tb-1p-4C. GöringA. KastilW. WundtG. HeymansO. Meyerhof    
 
LEONARD NELSON
Die kritische Methode
und das Verhältnis der
Psychologie zur Philosophie

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    I. Die regressive Methode
II. Über die Begründung der Urteile
III. Theorie der Deduktion
IV. Über das Verhältnis der Kritik zum System
V. Über das konstitutive Prinzip der Metaphysik
- Anhang: Über das Verhältnis des sog. Neukantianismus

"Der Kritizismus ist ebensowenig Idealismus wie Materialismus, weil er überhaupt keine Weltansicht ist, sondern eine Methode."

III.
Theorie der Deduktion

15. Jede Vorstellung ist die Vorstellung eines Gegenstandes und zwar ist der Anspruch auf Existenz des Gegenstandes das Wesentliche, was die Erkenntnis von der nur problematischen Vorstellung unterscheidet. Die Erkenntnis ist zu unterscheiden sowohl vom Subjekt der Erkenntnis, dem Ich, als vom Gegenstand derselben. Dieser letztere mag ein äußerer oder ein innerer sein, die Erkenntnis ist immer von ihm unterschieden. Das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstand ist nicht das des Geistes zum Körper oder des Ichs zur Außenwelt. Das Ich kann Gegenstand der Erkenntnis werden, so gut wie die Außenwelt; es sind aber auch bei der Selbsterkenntnis zwar  Subjekt  und Objekt aber darum doch nicht  Erkenntnis  und Objekt identisch.

Der Gegenstand der Erkenntnis mag also sein welcher er wolle, äußerer oder innerer, so ist doch die Erkenntnis jederzeit eine innere Tätigkeit. Als solche ist sie aber selbst ein Gegenstand, nämlich Gegenstand der inneren Erfahrung und kann als solcher studiert werden. Unter den Bedingungen, von denen ich in innerer Erfahrung meine Tätigkeiten abhängig finde, wird auch alle Tätigkeit des Erkennens stehen, sofern sie dem Geist schlechthin angehört und nicht nur infolge äußerer Eindrücke zukommt. Diese ursprünglich Selbsttätigkeit im Gegensatz zur sinnlich angeregten ist aber gerade das Unterscheidende aller reinen Vernunfterkenntnis. Also werde ich mir durch innere Erfahrung eine Theorie der Vernunft verschaffen können, die die Elemente zur Ableitung sämtlicher reiner Vernunfterkenntnisse enthält.

So wird es möglich sein, ohne mit den philosophischen Prinzipien selbst in abstracto zu operieren, sie auf empirschem Wege zu deduzieren. Ein Verfahren, dem gegenüber Skeptizismus garnicht anzubringen ist, eben weil wir dabei ganz auf dem Boden der  Tatsachen  bleiben, die einem jeden zur Beobachtung offen liegen, ohne uns auf irgendwelche metaphysischen Erörterungen oder Hypothesen einzulassen. Diese  psychologische Deduktion  ist zugleich unabhängig von der Grundlegung des Systems der Grundsätze durch die logisch-regressive Zergliederung der Urteile des Bewußtseins und wir haben den Vorteil, hinterher beides vergleichen und  so  das quid juris [die Rechtsfrage - wp] des Bewußtseins durch das quid facti [die Tatsachenfrage - wp] der Vernunft entscheiden zu können.

16. Es ist aber hier wichtig zu bemerken, daß wir für diese Aufgabe ganz bei geistiger Selbstbeobachtung stehen bleibeb, ohne uns irgendwie auf Vergleichungen mit dem Materiellen einzulassen. Und ferner, daß wir es dabei mit keinerlei Entwicklungsgeschichte zu tun haben, weder mit angeborenen Begriffen noch mit erworbenen, überhaupt mit keinen Vergleichungen historischer oder ethnologischer Art. Denn wir gehen gar nicht auf die individuellen Phänomene des Bewußtseins aus, sondern auf die allgemeine Form des inneren Lebens, wie sie der Vernunft als solcher angehört, den Bewußtseinstätigkeiten als Norm zugrunde liegt und der Reflexion ihre Regeln gibt. Mag man nun dies nicht als eine Aufgabe der Psychologie bezeichnen - um den Namen ist es uns nicht zu tun, gebrauchen wir das zweideutige Wort Erkenntnistheorie oder nennen wir es mit Rücksicht auf den Zweck und das Interesse Transzendentalpsychologie oder auch  philosophische Anthropologie  - so wird doch unter allen Umständen nur innere Erfahrung der dadurch bezeichneten Aufgabe zu genügen imstande sein.

