tb-1Richard KronerPhil. WörterbuchÜber WahrheitAugust Moeltzner    
 
JOHANNES HEINRICH WITTE
Salomon Maimon

"Gemäß seiner strengen Erziehung war Maimon in seiner frühesten Jugend selbst sehr fromm gewesen. Aber was auch sonst oft geschieht, daß, wo die Wissenschaft in so plötzlichen und unvermittelten Gegensatz zur streng religiösen Erziehung tritt, dieselbe auch der letzteren bleibende Grundlagen zerstört und mit ihrer Aufklärung über das Ziel hinausschießt. Das sollte auch Maimon an sich erfahren. Er wurde ein arger Freigeist, der seine Ansichten in rücksichtslosester Weise äußerte und dadurch in seiner Gemeinde, zumal bei den Oberen Anstoß erregte."

I. Einleitung

In der Geschichte der Kantischen Philosophie, dieser die Gegenwart mehr als je mit Recht beherrschenden Lehre, nimmt eine der hervorragendsten Stellungen SALOMON MAIMON ein, ein merkwürdiger jüdischer Denker, mit dessen  Leben sich die nachfolgend Schrift in erster Linie beschäftigen wird und über dessen  wissenschaftliche Bedeutung alsdann eine kurze Nachricht hinzugefügt werden soll.

Das Leben des Mannes ist nämlich in mancher Hinsicht bedeutsamer und noch bei weitem der Beachtung werter als seine Werke, obschon auch letztere durchaus noch nicht genugsam gewürdigt sind.

Zwar werden wir in MAIMON keinen Tugendhelden kennenlernen, ja es durchziehen sein gesamtes Wirken von frühester Zeit bis in die letzten Jahre seiner irdischen Laufbahn Charaktermängel, die uns bisweilen geradezu von der Persönlichkeit dieses Denkers abstoßen. Und doch zeigt sich auch etwas ethisch Hervorragendes im gesamten Wirken desselben, welches letztere freilich nach dem Angedeuteten ein überwiegend psychologisches Interesse hat. Das Ethische aber besteht darin, daß dieses Leben uns ein gewaltiges Emporringen eines starken Geistes zeigt aus den zerrüttetsten und trostlosesten Verhältnissen zu einem Standpunkt, von dem aus derselbe, in voller Klarheit über seine traurige Vergangenheit, auf sie zurückschaut und sie in seiner Selbstbiographie (1) mit treffendem und befreitem Blick uns vor Augen führt. Ja, dieses Leben, demgemäß MAIMON ein Geist ersten Ranges ist, erhöht zugleich das Interesse für die Schriften desselben, die vielleicht eine Bedeutung von solchen, deren Gedanken eine wahrhaft epochemachende Wirkung haben, erlangt haben würde, wenn ihr Verfasser auf ihren Inhalt besonders hinsichtlich der Darstellungsweise derselben die geistige Kraft hätte verwenden können, mit der er den Stürmen des Lebens unablässig Trotz zu bieten veranlaßt war. Selbst so sind aber die Schriften des Mannes, wenn sie auch nicht die Art von solchen ersten Ranges behaupten können, doch unter denen zweiter Gattung wenigstens ihrem Inhalt nach von hervorragendster Bedeutung.

Allein nicht nur jenes  psychologische  Interesse, sondern auch ein zweifaches  historisches  darf MAIMONs Leben in Anspruch nehmen. Wenigstens in  der  Weise, wie der Selbstbiograph es uns dargestellt hat, eröffnet es uns einmal einen tiefen Einblick in die sozialen Zustände Polens in der Zeit unmittelbar vor dessen erster Teilung und sodann in die Eigenart jüdischer Gelehrsamkeit, wie sie sich in talmudistischem und kabbalistischem Wesen kundgibt. Von letzteren Punkten werde ich jedoch hier ganz absehen sowohl weil wir in dieser Beziehung auf mannigfaltige Weise jetzt durch andere noch besser belehrt sind und das Vorurteil gegen die Juden nicht annähernd mehr dem des vorigen Jahrhunderts vergleichbar ist, als auch weil solche Betrachtungen uns von den Schicksalen MAIMONs zu weit ablenken würden. Immerhin gebührt diesem wegen seiner Selbstbiographie das Verdienst, als einer der ersten offenherzig und eingehend für das Verständnis weiter Kreise die Verhältnisse seiner Glaubensgenossen in ihren Vorzügen und Nachteilen urkundlich getreu dargestellt zu haben. Die Rücksichtnahme auf die polnischen Zustände läßt sich jedoch zum Teil nicht von der Jugendgeschichte loslösen.


II. Das Leben

1. Die Eltern

SALOMON MAIMON ist 1754 in polnisch Litauen geboren. Dort hatte sein Großvater im Gebiet des Fürsten RADZIWIL nahe der Stadt Mirz einige Güter in einer Art von Erbpacht. Von den Zuständen, die damals und noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in jener Gegend herrschten, macht MAIMON eine Schilderung, aus der ich was er über die Juden, denen er entstammte, sagt, mitteilen will.
    "Die Einwohner von Polen" - so beginnt er seine Lebensbeschreibung - "können füglich in folgende sechs Klassen oder Stände eingeteilt werden: hoher Adel, niederer Adel, Halbadlige, Bürger, Bauern und Juden."
Die letztere Klasse, der MAIMON entstammte, geht uns hier allein näher an; von ihren Mitgliedern berichtet er: "diese treiben Handel, sind Professionisten [Facharbeiter - wp] und Handwerker, Bäcker, Brauer, Bier-, Branntwein- und Meth-Schenker und dgl." Das gilt jedoch nur vom Groß dieses Standes, das Genauere über denselben sit vielmehr in folgender Schilderung enthalten.
    "Die Juden können (wiederum) in drei Klassen eingeteilt werden, nämlich in arbeitsame Ungelehrte, in Gelehrte, die von ihrer Gelehrsamkeit Profession machen, und in diejenigen, die sich bloß der Gelehrsamkei widmen, ohne sich mit irgendeinem Erwerbsmittel abzugeben, sondern von der arbeitsamen Klasse erhalten werden. Aus der zweiten Klasse sind die Oberrabbiner, Prediger, Richter, Schulmeister und dgl. Die dritte Klasse besteht aus denjenigen Gelehrten, die wegen ihrer vorzüglichen Talente und Gelehrsammkeit, die Aufmerksamkeit der Ungelehrten auf sich ziehn, von diesen in ihre Häuser genommen, mit ihren Töchtern verheiratet, und einige Jahre auf eigene Unkosten mir Frau und Kindern unterhalten werden. Nachher aber mußt diese Frau die Ernährung ihres heiligen Müßiggängers und ihrer Kinder (die bei dieser Klasse allgemein sehr zahlreich sind) aus sich nehmen, worauf sie sich, wie billig, sehr viel einbildet."

