Erfolge, die BONJOUR (87) veröffentlicht hat, um den Einfluß der Psyche auf den Körper zu zeigen. Es gelang ihm nämlich, Warzen nach einer einmaligen Suggestion im Wachzustand in einem Zeitraum von 5 Tagen bei 4 Probanten zu heilen. Das Vertrauen BONJOURs in diese wunderbare Wirkung seiner Wachsuggestionen ist umso erstaunlicher, als er seiner Publikation eine Bemerkung hinzufügt, die nach unserer, unten ausführlicher zu erläuternden Auffassung recht wohl geeignet sein könnte, auf den wahren, ursächlichen Zusammenhang dieser Ereignisse Licht zu werfen. Er gibt nämlich an, daß die Heilung bei denjenigen Personen später zustande komme, die nach der Sitzung mit dem Kratzen und Schneiden der Warzen fortfahren. Anstatt aber aus dieser Beobachtung den Schluß zu ziehen, daß die Wachsuggestion bei den geheilten Personen zunächst keinen anderen Effekt gehabt habe, als sie zum Aufhören des fortwährenden Mißhandelns der Warzen zu bestimmen und daß dadurch allein schon das spontane Abfallen der Warzen bedingt sein könnte, kommt BONJOUR zu dem erheiternden Resultat, daß die Warzen öfters durch einen nervösen oder psychischen als durch einen physischen Reiz gebildet würden. Auch BÉRILLON (88), dessen Verdienste um die Ausbreitung der Lehre vom Hypnotismus gewiß jeder anerkennen wird, hat es sich nicht versagen können, einen Fall von Sykosis [Bartflechte - wp] zu veröffentlichen, der 9 Monate ohne Erfolg von Dermatologen behandelt und sodann durch das zweimalige Gebet einer alten Frau geheilt wurde. Als ob der Begriff der Spontanheilung gänzlich verloren gegangen wäre! Der größte Ruhm in dieser Beziehung gebührt jedoch LUYS, dessen Phantasie schon so viele wunderliche Blüten gezeitigt hat. Dieser Forscher stellte in der Sitzung der Sociéte de Biologie vom 21. August 1894 einen 28-jährigen Koch mit hysterischen Anfällen vor, dem vor 5 Jahren der kleine Finger der rechten Hand exartikuliert worden war. Nichtsdestoweniger fühlte der Patient in der Hypnose Schmerzen, wenn man die Stelle, die dem amputierten Glied entsprach, stach oder kneipte und gab jedesmal richtig den Schmerz an. Er bekam auch infolge dessen - horribile dictu [schrecklich, das sagen zu müssen - wp] - ein Erythem [Hautausschlag - wp] sowie eine Lymphangitis [bakterielle Infektion der Lymphgefäße - wp] an dem betreffenden Vorderarm.

Diese Blütenlese, die sich leicht um ein Bedeutendes vermehren ließe, dürfte indessen bescheidenen Ansprüchen genügen. Solange derartige Anschauungen und "Erfolge" von hervorragenden Vertretern des Faches veröffentlicht werden, können wir es keinem ernsthaften und wissenschaftlich denkenden Forscher verargen, wenn er sich der Lehre vom Hypnotismus gegenüber ablehnend verhält. Hoffentlich erleben wir bald die Zeit, wo die publizierten Heilerfolge der Hypnotherapie sich auf exakt begründete Diagnosen stützen und wo man sich nicht mehr damit begnügt, die wunderbarsten Erfolge zu berichten, sondern sich die Frage nach einer wissenschaftlichen Erklärung ihres Zustandekommens vorlegt. Bisher liegen in dieser Beziehung nur einige unvollkommene Andeutungen vor, die wir an dieser Stelle einer ausführlicheren Erörterung unterziehen müssen, da sie den Ansatz zu einem Fortschritt der hypnotischen Wissenschaft enthalten. Als mißglückt zu betrachten sind in dieser Beziehung leider die Versuche von LIEBERMEISTER (89) und ZIEHEN (90), die in den modernen Handbüchern der Therapie von PENZOLDT-STINTZING und von EULENBURG-SAMUEL die Darstellung der Hypno- und Psychotherapie übernommen haben. Zur Charakteristik dieser Darstellungen seien wenige Worte gestattet. LIEBERMEISTER teilt im Werk von PENTZOLD und STINTZING die zu verwendenden Suggestionen ein in
    1) direkte
    2) indirekte
    3) konträre
    4) unbestimmte Suggestionen
Wenn man schon geneigt sein wird, über die dritte Gruppe der konträren Suggestionen den Kopf zu schütteln, bei der man den Patienten das Gegenteil von dem befehlen soll, was man zu erreichen wünscht, so erscheint doch die vierte Gruppe der unbestimmten Suggestionen in einem noch merkwürdigeren Licht. Diese unbestimmten Suggestionen werden nämlich von LIEBERMEISTER selbst dahin definiert, daß bei ihnen weder Arzt noch Patient wisse, was bezweckt wird. Bei diesem Verfahren dürften wohl auch, um nicht aus dem Rahmen der ganzen Therapie herauszufallen, die Erfolge "unbestimmt" sein; und es kann daher nicht wunder nehmen, wenn LIEBERMEISTER die Behauptung aufstellt: es sei leichter, durch Hypnose einen gesunden Menschen hysterisch zu machen, als eine Hysterie dauernd zur Heilung zu bringen. Viel wertvoller ist demgegenüber die Psychotherapie ZIEHENs, die im Lehrbuch der allgemeinen Theraphie von EULENBURG und SAMUEL erschienen ist. Besonders die Definition der Suggestion, die ZIEHEN in dieser Arbeit gibt, wird uns später noch zu beschäftigen haben. Auffallend ist jedoch, daß ZIEHEN die Wirkung der Psychotherapie auf die sogenannten funktionellen Veränderungen beschränkt, trotzdem in der Literatur zu Hunderten von Malen Heilerfolge von organischen Erkrankungen veröffentlicht sind. Es dürfte zwecklos sein, diese Erfolge einfach wegzuleugnen oder sie wie ZIEHEN es tut, "einem unkritischen Übereifer" zur Last zu legen. Vielmehr ist die Aufgabe, die uns daraus erwächst, nach der wirksamen Ursache dieser Erfolge zu fahnden.