17. So großen Schwierigkeiten nun auch gerade die Selbstbeobachtung ausgesetzt sein mag, so verbinden wir doch mit dieser  subjektiven Wendung aller Spekulation  einen doppelten Vorteil. Erstens nämlich bleiben wir ganz bei der Beobachtung, d. h. bei der Erkenntnis durch Sinnesanschauung stehen. Wir entfernen uns also nicht in das Gebiet abstrakten Denkens und verlieren uns überhaupt nicht in die Spitzfindigkeiten und Grübeleien mittelbarer Beweisverfahren, die der Gefahr des Irrtums umso mehr ausgesetzt sind, je mittelbarer sie sind, je weiter sie sich von der Anschauung entfernen. Je näher wir bei dieser, in unserem Falle der Selbstbeobachtung, bleiben, desto weniger sind wir logischen Fehlern ausgesetzt und desto leichter lassen sich Fehler, wo sie dennoch vorkommen sollten, aufdecken und verbessern. Auch kommen wir so nicht in Gefahr, uns auf bloße Wahrscheinlichkeiten einzulassen. Denn alle Wahrscheinlichkeit gehört, wie der Irrtum, nur der Reflexion an und beruth auf unvollständigen Schlüssen. Die Anschauung dagegen, von der wir uns nicht entfernen und auf die wir immer zurückgehen, ist überhaupt nicht der Ungewißheit unterworfen, also auch nicht den verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit.

Damit ist der andere Vorteil eng verbunden, daß die Anwendung der metaphysischen Grundsätze, die wir doch bei keiner Theorie umgehen können, in keinem Gebiet unserer Erkenntnis so beschränkt ist, wie in der Psychologie. Die Anwendung der Metaphysik in einer Wissenschaft reicht nämlich nur soweit wie die Herrschaft der Mathematik, da nur mittels mathematischer Größenbestimmungen unsere Beobachtungen den metaphysischen Grundbegriffen subsumiert werden können. Die Herrschaft der Mathematik ist aber in der inneren Erfahrung äußerst eng begrenzt wegen der völligen Unmöglichkeit extensiver Messung. Wir sind hier also fast allein auf Beobachtung angewiesen und entgehen so, dank der Beschaffenheit des Gegenstandes, aller Verlegenheit, uns auf einen weitläufigen Streit um metaphysische Grundbestimmungen einlassen zu müssen.

Die Erkenntnis durch empirische Anschauung ist zwar nur assertorisch [als gültig behauptet - wp] und nicht apodiktisch [logisch zwingend, demonstrierbar - wp] wie die rationale Erkenntnis der Philosophie, aber sie ist darum doch nicht weniger gewiß oder unsicherer als diese. Vielmehr fehlt dieser, da sie ursprünglich dunkel ist, die Evidenz, durch die jene sich auszeichnet. Denn es ist wohl zu beachten, daß der modalische Unterschied assertorischer und apodiktischer Erkenntnis nicht einen Unterschied assertorischer und apodiktischer Erkenntnis nicht einen Unterschied des Grades der Gewißheit, sondern einen Unterschied des Ortes ihres Ursprungs bezeichnet. Objektive Gültigkeit kommt beiden Erkenntnisarten auf gleiche Weise zu, aber ihr subjektives Verhältnis zum Bewußtsein ist ein verschiedenes: bei jener ist es ein unmittelbares Verhältnis der Evidenz, bei dieser dagegen ein durch Reflexion vermitteltes.

Eben diese ursprüngliche Dunkelheit ihrer Prinzipien bildet die große Schwierigkeit in allen philosophischen Wissenschaften; dieser gänzliche Mangel an Anschaulichkeit und Evidenz ist der einzige Grund, warum es nicht gelingen kann, auf dogmatische Weise einem philosophien System allgemeine Anerkennung zu sichern. So besteht dann auch der Kritizismus in nichts anderem als in dem Vorschlag, anstatt geradezu die philosophischen Abstraktionen systematisch aufzustellen, einen Umweg einzuschlagen, der zwar mehr Zeit und Arbeit erfordert, dafür aber - erleuchtet durch die Evidenz konkreter Anschauung - desto sicherer und unfehlbarer zum Ziel führt.