    "Nirgends ist" - nach MAIMONs Urteil - "Religionsfreiheit und Religionshaß in einem solchen Grad anzutreffen wie in Polen. Dieser scheinbare Widerspruch hebt sich durch die Betrachtung, daß die in Polen den Juden zugestandene Religions- und bürgerliche Freiheit, nicht aus Achtung für die allgemeinen Rechte der Menschheit entspringt, sowie auf der anderen Seite "der Religionshaß . . . keineswegs die Wirkung einer weisen Politik ist, . . . sondern beide Folgen der in diesem Land herrschenden politischen Ungewißheit und Trägheit sind. Da nämlich die Juden bei allen ihren Mängeln, dennoch in diesem Land beinahe die einzigen brauchbaren Menschen sind, so sah sich zwar die polnische Nation gezwungen zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse ihnen alle möglichen Freiheiten zu bewilligen, doch mußte auch ihre moralische Unwissenheit und Trägheit auf der anderen Seite notwendig Religionshauß und Verfolgung hervorbringen."
MAIMONs Großvater, HEIMANN JOSEPH, gehörte demnach zur ersten Judenklasse, den arbeitsamen Ungelehrten. Von den RADZIWILschen Dörfern, die er in Erbpacht hatte, wählte er das am Niemen [memel - wp] mit Namen Sukowiburg zum Sitz.

Wie überall im Land so waren auch hier die Zustände moralisch, politisch und ökonomisch in völliger Auflösung und Verderbnis begriffen; zudem war von geordneten Rechtsverhältnissen keine Spur.

So waren die Gebäude, die zu des Großvaters Pacht gehörten, "aus Alter verfallen. . . . Dem Pachtkontrakt zufolge sollte der Gutsherr alles ausbessern und in einen brauchbaren Stand setzen lassen. Dieser ielt sich aber, wie alle polnischen Magnaten, beständig in Warschau auf, konnte also auf die Verbesserung seiner Güter keine Aufmerksamkeit verwenden." Die Verwalter aber hatten nur ihren eigenen Vorteil im Auge und "drückten die Untertanen durch allerlei Erpressungen." Nun hatte jenes Gut gerade eine große Passage "und da die Brücken in schlechtem Zustand waren, so geschah es nicht selten, daß diese (Brücken), gerade wenn sie ein polnischer Herr mit seinem reichen Gefolge passierte, brachen. . . . Man ließ alsdann den armen Pächter holen, legte ihn neben die Brücke, und karbatschte [peitschte - wp] ihn so lange, bis man glaubte sich genug gerächt zu haben."

Um einem solchen Schicksal zu entgehen hatte der Großvater JOSEPH HEIMANN eigens einen von seinen Leuten als Wachposten an der Brücke aufgestellt. Dieser mußte einen etwaigen Unfall eiligst melden, damit sich die Familie MAIMON noch zeitig genug ins nächste Gebüsch retten konnte. Alle hatten sich infolge solcher vorsichtiger Postenmeldung einst geflüchtet, nur unseres MAIMON Vater, der davon nichts wußte und hinterm Ofen spielte, blieb allein zurück. er wurde vom ergrimmten und Rache suchenden Herrn dort allein bei der Durchsuchung des Hauses gefunden und gefragt, ob er Branntwein trinken wolle. Dem sich Weigernden schrie jener entgegen: "Wenn du nicht Branntwein trinken willst, so sollst du Wasser trinken. Er ließ auch sogleich einen vollen Einmer Wasser holen, und zwang meinen Vater" - so erzählte MAIMON - "mit Peitschenschlägen ihn ganz auszutrinken."

Noch ähnliche Vorfälle werden erzählt, die alle in gleicher Weise die Rohheit und Verkommenheit des unglücklichen Landes kennzeichnen.

Der jährliche Ertrag der Pacht wäre, zumal bei der einfachen Lebensweise des Großvaters, nach des Enkels Meinung nicht nur zum eigenen Bedürfnis der Familie hinlänglich gewesen sondern auch zum Brauen und Branntweinbrennen. Allein die zu große Gastfreiheit und der Umstand, daß bei ungemeiner Ökonomie in kleinen Sachen die von größerer Wichtigkeit vernachlässigt wurden, brachte dem Hauswesen vielen Schaden. Wachs- und Talglichter zu brennen galt als Verschwendung; die deren Stelle vertretenden Kienstreifen, deren eines Ende in die Ritzen der Wand gesteckt und das andere angezündet wurde, veranlaßten indessen nicht selten Feuersbrünste.
    "Die Scheunen hatten keine ordentlichen Schlösser, sondern wurden bloß mit hölzernen Riegeln verschlossen." . . . "Die Kühe kamen sehr häufig mit leeren Eutern von der Weide. Nach dem dort herrschenden Aberglauben sagte man in solchen Fällen: die Milch sei ihnen durch Zauberei genommen worden; ein Übel, wogegen man nichts tun zu können meinte."
So war denn der Großvater der "ärmste reiche Mann von der Welt."

