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Kritische Bemerkungen über die Lehre vom Hypnotismus [3/4]
Es folgen einige bemerkenswerte Untersuchungen über die physiologischen und psycho-physiologischen Erscheinungen der Hypnose. Zu diesem Kapitel hat DÖLLKEN (115) in erster Reihe einige treffliche Beiträge geleistet. Er fand in der Hypnose eine Abnahme der Perzeptionsfähigkeit der verschiedenen Sinne in bestimmter Reihenfolge; zuletzt wurden stets das Gehör und das Empfindungsvermögen der Haut beeinträchtigt. Im Ganzen stellten sich die physiologischen Veränderungen in der tiefen Hypnose folgendermaßen dar:
2. Die Prüfung des Gehörorgans ergab eine Herabsetzung der Gehörschärfe 3. Das Gleiche ließ sich bei der Geruchsprüfung feststellen. 4. Die Untersuchung des Tastsinnes der Haut ergab eine Herabminderung der Empfindlichkeit des Berührungssinnes, ebenso der Schnelligkeit der Lokalisation und einen um 1 - 5 cm größeren Irrtum bei der Lokalisation als in der Norm; ferner Hypalgesie [Sensibilitätsstörung - wp], Thermhypästhesie [Herabgesetzte Empfindung für Temperaturreize - wp], Lageempfindung der Glieder häufig aufgehoben, nach Besinnen dagegen vorhanden; ebenso ließ sich bei der Sensibilitätsprüfung durch Lenkung und Konzentration der Aufmerksamkeit die Perzeptionsfähigkeit schon nach 30 - 60 Sekunden steigern. 5. Die Bewegungen in der Hypnose waren träger als im Wachzustand. Auch eine Erschwerung des Sprechens wurde vereinzelt in der Hypnose beobachtet. Bei plötzlichem Eintritt der Hypnose oder plötzlichem Tieferwerden derselben zeigte sich ein subjektives Hitzegefühl, dessen Grund wir allerdings in einer akzidentiellen Autosuggestion erblicken. Derartige Autosuggestionen dürften sich nach unserer Meinung nie vermeiden lassen, wo ein subjektiv-wissentliches Verfahren der Beobachtung angewendet wird und sicherlich zum Teil angewendet werden muß. So verdankt z. B. DÖLLKEN einen Teil seiner Beobachtungen dem Umstand, daß er seine Hypnotiker bittet, alles Besondere, was sie fühlen oder bemerken, in oder nach der Hypnose ihm mitzuteilen. Wir meinen, daß die auf diese Weise gewonnenen Beobachtungen einer sehr strengen Kritik bedürfen, besonders wenn sie sich auf den Kausalzusammenhang zweier Erscheinungen beziehen.
2. Verminderung bis Aufhebung des Kniephänomens bei erschlaffter Muskulatur; Unfähigkeit, feinere Bewegungen auszuführen; 3. Gehstörungen 4. Muskelkraft = 0 am Dynamometer; 5. konzentrische Einengung des Gesichtsfeldes; 6. Hypakusis [Schwerhörigkeit - wp] 7. Hyposmie [nicht vollständiger Verlust des Geruchssinnes - wp] 8. Lageempfindung der Glieder undeutlich bis aufgehoben. CROCQ FILS (116) hat den Nachweis erbracht, daß die Stärke der Abnahme jeder Form der Sensibilität und der Ideenassoziation im geraden Verhältnis zur Tiefe der Hypnose steht. BRAMWELL (117) hat Zeitschätzungsversuche an Hypnotisierten veranstaltet: die Suggestion, nach 4335 oder 11 470 Minuten ein Kreuz auf ein vorliegendes Blatt Papier zu machen, realisierte sich stets, gleichviel ob die Kopfrechnung gestattet oder unterdrückt wurde, mit einem Fehler, der 5 Minuten nicht überstieg. Bei Gelegenheit anderer Experimente gelang es demselben Forscher, die Zahl und Spannung des Pulses zu beeinflussen, die Unterschiedsempfindlichkeit der einzelnen Sinne deutlich zu steigern und die Fähigkeit der Zeitschätzung, ebenso wie das Gedächtnis erheblich zu vermehren. von BECHTEREW (118) prüfte die Dauer einfacher psychischer Vorgänge in der Hypnose bei Hysterischen und fand die einfache Reaktionszeit und die Erkennungszeit verlängert, die Zeit des Rechnens mit einfachen Zahlen dagegen verkürzt; durch Suggestion gelang es ihm, eine Verkürzung der Reaktionszeiten herbeizufüren. Unsere eigenen Erfahrungen stimmen mit diesen Versuchsergebnissen nicht überein. Wir fanden keine Veränderung der einfachen psychischen Vorgänge in der Hypnose - ein unwissentliches Versuchsverfahren vorausgesetzt; auch gelang es uns nie, durch speziell darauf gerichtete Suggestionen eine Veränderung zu erzielen. Doch sind unsere Experimente in dieser Beziehung noch nicht völlig abgeschlossen. PATRIZI (119) hatte das seltene Glück, mit einem Knaben experimentieren zu können, der eine Schädelöffnung zeigte. Er studierte die Beziehungen der Aufmerksamkeitskurve zur Kurve der Volumenschwankungen des Gehirns. Die Aufmerksamkeitskurve wurde in der Weise erzeugt, daß längere Zeit hintereinander in Pausen von 2 Sekunden einfache Schallreaktionen ausgeführt und graphisch gemessen wurden. Das Ergebnis der Untersuchungen wird dahin ausgesprochen, daß zwischen den Schwankungen der spezifischen Aktivität der Hirnzellen, wie sie in den angegebenen Aufmerksamkeitsversuchen zum Ausdruck gelangen und den Schwankungen der Zirkulation im Gehirn, wie sie den Volumenänderungen desselben zugrunde liegen, ein gesetzmäßiger Zusammenhang nicht existiert. Zur Auffassung der Träume hat VOGT (120) einige wertvolle Beiträge geliefert. Während FOREL ein ununterbrochenes Träumen während des Schlafes annimmt, behauptet VOGT, daß das nicht der Fall sein könne, da zur Entstehung der Träume eine Ungleichmäßigkeit der zentralen Erregbarkeit notwendig sei; diese könne bei manchen Personen nicht zustande kommen, da sie sofort tief einschlafen. VOGT unterscheidet mit LIÉBEAULT 2 Arten von Träumen:
2. die des tiefen Schlafes.