Einen Schritt zur Lösung dieser Frage, von der die wissenschaftliche Zukunft der Lehre vom Hypnotismus abhängig ist, haben die folgenden Arbeiten getan, die wir nunmehr besprechen wollen. Zunächst hat BRÜGELMANN (91) eine sehr einfache, experimentelle Lösung für das Problem der Telepathei gefunden, das schon seit längerer Zeit die Wissenschaft beunruhig hatte. Er hat nämlich den Nachweis geführt, daß die telepathischen Halluzinationen der Somnambulen, die er untersuchte, in sämtlichen Fällen falsch waren. Dieses Resultat bestätigt den alten Satz, daß es leicht ist, zu prophezeien, wenn das Eintreffen der Prophezeiung nicht kontrolliert wird. Mit dem Problem der Gedankenübertragung haben sich HANSEN und LEHMANN (92) kritisch-experimentell beschäftigt. Sie wiesen nach, daß eine deutliche Flüstersprache möglich sei bei völlig geschlossenem Mund und minimalen, fast unsichtbaren äußeren Bewegungen. Die hypnotische Hyperacous [schmerzhafte Überempfindlichkeit gegenüber gegenüber Lautstärke - wp] wurde in geistreicher Weise durch die Verwendung zweier Hohlspiegel nachgeahmt. Sie fanden bei ihren Experimenten, daß durch dieses Flüstern eine "Gedankenübertragung zustande komme, die in 75% der Fälle zu richtigen Ergebnissen führte. Den wertvollsten Beitrag zur Kritik der hypnotischen Phänomene jedoch hat von SCHRENCK-NOTZING (93) geleistet, in seinem Beitrag zur Frage der suggestiven Hervorrufung circumscripter vasomotorischer [begrenzter, die Bewegungen der Blutgefäße betreffende - wp] Veränderungen auf der äußeren Haut. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes ist eine ausführliche Besprechung am Platze. Bei dem nicht hysterischen Dienstmädchen eines Arztes, welches nur eine geringe vasomotorische Übererregbarkeit der Haut zeigte, wurde durch Suggestion das Phänomen der Vesikation [Blasenbildung - wp], die Hervorrufung einer Wasserblase an einer vorher bezeichneten Stelle beobachtet. Um den Versuch wissenschaftlich exakter zu gestalten, wurde das Mädchen einem Kollegium von 12 Ärzten und Professoren der Medizin zur Beobachtung übergeben und in Gegenwart derselben das Experiment mit der Vorsichtsmaßregel wiederholt, daß über die bezeichnete Stelle ein sorgfältiger, versiegelter Verband gelegt wurde. Bei der nach 24 Stunden erfolgten Abnahme des Verbandes wurde an der bezeichneten Stelle eine circumscripte Rötung mit mehrfachen kleinen Bläschen, ein Erythema bullosum [Hautausschlag mit Blasenbildung - wp], konstatiert. Nun wurden, zumals sich der Verband an einigen Stellen einer Verletzung verdächtig erwies, noch schärfere Kautelen [Vorbehalte - wp] eingeführt, indem der Arm, an dem die Vesikation beobachtet werden sollte, eingegipst und eine ständige, Tag und Nacht dauernde Überwachung der Versuchsperson durchgeführt wurde. Bei der Entfernung des Verbandes fand sich eine circumscripte Hautröthung ohne Blasenbildung, jedoch nicht an der Dorsalseite [Rückseite] des Vorderarms, wo es suggeriert worden war, sondern an der Volarseite [Oberseite - wp] des Armes, die durch den Gipsverband minder sorgfältig geschützt war. Zugleich wurde eine Perforation des Verbandes durch eine Haarnadel gefunden, die trotz der andauernden Überwachung unbemerkt geblieben war. Endlich wurde beobachtet, daß noch nach der Abnahme des Verbandes ein häufigeres Reiben der geröteten Stelle stattfand, um dieselbe möglichst lange zu erhalten. Dieses Ergebnis veranlaßte zu einem letzten Experiment, in dem alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln getroffen wurden: es wurden beide Arme eingegipst und immobilisiert, ferner die Versuchsperson Tag und Nacht von Medizinern beobachtet und nicht aus den Augen gelassen. Das Resultat war nunmehr ein völlig negatives: weder Blasenbildung noch Hautrötung war durch die Suggestion hervorgerufen worden. von SCHRENK-NOTZING zieht aus diesen interessanten Experimenten den Schluß, daß die Behauptung suggestiv erzeugter Vesikation nicht erwiesen sei und in das Reich der Übertreibung gehöre. Wie wir meinen, mit Unrecht. Wir glauben vielmehr, daß aus dieser wertvollen Reihe von Experimenten, deren Erfolg in umgekehrter Proportion zu den aufgewandten Kontrollmaßregeln stand, ganz andere und bedeutsamere Schlüsse gezogen werden müssen. Wir halten es für verfehlt, angesichts dieser Experimente in den Ruf derer einzustimmen, die in jeder ungewöhnlichen Erscheinung, die nicht ohne weiteres in den Rahmen der naturwissenschaftlichen Formeln hineinpaßt, Betrug oder Simulation wittern. Vielmehr können wir nicht umhin, das Resultat des ersten Experiments, bei dem von einem wissenschaftlichen Beobachter eine Vesikation nach suggestiver Beeinflußung gesehen wurde, für ebenso wahr und unumstößlich zu halten, wie das negative Ergebnis des letzten Versuches. Das Problem liegt für uns vielmehr in der Erklärung des Zustandekommens solcher Resultate. Daß die direkte Suggestion als solche nicht imstande ist, das Phänomen der Vesikation zu erzeugen, ist durch den Ausfall des letzten Experimentes klar und eindeutig bewiesen. Woher kommt es aber, daß bei geringerer Beaufsichtigung das Phänomen enstprechend der Suggestion dennoch ganz oder teilweise zustande kam? Die Annahme einer bloßen Simulation scheint mir zu diesem Behuf unmotiviert und unfruchtbar; obwohl es keinem Zweifel unterliegen kann, daß die Blasenbildung durch eine willkürliche Mithilfe der Versuchsperons zustande gekommen ist. Aber das Lehrreiche daran ist die Tatsache, daß sich die Versuchsperson infolge der Suggestion veranlaßt sah, alle ihre Kräfte in den Dienst der Ausführung des aufgetragenen Befehles zu stellen. Sie hatte, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, augenscheinlich selbst ein Interesse daran, dem Wunsch des Hypnotiseurs auf irgendeine Weise nachzukommen und ihre Bemühungen waren in der Tat von Erfolg gekrönt, solange sie nicht