Derselbe wurde jedoch noch von größeren Unglücksfällen heimgesucht. Mit dem russischen Geistlichen, der sich mit seinen Pfarrkindern im Wirtshaus des Großvaters bezechte und nie bezahlte, ging letzteren doch die Geduld aus und er wollte ihm nichts mehr auf Pump geben. Das sollte er schwer büßen. Mitten in einer Nacht ließ derselbe durch einen mit HEIMANN auch sonst sein Geschäft treibenden Biberhändler einen Sack in dessen Wohnung verhandeln, den dieser als einen mit Fellen annahm. Als er sich kaum wieder hingelegt hatte, wurde er von dem Geistlichen mit einigen Bauern herausgeklopft, die das Haus durchsuchten und im Sack einen Leichnam fanden. Dem Großvater wurden sofort die Hände gebunden und die Füße in Klötze geschlagen, und derselbe wurde dann nach Mirz geführt und dem Kriminalrichter übergeben. Der in Ketten Geschmiedete und in ein finsteres Gefängnis Geworfene bestand auf seiner Unschuld. Er verlangte das Verhören des Biberfängers. der war zuerst nicht zu finden; dreimal wurde JOSEPH HEIMANN vom ungeduldigen Richter auf die Tortur gebracht, bis endlich jener Händler zur Stelle war und alles leugnete. Die Torturprobe hielt dieser aber nicht aus und gestand alles.
    "Der Kerl wurden nun ausgepeitscht" - erzählt MAIMON - "und mein Großvater in Freiheit gesetzt, der Pope aber blieb Pope." Die Aussage des Biberfängers lautete nämlich: Jenen toten Körper habe er vor einiger Zeit im Wasser gefunden, und nach dem Pfarrer zum Begraben bringen wollen. Der Pfarrer aber habe gesagt: "mit dem Begraben hat es noch Zeit. Du weißt, daß die Juden verstockt und daher in alle Ewigkeit verdammt sind. . . . noch bis jetzt suchen sie christliches Blut. . . . Sie brauchen es zu ihrem Osterkuchen. Du wirst also ein verdienstliches Werk tun, wenn du diesen toten Körper dem verdammten Juden von Pächter ins Haus praktizieren kannst."
Dennoch lebte unseres MAIMON Großvater viele Jahre hindurch im Wohnort seiner Vorfahren, und diese Pacht war dadurch gleichsam Familieneigentum geworden. Vermöge eines jüdischen Ritualgesetzes nämlich, der  Chasacka,  das heißt: Recht des Eigentums an einem Gut, wird ein solches Recht durch dreijährigen Besitz erworben. Es durfte danach kein anderer Jude ein solches Gut durch eine Erhöhung des Pachtgeldes an sich ziehen, ohne den jüdischen Kirchenbann auf sich zu laden.

Deshalb wurde trotz der geschilderten wüsten Zustände und zumal bei dem reichen Ertrag der Großvater doch wohlhabend, sodaß er seine drei Töchter gut ausstattete und an tüchtige Männer vergab. Auch die beiden Söhne verheirateten sich gleichfalls und verwalteten eine Zeitlang gemeinsam das Hauswesen des alternden und schwachen Vaters: dann aber erhielt der eine, MOSES, als sie bei ihrem verschiedenen Temperament nicht länger zusammen wirtschaften mochten, ein anderes Dorf, während der Großvater unseres MAIMON Vater, namens JOSUA, bei sich behielt.

Er war seines Standes Gelehrter und zwar von Profession, nämlich jüdischer Rabbiner, und den häuslichen Geschäften nicht sonderlich gewachsen. Aber eine tüchtige, lebhafte, zu allen Geschäften aufgelegte und damals noch sehr junge Frau stand ihm zur Seite. Allein auch diese Stütze konnte ihn nicht vor den Ränken des fürstlichen Verwalters schützen. Der Vater handelte nach Königsberg und hatte einst dort gekaufte Waren auf ein Schiff des Fürsten RADZIWIL geladen. Als er nun zuhause vom Verwalter dieselben holen wollte, leugnete dieser den Empfang. MAIMONs Vater zeigte nun den Schein, den er über den Empfang ausgestellt hatte; der Verwalter zerriß ihn aber und wurde durch einen Prozeß, den er an MAIMON verlor, so sehr erbittert, daß er auf Rache sann. Einem jüdischen Bösewicht, der die Gesetze der  Chasaka  mißachtend, die rechtmäßigen Pächter durch höheres Pachtgeld verdrängte, übergab er das alte MAIMONsche Gut noch vor Ende der Pachtzeit. Mitten im Winter mußte MAIMONs Großvater samt der ganzen Familie den alten Wohnort verlassen.


2. Salomon Maimons Kindheit
und erster Schulunterricht.

Schon in diesem Wohnort hatte unser SALOMON MAIMON vom Vater den ersten Unterricht erhalten und war alsdann mit seinem älteren Bruder JOSEPH in die Judenschule nach Mirz geschickt worden. Die Schilderung von deren Beschaffenheit übersteigt wohl noch die sprichwörtlich gewordene Wüstenei einer solchen.

Vom Schulmeister JOSSEL heißt es: "Dieser war der Schrecken aller jungen Leute, die Geißel Gottes; er behandelte seine Untergebenen mit einer unerhörten Grausamkeit, peitschte sie für das mindeste Vergehen bis aufs Blut, riß nicht selten Ohren ab und schlug Augen aus." Die sich beschwerenden Eltern warf er mit Steinen und dergleichen und jagte sie mit seinem Stock bis an ihre Wohnung.
    "Die Schule ist - was die Räumlichkeit betrifft - eine kleine Rauchhütte und die Kinder sind teils auf Bretter teils auf bloßer Erde zerstreut. Der Lehrer im schmutzigen Hemd auf dem Tisch sitzend, hält zwischen den Beinen einen Napf, worin er mit einer großen Herkuleskeule Schnupftabak reibt, und zugleich sein Regiment kommandiert. Die Unterlehrer exerzieren jeder in einer Ecke und beherrschen ebenso wie die Lehrer selbst ihre Untergebenen ganz despotisch. Von dem den Kindern geschickten Frühstück behalten sie den größten Teil für sich."
Das  Lesen  der hebr. Schrift wird dessen ungeachtet noch ziemlich ordentlich erlernt, hingegen Grammatik nur  ex usu  [aus dem Gebrauch heraus - wp] durch Übersetzung der heil. Schrift. Zum Pfingstfest von der in der Stadt verweilenden Mutter mit nach Hause genommen, war er über Befreiung von der Schule und den Anblick der schönen Natur so entzückt, daß er es seinem Bruder kühn nachtuend aus dem Wagen sprang, jedoch zwischen die Räder kam und dabei eine Zerquetschung des linken Beines erlitt. Das Hausmittel, wodurch dasselbe bald vollständig geheilt wurde, bestand darin, daß man einen Hund totschlug und MAIMON in dessen Leichnam den kontrakten Fuß wiederholt hineinsteckte

. Dies geschah, als die Familie noch in der alten Erbpacht lebte. Als sie aus angegebenen Grund vertrieben wurde, irrte sie lange obdachlos umher und fand endlich in einem Dorf der Gegend ein klägliches Unterkommen und Unterhalt. Die Mutter wurde darüber fast wahnsinnig und mußte nach Nowogorod zu einem Arzt gegeben werden, der sie freilich bald wieder herstellte.