2) als sprachliche Äußerungen 3) als komplizierte Handlungen Zwei Selbstbeobachtungen während des hypnotischen Zustandes sind von WETTERSTRAND (121) veröffentlicht worden; sie schließen sich den Beobachtungen an, die bisher von OBERSTEINER, BLEULER, TATZEL, VOGT und BRODMANN veröffentlich worden sind. Im ersten Fall handelte es sich um einen Neurastheniker [Nervenschwachen - wp], der 3 Monate lang täglich eine halbe Stunde lang hypnotisiert und dadurch von seinen Beschwerden geheilt wurde, die in Angstzuständen, Grübelsucht, Mißtrauen, Unschlüssigkeit und Willensschwäche bestanden. Seine Beobachtungen über die Hypnose stellen sich folgendermaßen dar: er fühlte, daß er schlief; er hörte die fremden Stimmen und hörte sie doch wieder nicht; er fühlte, daß er während des Schlafes eine größere Macht über sich hatte, als er geglaubt; dadurch trat eine Zunahme der Energie und ein Gefühl von Glück und Kraft ein; die Suggestionen, die WETTERSTRAND gab, wiederholte sich der Patient fortwährend in der Hypnose; alle Experimente mißlangen; als vornehmlichstes Resultat der wiederholten Hypnosen empfand und bezeichnet der Patient die Stärkung seines Willens. Diese Beobachtung ist vorzüglich geeignet, die Bedenken derer zu zerstreuen, die von wiederholten Hypnotisierungen eine Schwächung des Willens befürchten. Auch im zweiten Fall der WETTERSTRANDschen Veröffentlichung gab der Patient an, zu wissen, daß er schlief, obwohl er den Zustand lieber als eine stille Ruhe, denn als wirklichen Schlaf bezeichnen wollte; als besondere Annehmlichkeit des Zustandes empfand er, daß keine peinigenden Gedanken, keine unangenehmen Phantasien und unklaren Seelenäußerungen, wie sonst im wachen Zustand, vorhanden waren; auch ihm prägten sich die Worte des Hypnotiseurs fest ein, daß er auch im Wachzustand öfters daran erinnert wurde. Unsere persönlichen Erfahrungen an Hypnotisierten, die uns ihre Beobachtungen über den hypnotischen Zustand unaufgefordert mitteilten, stimmen mit den gegebenen Schilderungen völlig überein. Um die Theorie der Hypnose zu ergründen, hat man den hypnotischen Zustand seit längerem zum natürlichen Schlaf in Parallele gesetzt. Auch in der neueren Literatur ist die Frage nach der Identität von Schlaf und Hypnose mehrfach behandelt worden. Während FOREL beide Zustände im Wesentlichen für identisch hielt und andere, wie KRAEPELIN, MOLL, BERNHEIM und DELBOEUF mindestens eine nahe Verwandtschaft zwischen ihnen gelten lassen wollten, behauptet DÖLLKEN, daß Schlaf und Hypnose prinzipiell voneinander verschieden seien: im Schlaf bestehe Desorientierung über Zeit und Raum, dagegen in der Hypnose nicht; in der Hypnose dagegen sei Rapport und gesteigerte Suggestibilität, ferner eine größere Passivität als im Schlaf, eine Verlangsamung des Ideenablaufs und eine geringere Gefühlsbetonung der Wahrnehmungen zu konstatieren; endlich sei es möglich, die Personen nach Belieben in Schlaf oder Hypnose zu versetzen. Auch MAX HIRSCH (122) spricht sich für eine Verschiedenheit des natürlichen und künstlichen Schlafes aus, weil im normalen Schlaf die Aufmerksamkeit gleichmäßig verteilt, in der Hypnose dagegen einseitig konzentriert sei. LIÉBEAULT (123) und VOGT dagegen plädieren für eine Identifikation beider Zustände. LIÉBEAULT gibt zwar zu, daß kleine Unterschiede zwischen beiden vorhanden seien, wie z. B. das Fehlen des Schlafbedürfnisses bei der Hypnose, sowie die Erscheinungen des Rapportes [besondere Beziehungsneigung - wp] und der Katalepsie [Erstarren einer Körperhaltung - wp]; indessen überwiegen nach ihm die Ähnlichkeiten, die er in der Verlangsamung bis zum Aufhören der Denktätigkeit und der Bewegung, sowie in der Unempfindlichkeit für Sinnesreize, dem Augenschluß und der Entstehung aus der Schlafvorstellung erblickt, zumal da beide Zustände ineinander übergeführt werden können. VOGT anerkennt im gleichen Sinne nur einen quantitativen Unterschied zwischen dem natürlichen und künstlichen Schlaf, die nach ihm beide, wie wir später sehen werden, in einer Herabsetzung der Erregbarkeit der Hirnrinde bestehen. Nach seiner Meinung ist der Mechanismus des Schlafes stets der nämliche, gleichviel wie derselbe ausgelöst wird; der Rapport