18. Nichts ist für das Verständnis dieser Deduktioni wichtiger als ihre Unterscheidung von jeder Art des Beweises. Die Kritik der Vernunft fragt nur:  Welche  unmittelbare Erkenntnis besitzt unsere Vernunft? Wobei als Obersatz aller Deduktionen das Selbstvertrauen der Vernunft auf die Wahrheit ihrer unmittelbaren Erkenntnis überhaupt schon feststehen muß. Obwohl also die Kritik die metaphysischen Prinzipien aus einer Theorie der Vernunft deduziert, welche selbst durch innere Erfahrung, mithin nur induktorisch gewonnen werden kann, so werden doch die metaphysischen Prinzipien ihrer Gültigkeit nach nicht auf Erfahrung oder Induktion gegründet. Denn sie werden aus der Theorie der Vernunft nicht bewiesen, sondern nur als solche aufgewiesen; wobei die Schlußkrat in der Beantwortung ihres quid juris nicht auf den zugrunde gelegten Induktionen der inneren Erfahrung, sondern auf dem Selbstvertrauen der Vernunft ruht. Dieses Selbstvertrauen der Vernunft ist das allgemeine Prinzip, das die psychologischen Ableitungen aus der Theorie der Vernunft zu kritischen Deduktionen macht, d. h. das es uns ermöglicht, in der inneren Erfahrung einen Leitfaden für die systematische Begründung der Philosophie zu finden. Die Unmittelbarkeit der Erkenntnis, ihr Ursprung aus der reinen Vernunft (im Gegensatz zu der der Willkür und mithin dem Irrtum unterworfenen mittelbaren Erkenntnis der Reflexion) bildet den Mittelbegriff des ganzen kritischen Gedankenganges seiner logischen Form nach. Zum Realitätsbeweis dieses Mittelbegriffs dient uns eben die psychologische Theorie der Vernunft.

Zur Erläuterung des hier entwickelten höchst künstlichen logischen Baus der Deduktion können vielleicht noch die folgenden Bemerkungen dienen. - Während wir erst die Begründung von Grundsätzen, die doch  unbeweisbare  Wahrheiten sind, zur Aufgabe der Deduktion gemacht hatten, so finden wir jetzt, daß die Deduktion allerdings einen  Beweis  enthalte. Dieses Resultat wird nicht mehr paradox erscheinen, wenn man beachtet, daß es sich (wie schon die obigen Erörterungen in § 8 ergaben) in der Kritik nicht um den Beweis eines metaphysischen Grundsatzes handelt, denn ein solcher ist in der Tat unbeweisbar, sondern um den Beweis, daß ein Satz wirklich ein metaphysischer Grundsatz ist. Mit anderen Worten: die Kritik beweist den  psychologischen  Satz, daß die Erkenntnis, die ein gewisser metaphysischer Satz ausspricht, eine unmittelbare Erkenntnis aus reiner Vernunft ist.  Der Beweis dieses psychologischen Lehrsatzes ist die Deduktion jenes metaphysischen Grundsatzes. 

So beweist die Kritik z. B. den Satz: "Der Grundsatz der Kausalität entspring aus der Verbundenheit des mathematischen Schemas der Veränderung mit der Kategorie der hypothetischen Synthesis in der unmittelbaren Erkenntnis", nicht den Satz der Kausalität selbst. Dieser wäre metaphysisch; jener aber, den die Kritik beweist, ist psychologisch. Und dieser Beweis wird geführt aus einer Theorie der Vernunft, die durch innere Erfahrung gewonnen wird. Die Kritik wird daher auch, wie jede Erfahrungswissenschaft, unter ihren Prämissen bereits metaphysische Prinzipien als Bedingungen ihrer Möglichkeit voraussetzen; jedoch nicht, um diese zu beweisen - denn das wäre offenbar ein Zirkel - sondern um sie zu deduzieren, d. h. um ihren Ursprung in der reinen Vernunft zu beweisen. So wird das Kausalitätsgesetz schon vorausgesetzt unter den Gründen seiner eben erwähnten Deduktion.

Wie kann aber die nur psychologische Nachweisung des  Ursprungs  eines metaphysischen Satzes zu seiner  Begründung  werden? Nur durch Beziehung auf das Faktum des Selbstvertrauens der Vernunft. Auf der Beziehung auf dieses Faktum beruth zuletzt die Möglichkeit der Deduktion als eines  Rechts nachweises von Prinzipien a priori aus den Gründen ihrer Möglichkeit. Der Ausspruch dieses Faktums bildet daher den obersten Grundsatz der Kritik, er ist nichts anderes, als der Ausspruch des fundamentalen  Faktums  des Erkennens selbst.