gehindert wurde, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu arbeiten. In dieser Tatsache können wir keineswegs den Versuch einer Täuschung erblicken: wir halten vielmehr für wesentlich, daß die hypnotisierte Person auf irgendeinem Weg bestrebt ist, dem erhaltenen Befehl nachzukommen. Hierin scheint uns zugleich eine Wurzel für die Erklärung vieler außergewöhnlicher Erscheinungen der hypnotischen Phänomenologie gegeben zu sein: die in der Hypnose gegebenen Suggestionen realisieren sich nicht immer direkt gleichsam psycho-physiologisch, indem sie eine direkte Veränderung im Nervensystem hervorbringen, sondern häufig auf einem indirekten Umweg, indem sich der Hypnotisierte bemüht, der erhaltenen Suggestion in irgendeiner, mehr oder minder willkürlichen Weise gerecht zu werden. Für diese Erklärung der Wirkungsweise mancher Suggestionen sprechen vielerlei Tatsachen. Gibt man z. B. einem Hypnotisierten die Suggestion, seine Herztätigkeit werde sich beschleunigen, so realisiert sich diese Suggestion in der Weise, daß - sei es aus Angst, sei es willkürlich, im Wunsch, dem Befehl des Hypnotiseurs nachzukommen, - sich die Frequenz der Atmung vermehrt und infolge dessen sekundär die Herztätigkeit tatsächlich beschleunigt wird. Ähnlich verhält es sich mit der suggestiven Behandlung der Obstipation [Verstopfung - wp]. Fast stets ist diese Erkranung zurückzuführen auf eine Vernachlässigung der hygienischen Lebensgewohnheiten. Begibt sich nun der Kranke, der an diesem Übel leidet, in hypnotische Behandlung, so wird der geschickte Hypnotiseur ihm das Eintreten des Stuhlganges zu einer Zeit suggerieren, wo derselbe physiologisch am leichtesten erfolgt, also Morgens bald nach dem Aufstehen oder eine Stunde nach der Mahlzeit. Was geschieht nun? Während der Kranke früher den leisen Mahnungen seines Verdauungssystems keine Beachtung geschenkt und sich eben dadurch die Obstipation zugezogen hatte, achtet er jetzt, sei es aus Neugier, sei es infolge der erhaltenen Suggestion, eifrig auf das geringste Anzeichen, das ihm die Neigung, zu Stuhle zu gehen, verrät. Ist der Stuhlgang für 8 Uhr Morgens suggeriert, so wird er sich etwa schon um halbacht innerlich sagen: "Ich bin doch neugierig, ob die Sache eintreffen wird."; die leisesten Bewegungen der Därme, denen er früher keine Beachtung geschenkt hat, widmet er jetzt die gespannteste Aufmerksamkeit und siehe da: es gelingt ihm, vielleicht mit geringer willkürlicher Nachhilfe, die erhaltene Suggestion zu realisieren. Natürlich kann sich der psychologische Vorgang in einem solchen Fall auch anders abspielen. Statt der Neugier oder der aufmerksamen Erwartungsspannung kann ein affektives Moment, etwa eine gewisse Ängstlichkeit, durch das Eintreten des Stuhlganges bei einer unpassenden Gelegenheit überrascht oder gestört zu werden, den gleichen Endeffekt hervorrufen. Auf demselben Wege denken wir uns auch, wie schon oben angedeutet, das Zustandekommen der von STADELMANN, BONJOUR, BÉRILLON und anderen berichteten Heilerfolge bei Warzen und anderen Hauterkrankungen. Es ist zweifellos, daß bei vielen Hautkrankheiten das fortwährende Betasten, Reiben, Kratzen der erkrankten Stellen eine Hartnäckigkeit des Prozesses bedingt, die an und für sich nicht im Charakter der Krankheit begründet sein mag. Wird nun durch die Suggestion erreicht, daß diese Schädigungen fortfallen, so kann vielleicht schon dadurch oft die natürliche Neigung der Krankheiten zur Spontanheilung zum Ausdruck gelangen. Noch viele andere Erscheinungen in der Hypnose fügen sich diesem Erklärungsprinzip. So haben wir schon früher angedeutet, daß wir in den KRAFFT-EBINGschen Experimenten über die Verwandlung der Persönlichkeit nichts weiter als eine geschickte Komödie erblicken können, deren Veranlassung freilich nicht die Neigung zur Simulation, sondern nur das Bestreben ist, die erhaltenen Suggestionen so gut wie möglich auszuführen. Am deutlichsten aber erhellt dieses Bestreben vielleicht aus dem Studium der hypnotischen Experimente, die an Kindern von BÉRILLON, BRAMWELL u. a. angestellt worden sind. BÉRILLON (94), auf dessen wertvolle Arbeiten wir in einem der folgenden Kapitel näher eingehen werden, gibt zur Feststellung der Suggestibilität der Kinder folgendes Experiment an: Er bittet das zu untersuchende Kind, mit gespannter Aufmerksamkeit einen Stuhl anzublicken, der in einer gewissen Entfernung in der Ecke des Zimmers aufgestellt ist. Sodann gibt er folgende Suggestion: "Sieh aufmerksam diesen Stuhl an; du wirst trotz deines Widerstrebens, das unwiderstehliche Bedürfnis fühlen, dich dorthin zu setzen. Du wirst gezwungen sein, meinem Befehl zu gehorchen, welches Hindernis sich auch seiner Verwirklichung entgegenstellen mag." Die meisten Kinder führen in der Tat diesen Befehl aus und werden dann für leicht hypnotisierbar erklärt: auch in der Hypnose gelingt es bei ihnen leicht, ähnliche Suggestionen zu realisieren; sie legen auf Wunsch des Hypnotiseurs krankhafte Neigungen und Ungezogenheiten, wie Nägelknabbern, Onanieren, Furchtsamkeit, die Sucht zu lügen und zu stehlen etc. ab und werden artig und brav. In diesem Resultat, das gewiß von allen Seiten dankbar anerkannt werden wird, können wir trotzdem keine eigentliche Suggestivtherapie im engeren Sinn des Wortes erblicken. Es handelt sich nach unserer Auffassung um einen Akt des Gehorsams und der Belehrung: die Kinder fügen sich - je intelligenter sie sind, um so leichter - den mit Milde und Ernst gegebenen Ermahnungen, zumal wenn sie von der ungewohnten un in ihrer Vorstellung höheren Autorität des Arztes ausgehen. Es handelt sich also, um den Kern der Sache zu treffen, nicht um einen hypnotisch-suggestiven Vorgang im engeren Sinne, sondern um ein psycho-therapeutisches Verfahren, das sich auf dieselben Faktoren gründet, die in der Pädagogik allgemein wirksam gefunden werden.