bildet keinen spezifischen Unterschied zwischen der Hypnose und dem Schlaft; im spontanen Schlaf können ebenso wie in der Hypnose somnambule Bewußtseinszustände eintreten, die in eine Hypnose übergeführt werden können. Auch das Argument MOLLs, daß in der Hypnose abnorme Bewegungen, wie sie bei Chorea [früher Veitstanz genannt - wp], Athetose [unwillkürliche und ungewöhnlich langsam ausfahrende Bewegungen - wp] etc. sich vorfinden, nicht aufhören, während dieselben Bewegungen im natürlichen Schlaf sistieren [aussetzen - wp], wird von VOGT aufgrund mehrerer Beobachtungen widerlegt. Endlich wird von VOGT noch die phlethysmographische [Volumenmessung von Organen - wp] Untersuchung ins Feld geführt, die für das Einschlafen beim spontanen Schlaf die gleiche charakteristische Kurve zeigt, wie bei der Hypnose. In dieser Hinsicht hat BÉRILLON (124) im Verein mit VERDIN in einem Fall von traumatischer Neurose die Untersuchungen VOGTs in Bezug auf die Puls-, Atmungs- und Herzstoßkurve bestätigt. Im übrigen leugnet auch VOGT nicht die Verschiedenheiten der beiden Schlafzustände in Bezug auf Tiefe und Ausdehnung der Schlafhemmung, Schnelligkeit des Eintretens und begleitende Sensationen; aber er hält diese Unterschiede für sekundärer und rein quantitativer Natur. Nach unserer Meinung mit Unrecht. Denn wenn man sich an die klinische Beobachtung hält, kann es nach unserem Dafürhalten keinem Zweifel unterliegen, daß die Zustände des spontanen und des sogenannten provozierten Schlafes so weit voneinander verschieden sind, daß eine qualitative Identification uns unmöglich erscheint. Diese klinische Verschiedenheit erstreckt sich auf alle 3 Phasen des Schlafvorganges: das Einschlafen, den Schlafzustand selbst und das Erwachen. Das Einschlafen beim natürlichen Schlaf geht mehr oder minder langsam vonstatten, bei der Hypnose dagegen nicht selten blitzartig schnell, auf den einfachen, suggestiven Befehl. Der Zustand während des spontanen Schlafes ist durch eine gänzliche Aufhebung des Bewußtseins ausgezeichnet, die sich später als Desorientierung über Raum und Zeit, Unbeeinflußbarkeit durch äußere Reize und die Empfindung einer einfachen Lücke in der Bewußtseinskette offenbart; während der Hypnotisierte sicherlich bei Bewußtsein ist, wenn dieses auch noch so sehr eingeschränkt sein sollte; ebenso wie er über Raum und Zeit orientiert bleibt, durch äußere Reize beeinflußbar ist und trotz eventueller Amnesie mindestens die nachträgliche Empfindung hat, daß etwas mit ihm vorgegangen ist, auf dessen Einzelheiten er sich freilich nicht sogleich besinnen kann. Endlich erfolgt das Erwachen aus dem spontanen Schlaf langsam und allmählich, während man die tiefste Somnambulhypnose durch das einfache Wort: Wach! im Augenblick in den Wachzustand überführen kann. Diese Unterschiede werden besonders in die Augen fallen, wenn man Gelegenheit hat, den spontanen Schlaf und den somnambulen Zustand bei einer und derselben Person zu beobachten. Dabei leugnen auch wir keineswegs, daß zwischen beiden Zuständen manche, allerdings mehr nebensächliche Beziehungen obwalten, unter denen die die Hypnose meist begleitende Müdigkeit vielleicht die auffallendste sein dürfte. Auch lassen sich manche Übergangsformen zwischen dem natürlichen Schlaf und der Hypnose beobachten, die die Auffassung von SCHRENCK-NOTZINGs (125) berechtigt erscheinen lassen, wenn er die hypnotischen Zustände
2) in solche mit Schlafillusion, 3) in solche mit wirklichem Schlaf einteilt. Die soeben gegebene Ausführung leitet uns ungezwungen über zur Theorie des Schlafes und der Hypnose. Wir referieren zunächst etwas ausführlicher die Ansichten der Autoren über diesen Punkt, obwohl sie in der Mehrzahl mehr interessante Spekulationen und geistvolle Hypothesen, als wahrhaft brauchbare und der Kritik standhaltende Theorien darstellen. Eine psychologische Theorie des Schlafes stellt LIÉBEAULT (126) auf. Er erklärt den Schlaf, im Gegensatz zum aktiven Wachzustand, als einen passiven Seelenzustand, in dem eine Bewußtseinsspaltung nach 2 Richtungen hin stattfindet:
2) am Tätigkeitspol, wo sich die Aufmerksamkeit in verminderter und ungeordneter Weise im Intellektuellen und Sinnlichen betätigt.