Der  Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft  verdient allein den Namen eines kritischen (oder transzendentalen) Prinzips, sofern darunter ein Satz verstanden wird, der, ohne selbst metaphysisch zu sein, ein Kriterium der Legitimität metaphysischer Sätze an die Hand gibt. Denn er enthält die Legitimation aller Sätze, die ihren Ursprung in der reinen Vernunft und mithin sich selbst als metaphysische Grundsätze erweisen können.  Welche  Sätze aber aus reiner Vernunft entspringen, darüber vermag er nichts auszusagen. Er figuriert also nur als Obersatz in der logischen Form der Deduktion. Ihrer Untersätze müssen wir uns auf anderem Weg versichern. Dieser Weg ist die Theorie der Vernunft oder wie wir auch sagen können, die Theorie der "transzendentalen Gemütsvermögen", wenn wir darunter mit KANT solche verstehen, welche den Grund der Möglichkeit von Prinzipien a priori enthalten.

Jedes andere angeblich kritische Prinzip als der Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft ist entweder zu eng, indem es unsere metaphysischen Befugnisse willkürlich einschränkt oder zu weit, indem es die Ansprüche der Metaphysik ungebührlich ausdehnt.

Ein Beispiel mag das erläutern.

KANT fehlte noch ein solches einheitliches kritisches Prinzip. Daher rührt der Mangel an Konzentration in seiner Lehre. Er kannt nämlich die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft noch nicht und betrachtete die metaphysische Erkenntnis einzig vom Standpunkt der Reflexion aus. So konnte er dem Metaphysischen in unserer Erkenntnis keine unmittelbare Gültigkeit zuerkennen, sondern nur mittelbar, sofern es sich logisch an die Sinnesanschauung anschließen ließ. Daher erlaubt ihm sein  Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung  zwar eine Rechtfertigung der Kategorien als der logischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, aber es erweist sich als zu eng zur Begründung der spekulativen Ideen. Er ist daher gezwungen, die objektive Gültigkeit derselben, obwohl sie als transzendentale Ideen den Grund ihrer Möglichkeit in der Vernunft haben, für einen "transzendentalen Schein" zu erklären. Da sie sich ihm aber andererseits als Bedingungen der Möglichkeit der Sittlichkeit erweisen, bedarf er zur Rechtfertigung ihres praktischen Gebrauchs der Einführung eines neuen und kritisch nicht gerechtfertigten Prinzips, des Prinzips vom Primat der praktischen Vernunft. Jene zu enge Fassung des kritischen Prinzips bei KANT führt also zu der unkritischen Einschränkung unseres spekulativen Vermögens auf das theoretische Gebiet und infolgedessen zu einem kritisch unauflöslichen Zwiespalt zwischen der spekulativen und der praktischen Vernunft.

19. Wir wissen, daß wir irren können, daß wir auch bei der geschicktesten Beweisführung und der schlagendsten Konsequenz in unseren wissenschaftlichen Systemen uns nicht beruhigen können, solange wir nicht die letzten Grundlagen und tiefsten Voraussetzungen derselben sichergestellt haben. Darum mißtrauen wir jedem Urteil, ehe nicht dieser Nachweis bis zu seinen letzten Gründen erbracht ist. Jedes Urteil gilt uns als  Vorurteil,  ehe nicht sein Ursprung aus der aller Willkür des Denkens entzogenen Selbsttätigkeit der Vernunft erwiesen ist. Die Vernunft aber gilt uns als oberste Instanz aller Wahrheit, als unantastbar allem Zweifel - wenn wir auch noch nicht wissen, welches der unverfälschte Ausspruch ihrer Wahrheit ist, wenn wir auch diesen vielmehr erst suchen. Denn wem sollten wir trauen, worin sollten wir den Grund unserer Gewißheit setzen, sei es auch nur, um zu zweifeln, wenn nicht in die Vernunft, im Vertrauen auf die allein wir denken, als auch zweifeln können? Philosophie ist aber Wissenschaft, besteht also im Denken, ist folglich selbst nur aufgrund des Vertrauens zur Vernunft möglich. Wer ihr dies zum Vorwurf macht, der verwechselt Irrtum und Unvernunft. Philosophie kann so wenig wie eine andere Wissenschaft Erkenntnis aus nichts erzeugen, Wahrheit erschaffen, wo noch keine zugrunde liegt. Sie setzt vielmehr, sofern sie nicht Zauberei ist, sondern Wissenschaft, für jeden, der an ihr teilnehmen will, eine richtig organisierte Vernunft voraus. Ihr Geschäft ist allein, der Reflexion zum irrtumsfreien Ausspruch der Vernunft zu verhelfen, nicht aber die Vernunft selbst einer Prüfung ihrer Tauglichkeit zu unterziehen. Wer vielmehr seiner Vernunft nicht traut und ihre Zuverlässigkeit erst beglaubigt haben möchte, der wende sich an die Psychiater und lasse die Philosophen in Ruhe.