Der Sohn war sogleich nach der Niederlassung am neuen Ort von dort aus in die fünfzehn Meilen entfernte Talmudisten-Schule in Iwenez gebracht worden. Schon während des Privatunterrichts hatte der Knabe Beispiele seltener Begabung und beharrlichsten Fleisses gegeben. Zwar verbot ihm der Vater, von den Büchern im Schrank der Stube irgendeines außer dem Talmud zu lesen. Aber wenn derselbe im Haus beschäftigt war, blätterte er alle Bücher durch und da er schon ziemlich viel Hebräisch verstand, fand er an denselben mehr Behagen als am Talmud. Besonders zog ihn ein astronomisches Buch an. Ein Kind von sieben Jahren, das noch nie von den Elementen der Mathematik etwas gesehen und gehört hatte, machte er sich ohne jede Anweisung mit erstaunlichem Eifer darüber her. Er erzählt das so:
    "Da ich noch ein Kind war und die Betten in meines Vaters Haus sehr rar waren, so war es mir erlaubt, mit einer alten Großmußtter, (deren Bett in der Studierstube stand) zu schlafen. Und da ich mich den Tag über bloß mit dem Studium des Talmud abgeben mußte und kein anderes Buch in die Hand nehmen durfte, so bestimmte ich die Abende zu meinen astronomischen Betrachtungen.

    Nachdem also die Großmutter zu Bett gegangen war, steckte ich mir ein frisches Kienholz an, machte mich über den Schrank her und holte mir mein geliebtes astronomisches Buch hervor. Die Großmutter schalt mich zwar, weil es der alten Frau zu kalt war, um allein im Bett zu liegen, ich aber kümmerte mich nicht darum und setzte mein Studium so lange fort, bis das Kienholz ausgebrannt war.

    Nachdem ich dies einige Abende getrieben hatte, kam ich endlich zu einer Vorstellung vom Himmelsglobus und seinen zur Erklärung der astronomischen Erscheinung erdichteten Zirkeln."
Noch weiter erzählt MAIMON, wie er in die Sache tiefer eindrang, dann doch einmal von der Großmutter entdeckt wurde, die über das unheilige Studium sehr erschrak. Der Vater erfuhr es so, schalt wegen Übertretung seines Verbotes, freute sich aber doch, daß der Sohn das ganze astronomische Buch verstanden hatte, dessen Inhalt er selbst sogar noch nicht begriff.


3. Knabenalter, Talmudstudium, Heirat.

Der so befähigte Knabe bewies sich als solcher nun auch bald in der Talmudistenschule zu Iwenez.

Das Studium des Talmud, sagt MAIMON, ist das hauptsächlichste Augenmerk unserer Nation bei einer gelehrten Erziehung. Dem gegenüber hätten selbst Reichtum, körperliche Vorzüge und aller Art Talente nur einen verhältnismäßigen Wert. Nichts aber geht bei den Juden über die Würde eines guten Talmudisten. Auf alle Ämter und Ehrenstellen hat er den ersten Anspruch. In einer Versammlung steht alles ehrerbietigst vor ihm auf, wessen Alters und Standes er auch sonst sein möge.

Sein Studium, ebenso regelmäßig wie das der Bibel betrieben, hat drei Grade. Der erste besteht in der Erlernung des aus verschiedenen orientalischen Sprachen und Dialekten zusammengesetzten Idioms. da es kein Wörterbuch gibt, wird es nur durch Übersetzen erlernt, wozu ein Lehrer anleitet.

Der zweite Grad besteht im Herausbringen des Inhalts und der Auffassung des Zusammenhangs des aufgegebenen Abschnitts.

Der dritte oder Disputiergrad besteht in einem ewigen Hin- und Herreden über dieses Buch, ohne Zweck und Ziel. Scharfsinn, Beredsamkeit und Frechheit geben dabei den Ausschlag. Es ist das eine Art talmudistischer Skeptizismus, einem zweckmäßig systematischen Studium durchaus zuwider. Der Knabe war an den mit dem Vater verwandten Oberrabbiner in Iwenez empfohlen, wurde infolge dessen allwöchtentlich am Sabbath geprüft und zeigte sich dabei alsbald schon im dritten Grad bewandert. Er machte Einwendungen, infolge deren der Oberrabbiner frug, ob er sie auch seinem Lehrer gemacht hätte. Dies bejahte der Schüler, fügte jedoch auf eine weitere bezügliche Anfrage hinzu, daß der Lehrer ihm nichts zur Sache Gehöriges geantwortet und Stillschweigen geboten hätte.

Da beschloß der treffliche Rabbiner den aufgeweckten Knaben selbst zu unterrichten und vollzog das auch nach MAIMONs Bericht in wahrhaft vorzüglicher Weise, sodaß der Vater sich aufs Wärmste bei dem uneigennützigen Wohltäter, der das Stundengeld dem unfähigen Unterlehrer überließ, bedankte. Nicht lange jedoch währte die Freude. Noch vor einem halben Jahr starb derselbe.

Das erfuhr der Vater unseres angehenden Philosophen und holte den Sohn nach Hause. Diese Häuslichkeit war jedoch wieder eine neue. Denn MAIMONs Vater war nach Mohilna, vier Meilen von Neschwitz übergesiedelt, einem neu gegründeten Städtchen im Gebiet des Fürsten RADZIWIL. Die Verhältnisse waren jedoch auch in der neuen Heimat immer noch sehr trübselige.