Es wäre ein Leichtes, die Beispiele, die für die von uns gegebene Erklärung mancher hypnotischer Erscheinungen und Erfolge sprechen, beträchtlich zu vermehren. Wir hoffen jedoch, schon durch das Angeführte den Nachweis erbracht zu haben, daß nicht selten die in der Hypnose oder im wachen Zustand gegebene Suggestion nicht direkt wirkt, sondern vielmehr auf indirektem Weg, indem sie die Neigung der Person wachruft, dem erhaltenen Befehl willkürlich nachzukommen. Wir betonen ausdrücklich, daß dieses Erklärungsprinzip zunächst nur für die eine, allerdings ziemlich große Reihe von Erscheinungen gilt, ohne daß wir den Versuch machen wollen, alle hypnotischen Phänomene darauf zurückzuführen. Es wird gewiß manche voreilige Gegner des Hypnotismus geben, die nach Kenntnisnahme dieser Erklärung zu dem verfehlten Ergebnis kommen, daß die ganze Hypnose und die Suggestivtherapie doch nur Komödie und Schwindel seien. Das hieße jedoch, das Kind mit dem Bade ausschütten. Wir sehen keine Veranlassung ein, die tatsächlichen Erfolge der hypnotischen Behandlung zu leugnen oder auch nur zu diskreditieren, trotzdem wir bestrebt sind, sie auf einem natürlichen Weg zu erklären, als es bisher üblich war. Wenn auch die Wirkung der Suggestion, die wir einem Hypnotisierten geben, daß er zu einer angegebenen Zeit Stuhlgang haben werde, nicht so vorgestellt werden darf, da ß die psychophysiologische Erregung, die das Äquivalent der erweckten Suggestivvorstellung ist, vom Hirn direkt in das Gedärm hinabrutscht - man nennt das dann eine vom Großhirn ausgehende zentrifugale Bahnung - und dort zur festgesetzten Zeit die gewünschte Wirkung hervorbringt, so bleibt doch das Resultat der therapeutischen Einwirkung das gleiche; und wenn es einmal notwendig sein sollte, was ja freilich nicht der Fall sein wird, zu irgendeinem therapeutischen Zweck eine Wasserblase auf der Haut eines Kranken zu erzeugen, so darf es dem Arzt sehr gleichgültig sein, ob die bloße Suggestion diesen Effekt hervorgebracht hat oder ob der Kranke selbst willkürlich durch Reiben, Kratzen etc. ein wenig nachgeholfen hat, um die Realisierun der Suggestion herbeizuführen.

Inwiefern das angegebene Erklärungsprinzip geeignet ist, zu einer schärferen Definition des Begriffes der Suggestion zu führen, werden wir im theoretischen Teil ausführlicher erörtern. An dieser Stelle sollen nur einige Hinweise hinzugefügt werden, die für die richtige Auffassung des Folgenden notwendig sind. Zunächst scheint uns aus der obigen Darstellung hervorzugehen, daß der zwangsmäßige Charakter, der vielfach den Suggestionen als Charakteristikum zugeschrieben wird, in recht zahlreichen Fällen fehlt. Statt dessen werden die Suggestionen häufig, sei es aus Gehorsam, aus Gefälligkeit oder infolge der Überredeung des Hypnotiseurs, mehr minder willkürlich ausgeführt. Einen Beweis für diese Behauptung erblicken wir auch darin, daß in der Hpynose nichts ausgeführt werden kann, was nicht unter Umständen auch willkürlich ausgeführt werden könnte: für das motorische Gebiet ist diese Tatsache wenigstens offensichtlich. Zugleich erklärt unsere Auffassung noch eine andere Erscheinung, die bisher nicht genügend in der Theorie der Suggestionslehre berücksichtigt worden ist: die Erscheinung, daß nur diejenigen hypnotisierbar und suggeribel sind, mit geringen Ausnahmen, die sich willkürlich dazu hergeben, die damit einverstanden sind, die keinen äußeren oder inneren Widerstand dagegen leisten. Kein Wunder! Wenn die Suggestionen sich vielfach auf dem Weg realisieren, daß die Versuchspersonen veranlaßt werden, willkürlich das auszuführen, was ihnen aufgetragen wird, ohne daß ein eigentlicher Zwang vorliegt, so ist es klar, daß das nicht geschehen wird, wenn die Versuchsperson aus irgendwelchen Gründen es nicht will. Der scheinbar zwangsmäßige Charakter, der der Realisierung der Suggestionen dennoch manchmal anhaftet, kommt entweder dadurch zustande, daß die Hypnotisierten sich über das eigentliche Motiv ihrer Handlungen nicht klar sind, oder durch gewisse Angstvorstellungen, die in einer Zahl von Fällen mitwirken, um die Realisierung der Suggestion herbeizuführen.