2) ist die Aufmerksamkeit weder im Schlaf, noch in der Hypnose unvermindert und in ungeordneter Weise tätig, da sie vielmehr im Schlaf gänzlich zessiert [reduziert - wp] und in der Hypnose gesteigert und konzentriert ist, wenn auch in einseitiger, durch die Suggestion bestimmter Richtung; nicht einmal die reflektorische Aufmerksamkeit braucht in der Hypnose vermindert zu sein, obwohl wir im Allgemeinen aus Zweckmäßigkeitsgründen bestrebt sein werden, dies zu spezielle Suggestion zu erreichen. Nach dieser "psychologischen" Theorie mögen uns eine Reihe physiologischer Theorien beschäftigen. In erster Reihe ist hier LANDMANN (127) zu nennen, obwohl wir uns vorbehalten müssen, eine ausführlichere Darstellung seiner Anschauungen erst bei der Besprechung der Theorie der Hysterie zu bringen. Er behauptet, daß die Vorstellungen von den subkortikalen Ganglienzellen, das sämtliche Bewußtsein dagegen von den Großhirn-Rindenzellen gebildet werde: eine vollständige Hypnose sei daher bedingt durch eine künstlich herbeigeführte Funktionsunfähigkeit (Anämie [Blutarmut - wp]) der sämtlichen subkortikalen Ganglien und Hirnrindenzellen und beruhe auf einer Untätigkeit der verbindenden Nervenfäden. Die Kritiker dieser Theorie soll später am bezeichneten Ort erfolgen; hier genüge die Bemerkung, daß der Nachweis einer Anämie des Gehirns im Schlaf zur Zeit noch nicht einwandfrei erbracht ist und daß selbst mit diesem Nachweis das Problem noch nicht erledigt sein kann, wenn nicht zugleich der Beweis geführt wird, daß die Hirnämie [Blutarmut des Gehirns - wp] die primäre Ursache und nicht ein sekundäres Begleitsymptom des Schlafes ist. Auf den neuesten Forschungsergebnissen der Histologie des Zentralnervensystems basiert die Theorie des spontanen und hypnotischen Schlafes von van de LANOITTE. (128) Nach GOLGI und RAMON y CAJAL stehen die Nervenzellen untereinander nicht durch Kontinuität in Verbindung, sondern durch einfache Kontiguität [Berührung - wp] der Endverzweigungen der Achsenzylinder einer Nervenzelle mit Protoplasmafortsätzen einer anderen; Lockerung oder Lösung des Kontaktes der Endbäumchen bedingt daher Hemmung oder Ausfall der Leitungsfähigkeit. Nun beruhen alle Leistungen der Nervenelemente auf Schwingungen oder Strömungen, deren Fortpflanzung sich nach der Art der elektrischen Induktion vollzieht. Es liegt daher die Annahme nahe, daß die funktionellen Störungen des Nervensystems, unter anderem auch die Hypnose und der normale Schlaf, auf einer Erschwerung oder Unterbrechung dieser Kontaktübertragung, also auf einer Unmöglichkeit der Ableitung von Reizen beruhen, die ihre physiologisch-anatomische Ursache in der Verkürzung, bzw. gänzlichen Vernichtung der unter normalen Verhältnissen den Kontakt herstellende feinsten Endverzweigungen der Neurone hat. Diese Annahme ist leicht zu rechtfertigen, wenn man bedenkt, daß die Nervenzellen nichts weiter als Amöben sind, die ihre Pseudopodien ausstrecken oder zurückziehen. Die Verlängerung bzw. Aussendung solcher fingerförmiger Fortsätze würde die Übertragung des nervösen Erregungsvorganges von einem Neuron auf ein anderes erleichtern, eine lebhaftere Tätigkeit der Nervenfunktionen auslösen, die sich auf motorischem Gebiet zu erhöhter Reflexerregbarkeit, Krämpfen, Kontrakturen und Konvulsionen, auf sensiblem Gebiet zu Parästhesien [nichtschmerzhafte Empfindungsstörung der Haut wie Jucken, Kribbeln etc. - wp], Hyperästhesien [Überempfindlichkeit für Berührungsreize - wp] und Neuralgien [Nervenschmerzen - wp], auf psychischem Gebiet endlich zu hypomanischen [leicht manisch - wp], maniakalischen [manisch - wp] und deliranten [bewußtseinsstörend - wp] Zufälle steigern kann; während umgekehrt eine Zurückziehung dieser Ramifikationen [Verästelungen - wp] die Lockerung und Verminderung der Kommunikationen zwischen den Nervenelementen, infolgedessen eine Erschwerung oder Aufhebung der nervösen Leistungen verursacht, z. B. Anästhesien, Paresen und psychische Hemmungen. Tee, Kaffee, Tabak, Alkohol würde demnach direkt den Amöboismus der sich berührenden nervösen Endorgane steigern, Morphin dagegen die Kontaktverbindungen lockern. Wie Kurare ausschließlich die Endverzweigungen der motorischen Nerven beeinflußt, so kann man annehmen, daß z. B. das Strychnin durch Wirkung auf den oberflächlichen Kontakt der Nervenzellen-Verästelungen die Veränderung der Reflexerregbarkeit hervorbringt: ebenso könnten psychische Momente im Sinne eines Reizanstoßes oder einer Konzentration der psychischen Tätigkeit auf ein einziges Geistesgebiet wirken und die funktionellen Zustände des Nervensystems verändern. In diesem Sinne sollen die Suggestionen und der hypnotische Zustand wirken. Nach van de LANOITTE wäre demna der Hypnotismus imstande, ein Ausstrecken oder Zurückziehen der Protoplasmafortsätze zu erzeugen, dadurch Hemmungszentren zu schaffen, krankhafte Bahnen zu unterdrücken und unterbrochene Verbindungen wieder anzuknüpfen, kurz, die nervöse Induktion herzustellen oder aufzuheben, wo sie abnorm war und infolge dessen Kontrakturen, Lähmungen und Schmerzen zum Verschwinden bringen. Bevor wir auf eine Kritik dieser Theorie eingehen, müssen wir eine gleiche "histologische" Schlaftheorie erwähnen, die von PUPIN (129) aufgestellt worden ist. Auch nach ihm sind alle funktionellen Leistungen der Nervenelemente an die Kontaktstellen (articulations) derselben zu