Schon in seinem elften Jahr, erzählt er selbst, wurde in ihm die erste sinnliche Begierde zum schönen Geschlecht auf eine so heftige Weise erregt, daß er vor einer Verheiratung nicht ruhig wurde und oft infolge dessen außer sich geriet. Er sah nämlich das arme, aber sehr hübsche Dienstmädchen des Hauses auf einmal in den nahe vorbeifließenden Fluß springen, als er ohne es zu wollen in die Nähe der Badestelle geraten war.

Die Heirat sollte nun polnischer Sitte gemäß nur zu bald stattfinden. Noch im elften Lebensjahr war er kontraktlich an die einzige Tochter eines gelehrten und reichen Mannes in Schmilowitz verhandelt. Dieser war für MAIMON, der ja als gelehrter Talmudist ein kostbarer Gegenstand für alle Juden war, infolge von dessen besonderem Ruf ganz bezauber und hatte bereits 200 Gulden gezahlt, als kurz bevor die Hochzeit stattfinden sollte, die Tochter starb.

Darauf wurden unser MAIMON weiter verhandelt, und buchstäblich wahr ist die Tatsache, welche er als Überschrift des 10. Kapitels des 1. Teils seiner Biographie ausdrückt mit den Worten: "Man reißt sich um mich, ich bekomme zwei Weiber auf einmal und werde am Ende gar noch entführt."

Der Vater hatte nämlich in Neschwitz, der Residenz im Gebiet des Fürsten RADZIWIL, wohin er, um seine sich immer schlechter gestaltenden häuslichen Umstände zu verbessern übergesiedelt war, eine Schule unter vorteilhaften Bedingungen gegründet. Eine Wittwe, die Besitzerin eines Gasthofs in der dortigen Vorstadt, bemühte sich um den gescheiten Talmudisten dringlichst für ihre Tochter; leistete derselbe doch bereits seinem Vater wackere Hilfe. Immer aber hatte dieser die Ausführung hinausgezögert. Als nun die Zeit kam, wo er wieder heimreiste und in jenem Wirtshaus eines Tages auf ein Fuhrwerk wartete, wurde er von der Wirtin zur Ausführung gedrängt und das unter Beistand vom Oberrabbiner, vom Prediger und Ältesten dieser Gegend; diese, die bei einem Beschneidungsfest anwesend waren, ließ jene Frau als zu einer schon feststehenden Verlobung herbeirufen. Alle zusammen brachten auch wirklich den Vater dahin, einen Ehekontrakt folgenden Inhalts für den Sohn einzugehen:

Die Wirtin Madame WISSIA verschrieb darin ihrer Tochter ihr Wirtshaus mit allem Zubehör zum Brautschatz, machte sich auch auf sechs Jahre zu Kost und Kleidung für das neuvermählte Ehepaar verbindlich. Außerdem bekam der Schwiegersohn das ganze Werk des Talmuds mit allem Zubehör, während unseres MAIMON Vater sich zu nichts verpflichtet, vielmehr noch 50 Rubel im Geldbeutel dazu erhielt. "Sehr weislich" - erzählt unser Selbstbiograph - "hatte er nämlich über diese Summe keine Verschreibung aufnehmen wollen, sondern sie mußte ihm noch vor der Verlobung ausgezahlt werden." Als nach der Abreise MAIMONs jedoch mehrere Wochen vergangen waren, ohne daß noch weitere versprochene Geschenke nachgesandt wurden, da wurde SALOMON MAIMONs Vater stutzig über die schon längst verdächtige Schwiegermutter; er beschloß also Gleiches mit Gleichem zu vergelten und verlobte den Sohn nochmals an die einzige Tochter eines reichen Arendanten [Pächters - wp] der sehr oft nach Neschwitz Branntwein brachte und bei seiner Durchreise durch Mohilna in MAIMONs Wirtshaus logierte. Eine Schuldobligation über 50 Rubel Polnisch erhielt letzterer infolge dieses bezüglichen neuen Ehekontraktes sofort zurück und der Sohn wurde zum Universalerben des ganzen Vermögens jenes reichen Arendanten eingesetzt.

Darauf reiste letzterer zum Unglück nach Neschwitz, um dort Schulden einzukassieren. Zum Unglück muße er bei der vorigen Schwiegermutter logieren, der gegenüber er sich wegen des gelehrten Talmudisten, den er für seine Tochter gewonnen rühmte. Als er den Namen nannte, schrie jene: das ist eine verdammte Lüge. Er zeigte jedoch den Ehekontrakt, worauf sie den ihrigen ihm entgegenhielt. Nur gerichtlich jedoch und durch Arrestlegen auf den Leichnam der von der eben jetzt verstorbenen Mutter unseres SALOMON setzte sie dessen Vater gegenüber ihr Recht durch.

Der Arendant mußte demgemäß weichen, versuchte jedoch mit Gewalt was er rechtlich verloren hatte zu erreichen und entführte SALOMON MAIMON bei Nacht und Nebel. Wegen des geräuschvollen Vorgangs wurde der Diebstahl und Raub jedoch sofort entdeckt und die Beute dem Räuber entrissen, der nun, um nicht entlarvt zu werden, doch noch MAIMONs Vater seine Schulden erließ und ihm noch 50 Rubel hinzuzahlte.
    "Mir kam" - sagt der Sohn - "damals die ganze Begebenheit als ein Traum vor." - "Ich muß freilich gestehen, daß die Handlung meines Vaters sich nicht ganz moralisch rechtfertigen läßt. Nur die große Not, worin er sich damals befand, kann ihm einigermaßen zur Entschuldigung dienen."
Die Heirat wurde nun wirklich vollzogen, obschon bis zum Hochzeitstag und sogar an diesem selbst seitens des Vaters MAIMON noch viele Schwierigkeiten gemacht wurden.