Der Anschauung entsprechend, daß die Hysterie in enger Verwandtschaft mit den Phänomenen der Hypnose stehe, wollen wir einige kritische Bemerkungen zur modernen Auffassung der Hysterie machen, zu denen die Arbeiten der letzten vier Jahre Veranlassung geben. Eine ausführliche Zusammenstellung der gesamten Literatur über Hysterie aus den Jahren 1896 und 1897 ist in dieser Zeitschrift erschienen, auf die wir deshalb verweisen. Die Anregung zu einem wesentlichen Fortschritt in der Lehre von der Hysterie verdanken wir FREUD und BREUER (95), die in ihren Arbeiten auf eine psychische Aetiologie [Ursachenforschung - wp] der Hysterie hinweisen, die durch Analyse im hypnotischen Zustand erkannt worden war. Es handelt sich nach ihrer, durch ausführliche Krankengeschichten begründeten Auffassung, gewöhnlich um ein infantiles sexuelles Trauma, dessen unbewußte Erinnerung später die hysterischen Symptome hervorbringt. Gelingt es, den hierdurch verursachten, "eingeklemmten" Affekt durch die Erhebung ins Bewußtsein gleichsam zu befreien und dann abzureagieren, so sei hiermit die Bedingung zur Heilung des Zustandes gegeben. Diese Auffassung enthält nach unserer Meinung einen sehr wertvollen und richtigen Gesichtspunkt, insofern, als hier zum erstenmal in einer Anzahl von Fällen der Nachweis erbracht wird, daß der Hysterie eine psychische Aetiologie zugrunde liegen kann; sie erscheint uns jedoch fehlerhaft, wenn die Ergebnisse dieser immerhin beschränkten Beobachtungen auf die Allgemeinheit der Fälle übertragen werden. In demselben Sinne hat STADÈLMANN (96) einige Fälle publiziert, in denen nicht ein sexuelles Trauma, sondern irgendein anderer beliebiger Affekt die Hysterie verursacht hatte. Zugleich modifiziert er die kathartische Methode, die FREUD und BREUER im Sinne einer affektiven Erinnerung und einer assoziativen Korrektur verwendet hatten, dahin, daß er für die psychische Ursache der Erkrankung Amnesie suggeriert. Wir haben von dieser Modifikation nie einen Erfolg gesehen. Auf eine andere psychische Ursache, die der Hysterie zugrunde liegen kann, macht SOKOLOWSKI (97) aufmerksam. Nach ihm ist die eigentliche Aetiologie der Hysterie die psychische Degeneration des Individuums. Der Entartete wird durch die Anforderungen des Lebens auf die Minderwertigkeit seiner Geisteskräfte aufmerksam und ist bestrebt, seinen Zustand durch Kranksein zu beschönigen. Es handelt sich also um eine Krankheitsintention mit dem ausgesprochenen Zweck, sich über die eigene psychische Schwäche durch fingiertes Kranksein zu trösten und die Mitwelt zu täuschen. "Hysterie", so definiert SOKOLOWSKI aufgrund dieser Erwägungen, "ist Kranksein als Äquivalent des psychischen Gleichgewichts bei subjektiv empfundener Unzulänglichkeit entarteter Individuen." Wir möchten jedoch auch diese Auffassung nur für eine beschränkte Zahl von Fälle anerkennen, wie denn im Grunde genommen jeder Fall von Hysterie Besonderheiten in der Aetiologie zeigen kann. So haben wir in einer Reihe von Fällen gefunden, daß die Hysterie dadurch zustande gekommen war, daß die Betreffenden nach zu hohen und an und für sich unerreichbaren Zielen, sei es materieller, intellektueller oder ethischer Vollkommenheit strebten, in diesem Streben scheiterten und nunmehr - halbwillkürlich- hysterisch wurden, ohne daß eine besondere Entartung der Individuen als Disposition zugrunde lag. Doch möchten wir auch diese Beobachtung nicht verallgemeinern. Auch der Selbstbeschädigungtrieb, den BOETTIGER (98) für das Charakteristikum der Hysterie erklärt, kann in diesem Sinne einmal ausnahmsweise zur Entstehung oder zur Fortdauer einer Hysterie mit Veranlassung geben, wenngleich es uns unmöglich erscheint, alle Symptome der Hysterie auf diese eine Wurzel zurückzuführen. Sehr treffende Bemerkungen über den Geisteszustand der Hysterischen macht LOEWENFELD (99), indem er die Einseitigkeit der früher üblichen, CHARCOTschen Anschauung rügt, wonach alle Hysterischen launenhaft, bösartig, lügnerisch etc. sein sollen. LOEWENFELD weist vielmehr, im Einklang mit seinen früheren Publikationen, darauf hin, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Hysterischen überaus wertvolle, liebenswürdige und schätzenswerte Geistes- und Seeleneigenschaften mit ihren hysterischen Beschwerden verbindet. Über die Erscheinung der hysterischen Somnambulie, die von LOEWENFELD, BRÜGELMANN, DÖLLKEN, VOGT und anderen beschrieben worden ist, sind schon oben einige Bemerkungen gemacht worden. Der Unterschied zwischen Hysterie und Hypnose bzw. Suggestivphänomenen hat zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen LEUCH (100) und FOREL (101), bei Gelegenheit einer Chorea-Epidemie [ehem. Veitstanz - wp]in einer Schweizer Schule Veranlassung gegeben. LEUCH erklärte den in einer Schule epidemisch im Anschluß an einen Fall von echter Chorea auftretenden Tremor [unwillkürliches Zittern - wp] für ein hysterisches Phänomen, während FOREL die Suggestion dafür verantwortlich machen will. Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen, der uns sogleich weiter beschäftigen wird, wird von FOREL dahin erklärt, daß unter Hysterie eine pathologisch erhöhte Autosuggestibilität zu verstehen sei, während eine gewisse Suggestibilität im Bereich des Normalen liege. DIDIER (102) macht in einer Studie über die hypnotische Behandlung der Kleptomanie darauf aufmerksam, daß Träume eine gewisse Bedeutung für die Entstehung hysterischer Symptome haben können, indem sie den Ausgangspunkt für den Wachzustand bilden. Diese bemerkenswerte Beobachtung führt uns zu den interessanten Studien, die VOGT (103) kürzlich über die Aetiologie der Hysterie veröffentlicht hat. VOGT macht hier den Versuch, einzelne hysterische Symptome durch Analyse des gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes im Zustand des partiell eingeengten, systematischen Wachseins auf eine psychische, intellektuelle oder emotionelle Ursache zurückzuführen, deren Kausalzusammenhang mit der Erkrankung vorher unbewußt geblieben war. Mit dieser Auffassung können wir uns im Allgemeinen einverstanden erklären, da wir selbst häufig Gelegenheit hatten zu beobachten, daß eine emotionell wirksame Autosuggestion die jedesmalige Ursache für das Auftreten oder Andauern irgendeines hysterischen Symptomes oder Zustandes bildete. Im Einzelnen jedoch haben wir gegen die Methode VOGTs einige Bedenken. Es will uns scheinen, als wenn der Kausalzusammenhang, den VOGT durch die Psychoanalyse der Kranken im eingeengten Wachbewußtsein ausfindig macht, nicht selten durch die Methode des Ausfragens den Kranken suggeriert wird oder vielmehr, genauer ausgedrückt, daß die Kranken durch das Ausfragen und die damit sich verbindenden eigenen Bemühungen, den Sachverhalt zu ergründen, verleitet werden, autosuggestiv Kausalzusammenhänge zu konstruieren, die objektiv nicht zutreffend sind. So wertvoll die Selbstbeobachtung als Methode der psychologischen Forschung ist und wiewohl wir zugeben, daß sie die einzige, grundlegende Methode ist, die zur Lösung der psychologischen Probleme führen kann, so müssen wir doch daran festhalten, daß die Selbstbeobachtung als solche prinzipiell nur die Tatsachen des Seelenlebens, aber niemals den Kausalzusammenhang dieser Tatsachen zu ergründen vermag. Wenn man also behauptet, daß zwei seelische Tatsachen miteinander in ursächlicher Verbindung stehen, so kann diese Behauptung niemals durch den Hinweis auf die Ergebnisse der Selbstbeobachtung erwiesen werden, sondern entweder experimentell oder dadurch, daß man einen inneren, logischen Zusammenhang zwischen den beiden Erscheinungen nachweist. Soviel an dieser Stelle über die psychologische Experimentalmethode VOGTs, deren ausführlichere Kritik wir dem theoretischen Teil vorbehalten müssen.