Durch die Unterscheidung der Reflexion von der unmittelbaren Erkenntnis oder des Verstandes von der Vernunft erledigt sich auch das alte, immer noch wiederkehrende Bedenken, daß bei unserer Methode die Allgemeingültigkeit der metaphysischen Prinzipien verloren gehe, da es eine unbegründete Hypothese sei, daß, was ich in meinem eigenen Geist finde, sich ebenso bei allen anderen Menschen finden müsse. Uns wundert nur, daß gerade  die  nicht aufhören, diesen Einwand zu erheben, die sonst so lebhaft die Unabhängigkeit der Begründung der Philosophie von aller Empirie und Psychologie verlangen. Denn was ist die vermeintliche Hypothese anderes als ein psychologischer Satz, der mit der Metaphysik schlechterdings nichts zu tun hat. Kann uns nicht, wenn wir die metaphysischen Grundsätze suchen, die ethnologische Frage nach der Geistesbeschaffenheit unserer Mitmenschen gleichgültig sein? Wer die objektive Gültigkeit seiner Erkenntnis nicht durch das Selbstvertrauen zur eigenen Vernunft besitzt, der wird sie sich schwerlich dadurch verschaffen können, daß er erfährt, wie die Vernunft anderer organisiert ist. Wer aber dieses Selbstvertrauen zu seiner Vernunft besitzt, dem wird es, wenn er sich für philosophische  Wissenschaft  interessiert, genügen, diese seine Vernunft gründlich kennen zu lernen; denn eben in ihr wird er die philosophische Wahrheit finden. Jene Frage hat das vermeintliche philosophische Interesse gar nicht, das man ihr beilegt. Denn was wir bei anderen Menschen empirisch kennen lernen können, ist immer nur der Verstand. Der Verstand aber kann irren - der Verstand anderer so gut wie der meinige - und sofern die Majorität über Wahrheit und Irrtum nicht entscheidet, werden wir eine andere Regel der philosophischen Wahrheit suchen müssen als die Methode der Statistik. Bezieht sich aber jene Frage nicht auf den Verstand, sondern auf die Vernunft der Menschen, so hat sie ebensowenig die ihr zugemessene Bedeutung. Vielmehr wird dann jener Satz eine Trivialität, ein bedeutungsloses analytisches Urteil. Denn da alle Geisteserkenntnis eine schlechthin innere ist, so kann ich nur durch Analogie von mir selbst auf die Existenz und Beschaffenheit anderer Geister schließen. Und da ist es ebenso wenig hohe spekulative Weisheit wie eine psychologische Hypothese, daß die Vernunft anderer Menschen ebenso organisiert sei wie die meinige, sondern es ist eben der  Begriff  des Menschen und zwar der einzige (psychologische) Begriff des Menschen, den ich bilden kann: der Begriff aller geistigen Wesen, deren Vernunft so organisiert ist wie die meinige; denn erst von mir schließe ich auf andere Geister, anders könnte ich gar nicht auf sie zu reden kommen.

Verhält es sich aber so, so leistet unsere Methode der Deduktion aus der eigenen Vernunft auch das übrige - und sie allein ist imstande, es zu leisten - : es wird nicht nur die Gültigkeit, das quid juris der Grundsätze nachgewiesen, sondern, eben damit, durch die Eigentümlichkeit der Methode, zugleich der Nachweis erbracht, daß  jeder Mensch  gerade diese philosophischen Prinzipien voraussetze, voraussetzen müsse und allein voraussetzen könne.