4. Die ersten Jahre der Ehe, trostlose Zustände der Heimat,
Selbststudium der deutschen Sprache.

Aber letzterer stand nicht nur unter dem Pantoffel seiner Frau, sondern auch unter der Fuchtel seiner Schwiegermutter, die keine von ihren Versprechungen erfüllte. Von den sechs Jahren Beköstigungen genoß er kaum ein halbes Jahr, und das der Tochter zum Brautschatz bestimmte Haus war mit Schulden beladen.

Stets gab es Hader und Zank und die Schwiegermutter legte sogar hin und wieder Hand an den verheirateten Knaben, was dieser nicht selten mit doppelten Zinsen erwiderte. "Es gng beinahe keine Wahlzeit vorbei, wo wir nicht wechselseitig Schüssel, Teller, Löffel, usw. an den Kopf schmissen." Endlich entschloß sich MAIMON, das Haus gänzlich zu verlassen und sich als Privatlehrer in Kondition zu geben. Nur zu den großen Festtagen pflegte er nach Hause zu kommen.

Über die auf die Ehe in Sonderheit bezüglichen Geheimnisse äußert er sich so:
    "In meinem 14. Jahr bekam ich meinen ältesten Sohn DAVID. Da ich bei meiner Verheiratung nur elf Jahre war, und nah der bei unserer Nation in diesen Gegenden gewöhnlichen eingezogenen Lebensart und Mangel an wechselseitigem Umgang beider Geschlechter, von den wesentlichen Pflichten der Ehe keinen Begriff hatte und ein hübsches Mädchen nur als ein jedes andere Natur- oder Kunstwerk betrachtete, . . . so war es natürlich, daß ich noch eine geraume Zeit nach meiner Verheiratung nicht an eine Erfüllung dieser Pflichten denken konnte. Ich pflegte mich meiner Frau als einem mir unbekannten Gegenstand mit Zittern zu nähern. Diesem Übel abzuhelfen wurde ich, in der Meinung, ich sei zu meiner Hochzeit behext worden, zu einer alten Hexe gebracht. Diese nahm mit mir allerhand Operationen vor, die freilich obgleich indirekt mit Hilfe der Einbildungskraft eine gute Wirkung taten."
MAIMONs Leben in Polen von der Verheiratung bis zur Auswanderung, und das ist der Zeitraum der Blüte seines Jugendalters, ist eine Reihe von mannigfaltigem Elend, Mangel an allen Mitteln zur Beförderung seiner Entwicklung. Damit notwendig verbunden ist ein unzweckmäßiger Gebrauch der Kräfte, deren schmerzhafte Zurückerinnerung der Selbstbiograph in sich zu ersticken sucht.

Immer mehr empfand er auch die trostlosen Zustände des Landes, besonders die Unwissenheit und Sittenlosigkeit des polnischen Adels. Das Land war in zwei Parteien gespalten: in die russische und deren Gegner, die Konföderierten, zu denen auch der Fürst RADZIWIL, der Herr des Gebietes, in welchem MAIMON lebte, gehörte und der ein rechter Typus der entsetzlichen politischen Magnaten war. Einer der ausschweifendsten Menschen, die je in der Welt gelebt haben, Besitzer unermeßlicher Güter, bedrückte er durch sein planlos geschehenes Partei-Ergreifen seine Untertanen, indem der diesen die Russen auf den Hals zog und an ihnen selbst die größten Grausamkeiten verübte.

Der Selbstbiograh hält es für unmöglich die Ausschweifungen jenes Mächtigen zu beschreiben. "Die schlechteste schmutzigste Bauernfrau, die ihm in den Wurf kam, ließ er zu sich in den Wagen nehmen." Einen Barbier berief er einst zu sich, nicht um mit dessen Instrumenten sich operieren zu lassen, sondern damit er ihn selber aus purem Übermut zur Ader ließ, wobei er ihn, unkundig im Gebrauch der Lanzette, erbärmlichst verwundete.

Selbst die heiligsten Stätten, Kirche und Synagoge, entweihte er, jene durch schamlosestes Benehmen in trunkenem Zustand, diese durch freche Zerstörung der heiligen Gefäße usw.

Zum Glück hören wir, daß das Scheusal ohne Leibeserben gegen ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gestorben ist.

Und doch bewahrte sich der Knabe und Jüngling einen Sinn für Besseres, indem er immer mehr seinem stärksten Trieb, einem unbesiegbaren Wissensdurst, Nahrung zu geben bemüht war, so sehr es auch an allen Mitteln dazu gebrach und trotzdem er durch Schulmeisterschaft, Korrektur der heiligen Schrift und dgl. eine ganze Familie ernähren mußte.

Konnte er schon im 16. Jahr einen vollkommenen Rabbiner, der seinen Talmud verstand, abgeben, so verlangte er jetzt nach fremden Sprachen. Dabei kam ihm ein glücklicher Zufall zu Hilfe. An einigen sehr starkleibigen hebräischen Büchern bemerkte er, daß zur Bezeichnung ihrer Bogenzahl das hebräische Alphabet nicht ausgereicht hatte. Im 2. und 3. Alphabet standen neben den hebräischen noch andere Zeichen, lateinische und deutsche. Aus den nebengesetzten hebräischen errät er die Laute der fremden Zeichen. So wird er mit dem deutschen Alphabet bekannt, setzt sich aus den Buchstaben die Wörter zusammen und lehrt sich so selber deutsch lesen.


5. Selbststudium in der Kabbala

Vor allem jedoch sehnt er sich nach der Geheimlehre der Kabbala; durch Hörensagen hat er von deren Dasein erfahren und daß der Unterrabbiner in Neschwitz deren kundig sei. Sorgfältig beobachtet er diesen beim Gottesdienst und entdeckt, der derselbe ein Buch, welches er nach dem Gebet regelmäßig liest, nachher an einer gewissen Stelle der Synagoge vorsichtig verbirgt. Nachdem der Prediger nun einst nach Hause gegangen war, holte MAIMON sich das Buch dorther vor und als er sah, daß es ein kabbalistisches war, versteckte er sich damit in einem Winkel, bis die Leute alle fort gegangen und die Synagoge geschlossen war. Alsdann kroch er aus dem Schlupfwinkel hervor und las in dem geliebten Buch den ganzen Tag über, ohne zu essen und zu trinken, bis der Schließer am Abend das Gotteshaus wieder öffnete. So machte er es ein paar Tage, in welchen er mit dem Buch fertig wurde. Dasselbe hieß: "Saarei Keduscha" oder  Die Tore der Heiligen  und enthielt, alles Schwärmerische und Überspannte abgerechnet, in Kürze die Hauptlehren der Psychologie. "Ich machte es damit", schreibt MAIMON, wie die Talmudisten vom Rabbi MEIER sagen, der einen Ketzer zum Lehrer hatte: Er fand einen Granatapfel, aß die Frucht und warf die Schale weg."