An den Schluß unserer Betrachtungen über die Hysterie möchten wir einige Bemerkungen setzen, die den Gebrauch der Worte: hysterisch, funktionell und suggestiv zu klären versuchen sollen. Es gibt nach unserer Meinung zwei gebräuchliche Anwendungsarten des Begriffes: hysterisch. Die eine engere bezieht sich auf den bekannten Symptomkomplex der Hysterie im eigentlichen Sinne, deren Kardinalzeichen Krämpfe, motorische Paresen [Lähmungen - wp] oder Kontrakturen, taktile und sensorische Anästhesien [Nicht-Wahrnehmung, Empfindungslosigkeit - wp] sind. Im weiteren Sinnes des Wortes wird jedoch alles dasjenige als hysterisch bezeichnet, was funktionellen Ursprungs ist, ohne Teilerscheinung einer Hysterie im engeren Sinne zu sein: hierher gehören z. B. auch alle neurasthenischen Symptome, sei es, daß sie vereinzelt oder zu einem Krankheitsbild vereinigt auftreten; ferner viele Myoclonien [unwillkürliche Muskelzuckungen - wp], choreatische Erscheinungen, Tetanie [krampfartige Störung der Motorik - wp], alle nicht organisch bedingten Psychosen etc. Wenn man nun häufig die Behauptung aufstellt, die hypnotischen Phänomene seien von hysterischem Ursprung oder Charakter, so trifft diese Behauptung zu, solange man den weiteren Begriff des Hysterischen verwendet, wonach er mit dem Begriff des Funktionellen identisch ist. Denn daß die Suggestiverscheinungen ihrem Wesen nach funktionelle Veränderungen des Nervensystems darstellen, darüber kann kein Zweifel sein, obwohl damit keineswegs gesagt ist, daß sie sich in ihren Erfolgen nicht auf organische Krankheiten erstrecken können, wie früher behauptet. Es wäre aber verfehlt zu sagen, daß die Hypnose nichts weiter sei, als eine künstlich provozierte Hysterie, wenn man unter Hysterie im engeren Sinne das oben angedeutete bekannte Krankheitsbild versteht. Die Definition FORELs, (104)die wir oben erwähnten, erscheint uns nicht geeignet, den Unterschied zwischen Hysterie und Hypnose zu markieren, da im Grunde genommen auch alle Fremdsuggestionen erst in dem Augenblick wirksam werden, wo sie sich im Bewußtsein der Personen in Autosuggestionen umwandeln, sodaß ein durchgreifender Wesensunterschied zwischen den wirksamen Fremdsuggestionen und den spontanen Autosuggestionen nicht besteht oder doch wenigstens nicht zu einem Ausgangspunkt der Definition der Hysterie und Hypnose gemacht werden kann. Es genügt nach unserem Dafürhalten, daran festzuhalten, daß die unter normalen Umständen vorhandene Suggestibilität bei der Hysterie in irgendeiner Form schon im Wachleben pathologisch gesteigert ist.

Wir kommen zur Besprechung der Frage, inwiefern die hypnotische Wissenschaft geeignet ist, die Pädagogik zu unterstützen und zu fördern. Diese Frage wir von SOMMER (105) in seiner Diagnostik der Geisteskrankheiten a limine [von vornherein - wp] abgelehnt und als Utopie bezeichnet, während TYKO BRUNNBERG (106), BOURDON (107) und vor allem BÉRILLON (108) dem Hypnotismus eine große Bedeutung für die Pädagogik vindizieren. BÉRILLON, der das Verdienst hat, diese Frage im Jahre 1886 auf dem Kongress der französischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften in Nancy angeregt und seitdem ununterbrochen in zahlreichen Schriften und Vorträgen eifrig befördert zu haben, glaubt, daß mit Hilfe des Hypnotismus eine Art Orthopädie der Seele geschaffen werden könne, die die Zukunft der Pädagogik darstelle. Nachdem er sich am Anfang darauf beschränkt hatte, die Hypnose als ein wertvolles Ergänzungsmittel in der klinischen Pädagogik zu bezeichnen, das bei lasterhaften und entarteten Kindern erst dann - und zwar durch den Arzt - Anwendung finden sollte, wenn die Hilfsmittel der normalen Pädagogik erschöpft seien: ist er im weiteren Verlauf seiner Arbeiten dahin gelangt, das Gebiet der hypnotischen Pädagogik immer mehr zu erweitern und auch auf normale Kinder, sowie auf die Entwicklung normaler psychischer Eigenschaften - unter Mitwirkung der Lehrer - auszudehnen. Nicht nur die Fälle von Kleptomanie und Onanismus, von Onychophagie [Nägelbeissen - wp] und den Charakterstörungen, die bei Chorea, Hysterie und Epilepsie nicht selten beobachtet werden, ferner von Lügenhaftigkeit, übertriebener Ängstlichkeit etc. wurden in den Bereich einer vom Arzt geleiteten, hypnotisch-suggestiven Behandlung gezogen, sondern es wurde der Hoffnung Raum gegeben, daß es gelingen werde, die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis der Kinder auf gleichem Wege zu vermehren, ihre natürlichen Fähigkeiten und Anlagen zu wecken und auszubilden, die Intensität und Modalität der Wahrnehmungen zu verändern, das Bewußtsein zu erleuchten und zu klären, mit einem Wort: die intellektuellen und ethischen Anlagen der Kinder zu entwickeln. Wir sind der Meinung, daß die Suggestion und Hypnose in der Hand des sachverständigen Arztes ein überaus wertvolles Hilfsmittel ist, um Krankheiten und krankhafte Neigungen der Kinder, wie die oben aufgezählten, zu beseitigen, nachdem alle anderen Bemühungen zu diesem Behuf fehlgeschlagen sind; von solchen Fällen veröffentlicht BÉRILLON selbst eine große Zahl, in denen ein sehr günstiger und dauernder Effekt erzielt wurde. Die Hoffnung jedoch, daß die Suggestivmethode