verlegen; die Endverzweigungen der Protoplasmafortsätze der Nervenzellen sind im Wachzustand in beständiger amöboider Bewegung. Im Schlaf dagegen findet eine Erschwerung oder Aufhebung der Reizübertragung statt, dadurch, daß die Protoplasmaverzweigungen den Kontakt mit den Endbäumchen des benachbarten Achsenzylinders aufgeben oder lockern, indem sie entweder seitlich abweichen oder, nach Analogie der Tentakel niederer Organismen, durch Kontraktion sich zurückziehen oder verkürzen. Dieses Auseinanderweichen der Endverästelungen zweier Neurone [Nerven - wp] bewirkt eine Lücke in der Bahn, die so groß werden kann, daß eine Erregungswelle dieselbe nicht mehr zu überspringen imstande ist: das nervöse Element kommt zur Ruhe, es schläft. Wie jedoch bei hoher Spannung ein elektrischer Strom trotz großen Abstandes Funkten zwischen den beiden Polen übertreten läßt, so vermag auch hier ein stärkerer Reiz die Distanz zu überwinden; der Erregungsvorgang dringt bis zum Gehirn vor und verursacht dort entweder die Unterbrechung des Schlafes oder die Entstehung von Träumen. Die Lokalisation dieser Funktionshemmung sind die Verbindungen zwischen den peripheren und zentralen sensitiven Neuronen, aber auch innerhalb der Großhirnzentren selbst, in den höheren Assoziationsbahnen. Die Entstehung des Schlafes wird demnach von PUPIN zurückgeführt:
2) auf das Fernhalten äußerer Reize. Wir haben mit Absicht diese histologischen Spekulationen in breiterer Ausführlichkeit dargestellt, um zu zeigen, wie vortrefflich eine Theorie allen Tatsachen, deren Erklärung man von ihr erwarten darf, gerecht werden kann, trotzdem die Theorie selbst auf einer nachweislich falschen Grundlage aufbaut. Diese Erscheinung darf freilich nicht wunder nehmen, wenn man bedenkt, daß an eine Theorie der nervösen Funktionen, die auf alle Beobachtungstatsachen zugeschnitten sein soll, im Grunde genommen nur eine einzige Forderung zu stellen ist: d. i. zu erklären, auf welche Weise eine quantitative Veränderung - Erleichterung oder Erschwerung, Bahnung oder Hemmung - der nervösen Funktionen zustande kommen kann. Zu diesem Zweck bieten sich nun der wilden Spekulation vielerlei Möglichkeiten dar. Man könnte z. B. annehmen, daß die Erregungswelle, das Neurokym, nicht einmal, sondern mehrfach in den Nervenbahnen hin- und herläuft und zwar je größer der Reiz, desto häufiger und schneller, während im Zustand der Ermüdung etwa eine chemische Veränderung der Nervensubstanz im Sinne eine Zäher- oder Klebrigerwerdens derselben eintritt, wodurch die Nervenwelle aufgehalten, gehemmt werden muß. Man könnte ferner die Hypothese aufstellen, daß nach Art der Muskelkontraktion auch die Nervenfasern die Fähigkeit haben, an- und abzuschwellen, um auf diese Weise die Erscheinung der Bahnung und Hemmung zu erklären. Man könnte endlich auf die Blut- und Lymphgefäße rekurrieren, die die Nervenbahnen begleiten; ja, selbst die SCHMIDT-LANTERMANNschen Einkerbungen könnten zu dem Zweck herhalten, indem man ihnen zumutet, sich nach Art der Venenklappen aufzublähen und dadurch die Nervenwelle aufzuhalten; oder die von ENGELMANN entdeckten, an der Stelle der RANVIERschen Schnürringe befindlichen, winzigen Diskontinuitäten des Achsenzylinders, die sich nach Bedarf und der Phantasie eines spekulativen Kopfes vergrößern oder verkleinern könnten. Warum sind alle diese Hypothesen wertlos? Weil sie des Beweises ermangeln. Der gleiche Vorwurf trifft aber auch für die "histologische" Schlaftheorie von van de LANOITTE und PUPIN zu. Zwar sind amöboide Bewegungen der dendritischen [zum Nervenstamm gehörend - wp] Verzweigungen der Ganglienzellen auch von einigen Histologen behauptet worden. Indessen ist es unvorsichtig, auf solche mit großer Vorsicht aufzunehmenden Behauptungen hin weittragende Theorien zu gründen, zumal wenn man bedenkt, daß nach einer alten neurologischen Erfahrung die maximale Lebensdauer derartiger histologischer Hypothesen die Zeitdauer von 5 Jahren nicht überschreitet. Aber selbst angenommen, daß wirklich derartige amöboide Bewegungen nicht in das große Reich der Phantasie gehören, so dürfte schon eine einfache Überlegung zeigen, daß für die Theorie der nervösen Funktionen hiermit nichts gewonnen ist. Die amöboiden Bewegungen der Leukozyten des Blutes, die man unter dem Mikroskop bei geeigneter Versuchsanordnung direkt beobachten kann, ermüden den Beobachter durch die außerordentliche Langsamkeit, mit der sie vonstatten gehen. Wenn aber das schon im leicht beweglichen Blut stattfindet, um wieviel mehr erschwert müssen diese Bewegungen erst im Gehirn sein, dessen Konsisten doch beträchtlich größer ist, als die des Blutes. Daher ist ein so flottes Umherkrabbeln und Durcheinanderkriechen der Protoplasmafortsätze, wie es van de LANOITTE und PUPIN behaupten und wie es zur Erklärung der Erscheinungen notwendig wäre, sicherlich nur in einer besonders bevorzugten Phantasie möglich. Um das Unglück vollständig zu machen, hat HELD (130) aufgrund neuer Färbemethoden den Nachweis erbracht, daß beim neugeborenen Hund zwar da, wo die Endverzweigungen eines Achsenzylinders und der Protoplasmaleib der Zellen zusammentreten, sich zuerst eine deutliche Demarkationslinie findet, die aber im Laufe von einigen Tagen der Entwicklung verschwindet, so daß dann ein kontinuierlicher Übergang zwischen beiden, also ein Verwachsung der Neurone untereinander