Nun aber war die Wißbegierde erst vollends entbrannt und der junge Kabbalist wandte sich infolgedessen schriftlich an den Prediger mit der inständigsten Bitte, ihn mit Büchern zu unterstützen.

Dieser erkannte im Eifer des Bittstellers für die heilige Wissenschaft unter so ungünstigen Verhältnissen ein besonderes Merkmal der Bestimmung dafür und erlaubte demselben, zu ihm zu kommen und in seiner eigenen Wohnung die ihm selbst unentbehrlichen Bücher zu lesen. Das sollte jedoch bald anders werden. denn - so erzählt der Biograph, "mein beständiger Besuch aber inkommodierte den Herrn Prediger ungemein. Er hatte seit kurzer Zeit eine sehr hübsche junge Frau geheiratet und da sein elendes Häuschen aus einem einzigen Zimmer bestand, welches zugleich Wohn-, Studiert- und Schlafstube war, und wo ich ganze Nächte durchwachte, so kam meine Übersinnlichkeit mit des Predigers Sinnlichkeit nicht selten in Kollision."

So geschahe es, daß der letztere ihm die Bücher in Gottes Namen einzelne mit nach Hause zu nehmen gestattete. Das war eine große Freude, denn nun wurde das Studium bequemer und mit nicht minderem Eifer fortgesetzt, sodaß MAIMON bald über das Wesen der Kabbala mit sich im Reinen ist. Sie erscheint ihm nach Abzug der phantastischen Einkleidung in ihrem wesentlichen Kern als ein pantheistisches System von der Art des SPINOZA. Sogar ein Kommentar über dieselbe, der dieser Einsicht Ausdruck gab, wurde schon damals von ihm verfaßt.


6. Selbststudium der deutschen Wissenschaft;
erste Hofmeisterstelle; Nahrungssorgen.

So war er mit der hebräischen Wissenschaft am Ende und trachtete nach der ihres Namens würdigen, nach der  deutschen.  Mitten im Winter machte er sich zu Fuß auf den Weg nach einer der benachbarten Städte, deren Oberrabbiner deutsche Bücher besitzen sollte. Hatte er doch schon früher einmal eine Fußreise von 30 Meilen gemacht, lediglich um ein hebräisches Buch aristotelischen Inhalts aus dem 10. Jahrhundert zu sehen. Der Oberrabbiner, an den noch nie jemand eine solche Bitte gerichtet hatte, leiht dem Wißbegierigen unter anderen STURMs  Physik.  Wie Schuppen fiel es dem Inhaber der neuen Schätze von den Augen, als er dieses Werk zuhause studierte, als er erfährt, wie Tau, Regen, Gewitter und dgl. entstehen. Mit Hilfe medizinischer Bücher, darunter besonders anatomische und medizinische Wörterbücher, schreibt er sogar Rezepte und beginnt als Arzt zu kurieren.

Gemäß seiner strengen Erziehung war MAIMON in seiner frühesten Jugend, wie er uns versichert, auch selbst sehr fromm gewesen. Aber was auch sonst oft geschieht, daß, wo die Wissenschaft in so plötzlichen und unvermittelten Gegensatz zur streng religiösen Erziehung tritt, dieselbe auch der letzteren bleibende Grundlagen zerstört und mit ihrer Aufklärung über das Ziel hinausschießt. Das sollte auch MAIMON an sich erfahren. Er wurde ein arger Freigeist, der seine Ansichten in rücksichtslosester Weise äußerte und dadurch in seiner Gemeinde, zumal bei den Oberen Anstoß erregte. Bestätigt in seinen Gesinnungen wurde er noch durch den Umstand, daß er einen Studiengenossen fand, der seine Ansichten teilte. Derselbe hieß MOSES LAPIDOTH, war von gleichem Alter und beinahe in denselben äußeren Verhältnissen. Nur hatte er nicht unseres MAIMON frühzeitige wissenschaftliche Neigungen, jedoch solche zum Spekulieren, auch viel Scharfsinn und Beurteilungskraft. Im Gegensatz zu unserem Philosophen wollte er dabei nicht weiter gehen, als er mit dem bloßen gesunden Verstand reichen konnte. Über Herzensangelegenheiten, besonders über Gegenstände der Religion und Moral, pflegten diese Busenfreunde die eifrigsten Unterhaltungen. Aber auch dieser schwärmerische Umgang mußte ein Ende nehmen. Als beide verheiratet wurden und die Ehen gleich fruchtbar wurden, mußte ein jeder zwecks Ernährung der Familie eine Hofmeisterstelle annehmen. Dadurch wurden sie nicht selten ganz getrennt und konnten nur einige Wochen im Jahr zusammen sein.