jemals in der Hand des Lehrers geeignet sein dürfte, bei der Entwicklung der normalen Anlagen der menschlichen Seele berücksichtigt zu werden, können wir nicht teilen. Wir wollen versuchen, diesen ablehnenden Standpunkt mit einigen Worten zu begründen. Die Definition, die BÉRILLON von der Suggestion und der Suggestibilität gibt, erscheint uns zu weit. Nach ihm ist die Suggestibilität die Fähigkeit, eine empfangene Vorstellung in eine Handlung umzusetzen, also diejenige Fähigkeit des Menschen, auf der allein die Möglichkeit einer Erziehung und seelischen Entwicklung beruth. Wie BÉRILLON den Grad der Suggestibilität experimentell abmißt, ist bereits oben angeführt worden. Wir verstehen unter Suggestion - unter Vorbehalt späterer theoretischer Erörterungen - nur diejeninge seelische Beeinflußung, die sich entweder gänzlich unmotiviert oder aufgrund unlogischer Motive vollzieht. In der Fähigkeit, normal motivierte Vorstellungen in Handlungen umzusetzen, erblicken wir dagegen nur einen Akt des Gehorsams, der Überzeugungskraft, der Belehrung, also von Faktoren, die im wachen Zustand auch ohne Anwendung der Hypnose wirksam sind, und zwar umso wirksamer, je intelligenter und ethisch gebildeter die Versuchspersonen sind, mit denen man operiert. Wenn also BÉRILLON die Kinder hypnotisiert und ihnen Suggestionen erteilt, um sie intellektuell und ethisch zu fördern, so tut er im Grunde genommen nichts anderes, als was die Pädagogen im Wachzustand betreiben, freilich in einer Form, die von der üblichen stark abweicht. Aber diese hypnotische Form, in die er die Suggestivwirkung einkleidet, ist überflüssig und schädlich. Man kann die gleichen Wirkungen auch ohne sie erzielen; ja, es widerspricht dem Wesen der Pädagogik, zu derartigen Hilfsmitteln ihre Zuflucht zu nehmen. Wenn wir es recht erkennen, so hat die Pädagogik die Aufgabe, die Lehren, die sie gibt, möglichst sachlich zu motivieren, indem sie den Kindern die begründete Überzeugung beibringt, daß diese Lehren wertvolle und zweckmäßige Ziele und Lebensregeln darstellen; zur Ergänzung darf höchstens das Motiv der persönlichen Autorität herangezogen werden, je jünger die Kinder und je weniger sie imstande sind, die Gründe, die man ihnen vorführt, zu begreifen. Die Notwendigkeit, sich geistig zu entwickeln und ethisch zu handeln, darf aber unseres Erachtens niemals eine von außer her zwangsmäßig aufgedrängte, unmotivierte und mystische sein, wie es die Kinder in der Hypnose empfinden: das hieße vielmehr, von vornherein auf den Gebrauch der Beine zu verzichten und statt dessen sein Leben lang auf Krücken zu wandeln, was zweifellos möglich ist, aber wohl keineswegs wünschenswert wäre. Wir meinen also: die Suggestionen, die BÉRILLON zur Anwendung in der normalen Pädagogik empfiehlt, sind eigentlich gar keine Suggestionen im strengeren Sinne des Wortes, wie ja auch in der Therapie die unmotivierten Suggestionen möglichst eingeschränkt werden müssen; es ist infolge dessen unnötig und schädlich, sie in eine hypnotische Form zu kleiden, da sie im wachen Zustand ebenso gut und dazu in ethisch wertvollerer Weise verwirklicht werden. Es ist ein Zeichen einer ungenügenden Fähigkeit in der Pädagogik, wenn es dem Lehrer nicht gelingt, im wachen Zustand den etwaigen Widerstand des Kindes zu entwaffnen: die Aufgabe des Lehrers ist nicht, die Seele des Kindes nach Art einer passiven Phonographenwalze zu beschreiben, sondern die Aktivität der kindlichen Seele in die richtigen Bahnen zu lenken. Dazu ist die hypnotische Suggestion ebensowenig imstande, wie es mit Hilfe einer Rute gelingt, ethische Vorstellungen in die Seele des Kindes zu pflanzen.

Zum Schluß unserer Betrachtungen über die praktischen Fortschritte auf dem Gebiet des Hypnotismus möchten wir einen Vorschlag hervorheben, der von verschiedenen Seiten gleichzeitig gemacht worden ist, um die Wissenschaft vom Hpynotismus endlich zur verdienten Anerkennung zu bringen. CROQ FILS (109) hat in einem Bericht an den Minister des Innern und des öffentlichen Unterrichts in Belgien die Bitte ausgesprochen, den Hypnotismus in den akademischen Studienplan einzufügen. FOREL (110) hat die gleiche Notwendigkeit erkannt und betont; auch TATZEL (111) führt die Tatsache, daß der Wert des therapeutischen Hypnotismus noch immer so wenig erkannt wird, mit Recht darauf zurück, daß selbst von denjenigen, die den Hypnotismus praktisch vertreten, teilweise zu wenig Mühe und Sorgfalt auf die Erlernung dieses schwierigen Studiums verwendet wird: auch er fordert deshalb eine akademische Unterweisung in dieser schwierigen, aber außerordentlich wertvollen Disziplin. Wir können uns diesen Wünschen nur anschließen. Wir würden es als einen großen Fortschritt begrüßen, wenn die an den Hochschulen lehrenden Mediziner und Psychologen ihr Interesse auch diesem, gewiß nicht uninteressanten Teil der Wissenschaft zuwendeten, wobei sicherlich vieles von dem verworfen werden müßte, was heutzutage von unkritischer Seite behauptet und verfochten wird, während auf der anderen Seite sicherlich auch vieles dauernd Gute und Wertvolle bestehen bliebe, das sich der leidenden Menschheit ebenso wie der Wissenschaft als nutzbar erweisen könnte.