stattfindet; eine Behauptung, die übrigens von DOGIEL, ARNOLD, WAGNER u. a. bestätigt wird. Wohin kommen wir, wenn wir den ephemeren [einen Tag gültig - wp] Behauptungen der Histologen auf dem Fuße folgend psychologische Konstruktionen ins Blaue hinein errichten? Wir halten es für förderlicher, gar keine Theorie aufzustellen, als sich in billigen und unbegründeten Spekulationen zu ergehen, die nur den einen Vorzug haben, daß sie noch leichter zu widerlegen als aufzustellen sind. Nicht viel günstiger steht es um die Auffassung, die SCHLEICH (131) als eine "Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes" preist. SCHLEICH bekämpft den unreellen, rein phantastischen Hemmungsmechanismus, mit dem überall gearbeitet wird. Er schreibt der Neuroglia [Stützgewebe, in das die Nervenzellen eingebettet sind - wp] die Rolle eines Isolationsmechanismus zu, deren aktive Funktion in der Hemmung der elektroiden Spannung der Achsenzylinder usf. liegt. Die Aktionsfähigkeit dieses Isolier-Apparates beruth auf einer wechselnden Plasmafüllung der Neuroglia-Protoplasmamasse: die Mooszellen der Neuroglia, die die Achsenzylinder umspinnen, wie die Seidenfäden die elektrischen Drähte, stehen in Verbindung mit den perivaskulären Lymphträumen [Verletzungen um die Lymphgefäße herum - wp] der Hirngefäße, ferner mit tieferen sympathischen Zentren, durch die Vermittlung der Vasomotoren der Hirngefäße. Daher der Einfluß der Blutfülle auf die Großhirnfunktion, der sich bei SCHLEICH genau entgegengesetzt darstellt, als es der gewöhnlichen Annahme entspricht; eine Erscheinung, die nur dadurch ermöglicht wird, daß Tatsachen in dieser Beziehung noch nicht bekannt sind. Nach SCHLEICH bewirkt demnach Hyperämie [zuviel Blut in einem Organ - wp] und stärkere Plasmafüllung der isolierenden Neurogliaplasmazellen, daher stärkere Isolation, also Hemmung, Gliaaction [Abgrenzung von Gliazellen von den Neuronen im Nervengewebe - wp]; Anämie dagegen erzeugt Neurogliaschwächung, verminderte Isolation, ungehemmte Erregungsfähigkeit der Ganglien, Vermehrung der Assoziationen etc. SCHLEICH faßt daher den natürlichen Schlaf auf "als einen durch Anpassung oder Vererbung erlernten Mechanismus der Hemmung zwecks Ausschaltung des jüngsten, bildungs-, wachstums- und schonungsbedürftigsten Teiles der Großhirnrinde. Er tritt ein, wenn von den Zentren des schon definitiv regulierten, mehr vegetativen Lebens auf dem Weg des Reflexes die Neuroglia in Aktion versetzt wird. Das geschieht einmal periodisch und ist eine dem Organismus von außen aufgezwungene Notwendigkeit (Eintritt der Nacht, Fehlen des Sonnenlichtes) oder aber er stellt sich atypisch ein, wenn dieser Reflex auf andere Weise zur Auslösung gelangt (Übermüdung, Hypnose, Störungen der Gefäß- und Nervenfunktion etc.) Der Schlafende tritt damit zurück in einen Zustand, in welchem eine Vorperiode psychischer Fähigkeiten den einzigen Bestand des Bewußtseins ausmachte, und so dürfte man den Schlaf, die Hypnose und den Somnambulismus auffassen als ein periodisches Zurücksinken in frühere Daseinsperioden. Nach dieser Anschauung enthalten sowohl der künstliche Schlaf, wie die kataleptischen Zustände, sowie die somnambulischen Aktionen der Hypnose nichts Rätselhaftes mehr: es spielt sich eben alles im Unterbewußtsein ab." Damit ist der rettende Anker gefunden: statt einer Erklärung oder eines Beweises ein darwinistisches Schlagwort; und was sich dann noch nicht fügen will, kommt ins Unterbewußtsein. Zur Kritik der SCHLEICHschen Schlaftheorie läßt sich nicht viel sagen. Der Atavismus und das Unterbewußtsein sind 2 Begriffe, mit denen sich schlechthin alles und noch einiges mehr erklären läßt: ihre Anwendung in der Wissenschaft sollte daher als grober Unfug gerügt werden. Werden die kataleptischen Erscheinungen der Hypnose etwa dadurch weniger rätselhaft, daß sie sich in einem unmöglichen Unterbewußtsein abspielen? Ist denn jede Verminderung der psychischen Funktionen, mag sie nun dauern oder vorübergehend sein, bloß deswegen schon eine Erscheinung des Atavismus, ein Zurücksinken in frühere Daseinsperioden, weil sich die Entwicklung der Menschheit naturgemäß von einer niederen zu einer höheren Stufe vollzogen hat? Wo steckt die Logik in dem Schluß: Früher war die Menschheit geistig und seelisch minder entwickelt, heutzutage tritt ein periodischer Wechsel zwischen dem vollbewußten Wachsein und dem Schlafzustand ein, in dem die Tätigkeit der Seele vorübergehend ruht: also pendelt unser Dasein zwischen der früheren und der jetzigen Daseinsperiode hin und her? Es ist schade, daß soviel Geist an so nichtige Dinge verschwendet wird. Um nicht eintönig zu wirken, besprechen wir nunmehr der Abwechslung halber eine physiologische Theorie, die von KRARUP (132) aufgestellt worden ist. Dieser Autor erklärt die Hypnose durch primitive Kontraktion der Carotis int. oder durch Erhöhung der nervösen Aktivität im Plexus der Carotis int. und sekundäre Erweiterung der Aorta. carot. ext. und Aorta. vertebr. infolge des Kollateralkreislaufes. Die motorischen und sekretorischen [Absonderungs- - wp] Phänomene des hypnotischen Schlafes kommen dadurch zustande, daß die erweiterten Halsarterien auf die benachbareten Nerven drücken. Außerdem soll das Rückenmark mehr Blut erhalten, besonders durch die Aorta spinales post. [die untere Rückenaorta - wp], welche dann direkt auf die hinteren, sensiblen Wurzeln