Durch unsere psychologische Unterscheidung der Willkürlichkeit der Reflexion von der Selbsttätigkeit der Vernunft und die ihr entsprechende logische von Beweis und Deduktion ist der Skeptizismus endgültig abgetan und der einzig mögliche Standpunkt der Evidenz in der Philosophie gewonnen. Wer nun im Ernst noch Grundsätze anfechten will, der mag den erfahrungsmäßigen Beweis führen, daß sie im deduzierten System der Vernunft keine Stelle haben. Sich aber gegen diese  Methode  zu sträuben, das ist nur der Sport derer, die fürchten müssen, daß doch noch einmal Philosophie als evidente Wissenschaft dem Spiel ihrer eigenen spekulativen Weisheit ein Ende machen könnte, ohne zu bedenken, daß, wer die Herrschaft der Vernunft ablehnt, sich dadurch nur mit dem Blödsinnigen auf eine Stufe stellt.

20. Es ist alos der Kritizismus der Begriffe einer  Methode  und nicht eines philosophischen Systems. Wer dieser  Methode  folgt, ist Kritiker, ganz unabhängig davon, zu welchen Resultaten er damit gelangen mag; und wer ihr nicht folgt, wer die phiolosophische Erkenntnis durch objektive Begründung, sei es durch Beweise oder durch Vergleichung mit den Gegenständen wahr machen will, ist, auch wenn er durch die schließliche Einsicht in die Nichtigkeit des Unternehmens veranlaßt wird, diese auf die Nichtigkeit der philosophischen Erkenntnis selbst zurückzuführen - und darin besteht das ganze Spiel des Skeptizismus -, ist Dogmatiker. Also ist auch der Skeptizismus, sofern er nicht den kritischen Aufschub des Urteils, sondern seine Unmöglichkeit lehrt, Dogmatismus. Diese Warnung, den Kritizismus nicht in den Resultaten, sondern in der Methode zu suchen, kann zur Abweisung vieler Mißverständnisse dienen. So meinte man oft, weil der Kritizismus die Wahrheit nicht in der Vergleichung mit den Gegenständen suche, so leugne er damit deren Existenz und der Kritizismus sei gleichbedeutend mit dem Idealismus und als solcher dem Materialismus entgegengesetzt. Der Kritizismus ist indessen ebensowenig Idealismus wie Materialismus, weil er überhaupt keine Weltansicht ist, sondern eine Methode.

21. Zieht man schließlich in Betracht, daß wir, wenn wir auch die  Notwendigkeit  dieser Methode nur für die Metaphysik dargelegt haben, doch den Beweis ihrer  Möglichkeit  aus gewissen eigentümlichen Beschaffenheiten  rationaler Wissenschaft überhaupt  geführt haben, so sieht man leicht ein, daß sein Ergebnis auf die analytischen Prinzipien der  Logik  ebensowohl Anwendung finden muß wie auf die synthetischen Urteile a priori der Metaphysik. (Die Aufgabe der dadurch postulierten  Kritik der Prinzipien der Logik  ist, infolge der Verwechslung der Deduktion mit dem Beweis, von fast allen bisherigen Logikern verfehlt worden, indem man entweder die Logik überhaupt zu einer psychologischen Disziplin machen wollte oder, um dieser Gefahr zu entgehen, streng dogmatisch zu verfahren suchte und eine besondere Bearbeitung der psychologischen Kritik für überflüssig erklärte, stattdessen aber meist zerstreute Bruchstücke derseleben, ohne ihr psychologische Natur zu erkennen, in das System der philosophischen Logik einmengte.)

Da ferner das Gebiet der synthetischen Urteile a priorie nicht nur die Metaphysik, sondern auch die reine Mathematik umfaßt, so folgt daraus zugleich, daß das Gebiet des Deduzierbaren in unserer Erkenntnis auch mit der Philosophie nicht abgeschlossen ist. Es muß - außer der die Evidenz schon mit sich führenden und darum dem Interesse des Mathematikers allein genügenden Begründung durch Demonstration - auch eine  kritische  Deduktion der Axiome der Mathematik,' ihrem ganzen Umfang nach, möglich sein. Diese Übertragung der Kritik auf die Axiomsysteme der Mathematik konstituiert eine eigene wissenschaftliche Disziplin: die Philosophie der Mathematik oder, nach besserer Bezeichnung, die  kritische Mathematik.  (1)
LITERATUR - Leonard Nelson, Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie - Ein Kapitel aus der Methodenlehre, Hessenberg/Kaiser/Nelson (Hg), Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Bd. 1, Göttingen 1906
    Anmerkungen
    1) Einen Überblick über die Aufgaben und Methoden dieser Disziplin findet man bei HESSENBERG: "Über die kritische Mathematik." (Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft, III. Jahrgang, 2. Stück, 1904)