LITERATUR: Leo Hirschlaff, Kritische Bemerkungen über die Lehre vom Hypnotismus, Nach einem Vortrag gehalten am 30. Juni 1898 in der Psychologischen Gesellschaft, Abteilung Berlin, Zeitschrift für Hypnose, München 1898
    Anmerkungen
    69) GOLDSCHEIDER, Über die Behandlung des Schmerzes, Berliner klinische Wochenschrift 1896, Nr. 3 - 5
    70) OTTOMAR ROSENBACH, Nervöse Zustände und ihre psychische Behandlung, Berlin 1897
    71) DURAND de GROS, L'hypnotisme et la morale, "Revue de l'hypnotisme", Bd. X, 1895
    72) GROSSMANN, Der Prozeß Crynski, Zeitschrift für Hypnose, Bd. III, 1894
    73) von SCHRENCK-NOTZING, Über Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchtold-Prozeß.
    74) W. PREYER, Ein merkwürdiger Fall von Faszination, Berlin 1894
    75) van VELSEN, Histoire d'un cas de léthargie, "Revue de l'hypnotisme", Bd. X, 1896
    76) STADELMANN, Tod durch Vorstellung, Zeitschrift für Hypnose, Bd. III, 1894
    77) Étude sur quelques conditions favorisants l'hypnose chez les animaux, L'année psychologique, II. Jahrgang 1896
    78) SCHÜTZ, Der Hypnotismus, Philosophisches Jahrbuch 1896 und 1897
    79) HAAS, zitiert in Literaturbericht von SCHRENCK-NOTZING, "Revue de l'hypnotisme", Bd. IX, 1894
    80) M. BENEDIKT, Hypnotismus und Suggestion
    81) LIÉBEAULT, Kriminelle hypnotische Suggestionen. Gründe und Tatsachen, welche für dieselben sprechen.
    82) BÉRILLON, Les suggestions criminelles envisagées au point de vue des faux témoignages suggérés, "Revue de l'hypnotisme", Bd. XI, 1896
    83) O. THILO, Zur Behandlung der Gelenkneuralgien
    84) H. STADELMANN, Der Psychotherapeut, Würzburg 1896
    85) DELBOEUF, zitiert nach "Revue de l'hypnotisme", Bd. XI, 1986
    86) DELBOEUF, ebenda
    87) BONJOUR, Neue Experimente über den Einfluß der Psyche auf den Körper
    88) E. BÉRILLON, Ein Fall von Sycosis, 9 Monate ohne Erfolg von Dermatologen behandelt, durch das zweimalige Gebet einer alten Frau geheilt, "Revue de l'hypnotisme", Bd. X, 1895
    89) C. LIEBERMEISTER, Suggestion und Hypnotismus als Heilmittel, Handbuch von PENTZOLD u. STINTZING, 1896
    90) THEOBALD ZIEHEN, Psychotherapie, Lehrbuch der allgemeinen Therapie und der therapeutischen Methodik von EULENBURG und SAMUEL, Berlin und Wien 1898
    91) W. BRÜGELMANN, Suggestive Erfahrungen und Beobachtungen, Zeitschrift für Hypnose, Bd. IV, 1895
    92) F.C. HANSEN und A. LEHMANN, Über unwillkürliches Flüstern. Eine kritische und experimentelle Untersuchung der sogenannten Gedanken-Übertragung, Philosophische Studien, Bd. XI, 1895
    93) von SCHRENCK-NOTZING, Ein experimenteller und kritischer Beitrag zur Frage der suggestiven Hervorrufung circumscripter vasomotorischer Veränderungen auf der äußeren Haut, Zeitschrift für Hypnose Bd. IV, 1896
    94) E. BÉRILLON, L'hypnotisme et l'orthopédie mentale, Paris 1898
    95) SIGMUND FREUD, Zur Aetiologie der Hysterie, Vortrag im Wiener Verein für Neurologie und Psychiatrie, 1896
    96) H. STADELMANN, Zur Therapie der durch Vorstellungen entstandenen Krankheiten, Wiener Kongress.
    97) E. SOKOLOWSKI, Hysterie und hysterisches Irresein, Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 1896
    98) BOETTIGER, Über Neurasthenie und Hysterie und die Beziehungen beider Erkrankungen zueinander. Vortrag im ärztlichen Verein zu Hamburg am 27. IV. 1897
    99) LOEWENFELD, Über einen Fall von hysterischem Somnambulismus, Zeitschrift für Hypnose, Bd. VI., 1897
    100) LEUCH, zitiert in Zeitschrift für Hypnose, Bd. VI., 1896
    101) AUGUSTE FOREL, in Zeitschrift für Hypnose, Bd. VI., 1896
    102) DIDIER, Kleptomanie und Hypnotherapie, Halle 1896
    103) OSKAR VOGT, Zeitschrift für Hypnose, Bd. VIII, 1899
    104) Diese Nummer fehlt im Original-Artikel.
    105) SOMMER, Diagnostik der Geisteskrankheiten, Leipzig 1897
    106) TYKO BRUNNBERG, Die Bedeutung des Hypnotismus als pädagogisches Hilfsmittel
    107) BOURDON, Onychophagie et habitudes automatiques, onanisme etc., "Revue de l'hypnotisme", Bd. X, 1895
    108) BÉRILLON, siehe Anmerkung 94 und viele andere Schriften
    109) CROQ FILS, L'hypnotisme scientifique, Paris 1896
    110) AUGUSTE FOREL, Der Hypnotismus in der Hochschule, Zeitschrift für Hypnose, Bd. IV., 1896
    111) R. W. TATZEL, Warum wird der Wert des therapeutischen Hypnotisms noch immer so wenig erkannt?, Zeitschrift für Hypnose, Band IV, 1895