des Rückenmarks drücken. Diese Erregung pflanz sich dann in den Verzweigungen der Wurzeln entsprechend fort und ruft einen Reflextonus in den vorderen, motorischen Wurzeln hervor, der sich in Katalepsie äußert. Die Katalepsie entsteht also durch Erhöhung der nervösen Energie in den motorischen Vorderhornganglien, bewirkt durch Zufluß arteriellen Blutes. Zum Beweis dieser Theorie dient der magere Hinweis, daß alle Methoden des Hypnotisierens geeignet seien, die Erregung des Plex. carot. int. [Geflecht der gehirnversorgenden Gefäße - wp] hervorzurufen. Dieser Beweis scheint uns gänzlich unzureichend. Abgesehen davon, daß eine rein physiologische Theorie, wie sie hier vorliegt, niemals geeignet sein kann, die Erscheinungen der Hypnose zu erklären, da diese auf psychischem Weg ausgelöst werden, ist die Hypothese, auf die KRARUP seine Anschauung stützt, zweifellos falsch. Wenn auch die Halsarterien und die Aorta spinales post. sich noch so sehr erweitern, - was zudem noch des Nachweises bedürfte -, so könnte doch dadurch niemals ein Druck auf die Nerven bzw. die sensiblen Wurzeln des Rückenmarks hervorgerufen werden, da die Gefäße in der lockeren Umgebung, in der sie liegen, genügend Spielraum haben, sich auszudehnen, ohne daß die Nerven dadurch gedrückt werden. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, was wir für ausgeschlossen halten, entspricht es der Erfahrung, daß durch einfachen Druck auf den III., IV. und VII. Gehirnnerven die motorischen und sekretorischen Phänomene des hypnotischen Schlafes ausgelöst werden könnten. Die beiden folgenden Theorien beschäftigen sich mehr mit einer psychologischen Analyse des hypnotischen Zustandes, als mit einer Erklärung desselben; eine Beschäftigung, die weit fruchtbarere Ergebnisse zeitigt, als die planlose Spekulation. DÖLLKEN charakterisiert die Hypnose als eine willkürliche Reduktion der Sinnestätigkeit und der assoziativen Tätigkeit auf ein Minimum (Einengung des Bewußtseins), wobei aber nicht eine vollständige Ausschaltung dieser Tätigkeiten stattfindet. Physiologische Bedingung für das Zustandekommen dieses Ereignisses ist eine relative Hirnanämie, die vorwiegend die Rinde und die kortikalen Bahnen betrifft. Aus dieser Anämie resultiert ein bestimmter Tonus der Nervengebilde, welcher sie befähigt, bei Reizen, die weit unter dem Schwellenwert der Norm liegen, isoliert in einen Zustand der besseren Ernährung und Funktionsfähigkeit zu geraten. Grund der Amnesie ist der Unterschied in der Erregbarkeit der Nervengebilde gegen die Norm oder aber die geringen, assoziativen Verknüpfungen der Reize. Aufwachen erfolgt durch sukzessive oder plötzliche Reizung aller Sinneszentren, entweder direkt oder auf assoziativem Weg, wodurch der normale Tonus in den Hirnelementen wiederhergestellt wird. Ohne auf die physiologische Seite dieser Theorie einzugehen, die uns ebenso unbewiesen und unbeweisbar scheint, wie in den vorher erörterten Fällen, scheint uns die psychologische Analyse DÖLLKENs auf dem richtigen Weg zu sein, wie wir sogleich Gelegenheit haben werden, näher zu begründen. Daher polemisiert er mit Recht gegen die Auffassung JENDRASSIKs, der lediglich in der Aufhebung oder Einschränkung der assoziativen Tätigkeit des Gehirns, sowie gegen diejenige WUNDTs, der in der einseitigen Richtung der passiven Aufmerksamkeit und in der Funktionshemmung der bei den Willens- und Aufmerksamkeitsvorgängen wirksamen Zentralgebiete und Erregbarkeitssteigerung der Sinneszentren das Wesen der Hypnose erblickt. Nach BRAMWELL (133) ist die Hypnose kein Monoideismus [Konzentration des Bewußtseins in eine Richtung - wp], wie man allgemein seit längerer Zeit anzunehmen pflegt, sondern ein Polyideismus, ein erweitertes Bewußtsein, weil sich gleichzeitig eine Reihe von Suggestionen realisieren können. Dieser Behauptung müssen wir beipflichten, obwohl wir die Begründung BRAMWELLs ablehnen, wonach das Bewußtsein in der Hypnose auf das umfangreichere Unterbewußtsein ausgedehnt ist. Wir meinen vielmehr, da wir ein Unterbewußtsein nicht kennen, daß sich das Bewußtsein in der Hypnose genauso verhalte, wie das Bewußtsein im Wachzustand. Ob der Umfang des Seelenlebens in der Hypnose eingeschränkt ist oder nicht, hängt übrigens vom Belieben des Hypnotiseurs ab, kann also nicht zur Wesensbestimmung der Hypnose herangezogen werden. Die Bemerkung BRAMWELLs, daß nicht die Suggestionen das Wesen des Hypnotismus bilden, sondern vielmehr die Annahme, die Realisierung derselben, halten auch wir für zutreffend, im Gegensatz zur herrschenden Anschauung, die den Begriff der Suggestion zu weit faßt und infolgedessen alle Erscheinungen der hypnotischen Phänomenologie mit diesem Schlagwort erklärt zu haben glaubt. Die vortrefflichsten Ausführungen über das Wesen des Hypnotismus verdanken wir VOGT (134), dessen theoretische Darlegungen wir hier leider nur kurz besprechen können. VOGT geht von den Lehren der modernen wissenschaftlichen Psychologie aus, indem er sich auf den Standpunkt des psychophysischen Parallelismus mit geschlossener physikalischer Kausalität stellt, den MÜNSTERBERG (135) in mustergültiger Weise entwickelt hat. Er stellt zunächst den Begriff der Konstellation fest, als den Gesamtmechanismus aller zentralen Leitungen und Erregbarkeitsverhältnisse: dieses Konstellation, von der die Stärke und deshalb das Bewußtswerden der zentralen Erregungen abhängig ist, ist die Resultante aller bisherigen bewußten Erregungen des Zentralnervensystems, aber auch aller unbewußten und nutritiven [ernährungsbedingten - wp] Beeinflussungen. Den von der Norm abweichenden Zustand der Konstellation bezeichnet er als Dissoziation [Trennung von neuronalen Prozessen - wp], wobei eine Steigerung oder Herabsetzung der Erregbarkeit gewisser Zentren stattfinden kann. Die Möglichkeit einer solchen Veränderung beruth darauf, daß die in der Großhirnrinde anlangenden nervösen Erregungen, Neurokyme [Nervenwellen - wp], dort als funktionelle Reize wirken und den Stoffwechsel in den zentralen Elementen steigern; in diesem gesteigerten Stoffwechsel besteht nämlich der materielle Parallelvorgang der psychischen Erscheinungen. Die physiologische Bedingung einer jeden solchen Steigerung des zentralen Stoffumsatzes ist eine örtliche Zunahme der Stoffzufuhr, eine funktionelle Hyperämie, die aber nicht in einer Änderung der Gesamtblutzufuhr besteht, sondern in der günstigsten Verteilung des Blutes, unter der der Chemismus der nervösen Elemente des Gehirns am besten zustande kommt. Diese Stoffzufuhr geschieht durch Veränderung der Zellen der Kapillaren [feiner, langgestreckter Hohlraum - wp] und durch Veränderung des Blutdruckes. Indessen sind die vasomotorischen Veränderungen als solche nicht genügend zur Erklärung des Zustandekommens der psychischen Vorgänge; sie sind nur sekundär wirkende Momente, während die primären Ursachen in den neurodynamischen Veränderungen, also in der Zuleitung und Ableitung der Neurokyme zu den verschiedenen Zentren gesucht werden müssen, die nach dem WUNDTschen Prinzip der Kompensation der Funktionen, d. h. der Funktioshemmung eines bestimmten Zentralgebietes durch Funktionssteigerung anderer in Wechselbeziehung stehender Gebiete erfolgen. Die von der normalen Konstellation abweichende Dissoziation kann sich nun einmal als einseitige Bahnung repräsentieren, wie z. B. beim Zustand der Kritiklosigkeit gegenüber Wahnideen und Halluzinationen oder aber als Herabsetzung der Erregbarkeit, also als Hemmung. Eine solche Hemmung im normalen Zustand ist stets nutritiver Art und kann beruhen
2) auf Herabsetzung der Stoffzufuhr oder Anämie, die auf einen primären vasomotorischen Reflex zurückzuführen ist, wie z. B. bei Ermüdung und Schlaf. Die Hemmung äußert sich durch verlangsamte Fortpflanzung der Neurokyme; sie führt ferner durch Ausfall von einzelnen Elementen zur Vereinfachung der nervösen Vorgänge, zur Monotonie, Ideenflucht und illusionären Umdeutung der Empfindungen. Jedoch findet bei der Hemmung zugleich eine Steigerung der Erregung in den einmal erregten Elementen statt und zwar
2) wegen der Hemmung in der Ableitung, wodurch eine Stauung der funktionellen Reize im Zentrum herbeigeführt wird, dem sie einmal zugeleitet worden ist.
112) J. BERGMANN, Ist die Hypnose ein physiologischer Zustand? 113) A. VOISIN in "Revue de l'hypnotisme", Bd. IX, 1894 114) C. SCHAFFER, Suggestion und Reflex, Jena 1895 115) A. DÖLLKEN, Beiträge zur Physiologie der Hypnose, Zeitschrift für Hypnose, Bd. IV, 1895 116) CROCQ FILS, État de la sensibilité et des fonctions intellectuelles chez les hypnotisés, Vortrag auf dem Kongress 1894 117) J. M. BRAMWELL, On the appreciation of time by somnambules, Kongress 118) von BECHTEREW, zitiert in Literaturbericht von SCHRENCK-NOTZING, "Revue de l'hypnotisme", Bd. IX, 1894 119) M. L. PATRIZI, Il tempo di reazione semplice studiato in rapporto della curva pletismografica cerebrale, "Riv. sperim. di Frenetria, Vol 23, II, 1897 120) O. VOGT, Spontane Somnambulie in der Hypnose, Zeitschrift für Hypnose, Bd. VI, 1897 121) WETTERSTRAND, Selbstbeobachtungen während des hypnotischen Zustandes, Angaben zweier Patienten, Zeitschrift für Hypnose, Bd. VI, 1896 122) MAX HIRSCH, Über Schlaf, Hypnose und Somnambulie, Die medizinische Wochenschrift, 1895, Nr. 26 123) LIÉBEAULT, Das Wachen ein aktiver Seelenzustand, der Schlaf ein passiver Seelenzustand, Zeitschrift für Hypnose, Bd. III, 1894 124) BÉRILLON, Notice sur l'institut psycho-physiologique de Paris, Appendix: Applications de la méthode graphique á l'étude de l'hypnotisme, Paris 1897 125) von SCHRENCK-NOTZING, zitiert bei DÖLLKEN a.a.O. 126) LIÉBEAULT, Das Wachen ein aktiver Seelenzustand, der Schlaf ein passiver Seelenzustand, Zeitschrift für Hypnose, Bd. III, 1894 127) LANDMANN, Über funktionelle Gehirnstörungen - Eine psychologische Studie 128) van de LANOITTE, La suggestion et le fonctionnement du systéme nerveux. "Revue de l'hypnotisme", 1896 129) PUPIN, La théorie histologique du sommeil, "Revue de l'hypnotisme", Bd. IX, 1894 130) HELD, Über den histologischen Bau der Nervenzellen, I. Versammlung mitteldeutscher Neurologen und Psychiater in Leipzig 1897 zitiert in "Archiv für Anatomie und Physiologie" 131) SCHLEICH, Schmerzlose Operationen. Psychophysik des natürlichen und künstlichen Schlafes, 2. Auflage, Berlin 1897 132) KRARUP, Literaturbericht von SCHRENCK-NOTZING, "Revue de l'hypnotisme", Bd. IX, 1894 133) J. MILNE BRAMWELL, Personally observed Hypnotic Phaenomena; and what is Hypnotism? Proceedings of the Society of Psychical Research, Part 31, 1896 134) O. VOGT, Zur Kenntnis des Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus, Zeitschrift für Hypnose, Bd. V, 1896 135) MÜNSTERBERG, Aufgaben, Methoden und Ziele der Psychologie. Berlin 1892 |