MAIMONs erste Hofmeisterstelle war eine Stunde weit von seinem Wohnort entfernt. Er macht folgende Beschreibung:
    "Armut, Unwissenheit und Rohheit der Lebensart, welche hier hausten, waren unbeschreiblich. Der Pächter selbst war ein Mann von ungefähr 50 Jahren, dessen ganzes Gesicht mit Haaren bewachsen war und das mit einem schmutzigen, dicken, pechschwarzen Bart endete, dessen Sprache eine Art Gemurmel und nur den Bauern, mit denen er täglich umging, verständlich war. Er konnte nicht nur kein Hebräisch, sondern auch kein einziges Wort Jüdisch, bloß Russisch (die gewöhnliche Bauernsprache) konnte er sprechen. Man denke sich dazu Frau und Kinder von eben demselben Schlag. Ferner die Wohnstube: eine Rauchhütte, kohlschwarz von innen und von außen, ohne Kamin, wo bloß im Dach eine kleine Öffnng zum Ausgang des Rauches angebracht ist, die, sobald man das Feuer ausgehen läßt, sorgfältig zugemacht wird, damit die Hitze nicht entweicht. Die Fenster waren kreuzweise übereinander gelegte schmale Streifen von Kienholz mit Papier überzogen. Dieses Gemach war Wohn-, Schenk-, Speise-, Studier- und Schlafstube zugleich. . . . Hier hängen schwarze Wäsche und andere schmutzige Kleidungsstücke auf den in der Stube der Länge nach angebrachten Stangen, damit das Ungeziefer im Rauch erstickt. Da hängen Würste zum trocknen, deren Fett den Menschen beständig auf die Köpfe heruntertröpfelt. Dort stehen Zuber mit saurem Kohl und roten Rüben (die Hauptspeise der Litauer); in einem Winkel das Wasser zum täglichen Gebrauch und daneben das unreine Wasser. Hier wird Brot geknetet, gekocht, gebacken, die Kuh gemolken usw."
In dieser herrlichen Wohnung sitzen die Bauern auf der bloßen Erde (höher darf man nicht sitzen, wenn man nicht am Rauch ersticken will), saufen Branntwein und lärmen; in einer Ecke sitzen die Hausleute, hinter dem Ofen aber saß ich mit meinen schmutzigen halbnackten Schülern und explizierte ihnen aus einer alten zerrissenen Bibel aus dem Hebräischen ins Russisch-Jüdische. Dies alles" - so schließt MAIMON die Schilderung - "machte im Ganzen die herrlichste Gruppe von der Welt, die nur von einem HOGARTH gezeichnet . . . zu werden verdiente."

Ungefähr um diese Zeit wurde er auch mit einer damals emporkommenden jüdischen Sekte, die neue Chassidim (Frommen), bekannt. Auf listige Weise und durch für ihn damals nicht so leicht zu durchschauende Spiegelfechtereien, zu denen sie sich eines noch selbst nicht gewitzten Neulings bedienten, gefanden, ließ er sich aufnehmen und hatte deshalb sogar eine Reise zum Oberen der Sekte gemacht. Aber kaum war er eingetreten, so entging ihm das Betrügerische nicht mehr und er machte sich sofort wieder los. Vorzüglich durch die Autorität eines berühmten, bei der Judenschaft in großem Ansehen stehenden Rabbiners ELIAS aus Wilda, wurde die Sekte auch bald überall verfolgt und in ihren Zusammenkünften gestört.


7. Reise über Königsberg nach Stettin und Berlin.

Die äußeren Umstände wurden aber immer schlechter, weil MAIMON sich zu seinen gewöhnlichen Geschäften nicht mehr schicken wollte und sich überall außer seiner Sphäre befand. Auf der anderen Seite konnte er seine Lieblingsneigung zum Studium in seinem Wohnort nicht ganz befriedigen. Er beschloß darum nach Deutschland zu wandern, um Medizin zu studieren und Arzt zu werden. - Es wird etwa im Jahre 70 gewesen sein, da er sich im vierzehnten Jahr verheiratete und die Ehe bereits fruchtbar war.

Einem ihm sehr befreundeten und frommen Gelehrten, der hohes Ansehen genoß, entdeckte er sein Vorhaben, und derselbe verstand, einem jüdischen Kaufmann so beredt die Wichtigkeit davon deutlich zu machen, daß er MAIMON mit sich nach Königsberg nahm. Dort erregte er bei den Studenten, an die ihn ein zu beschäftigter jüdischer Arzt, an welchen er sich zuerst gewendet hatte, verwies, anfangs mit seiner Sprache und seinem Wesen Gelächter. Als er aber ihrer Aufforderung folgend MENDELSOHNs  Phädon  (2) geschickt ins Hebräische übersetzte und in dieser Sprache treffend erklärte, rieten sie ihm, über Stettin nach Berlin zu wandern. Auch verschafften sie ihm einige alte Kleidungsstücke und Unterhalt, solange er an ihrem Ort war.

Er ging also zu Schiff und hatte zur Zahlung nichts mehr als geröstetes Brot, einige Heringe und ein Fläschchen Branntwein. Zehn, höchstens vierzehn Tage würde ja die Reise nur dauern, wurde ihm prophezeit. Sie währte aber fünf Wochen und zehrte seinen letzten Sparpfennig auf.

In solcher Armut und überdies ohne Kenntnis der Landessprache schien es unmöglich eine Reise auch nur von wenigen Meilen zu machen. Es mußte aber einmal geschehen. So ging er also von Stettin fort, setzte sich aber überwältigt von den Gedanken an sein Elend unter eine Linde und fing bitterlich zu weinen an. Dennoch faßte er Mut, und kam nach einem Marsch von ein paar Meilen abends ermüdet in einem Wirtshaus an. Es war am Abend vor dem jüdischen Fasttag im August. Vor Hunger und Durst schon verschmachtet, sollte er also am nächsten Tag fasten und keinen Pfennig, keine Wertsache hatte er im Besitz. Endlich dachte er an einen eisernen Löffel, den er noch im Mantelsack hatte. Ihn gab er der Wirtin und erhielt dafür ein Glas Sauerbier, worauf er sich im Stall aufs Stroh schlafen legte.

Am nächsten Morgen setzte er seine Reise fort bis zu einem Ort, wo eine Synagoge war. Nach Ende des Gottesdienstes, unterredete er sich mit dem jüdischen Schulmeister, der ihn als Rabbiner erkannte und ein Sabbath-Essen in einer feinen und reichen Familie verschaffte. Diese erstaunten über seinen erbaulichen Diskurs, je weniger sie ihn verstanden, desto mehr und erzeigten ihm alle, einem Rabbiner gebührenden Ehren. Doch merkte er, wie das höchst elegant aufgeputzte Töchterchen von zwölf Jahren neben ihm eine sauer Miene machte und ihr Gesicht zu seinem Leidwesen sehr verzog. Ein Blick auf ihn selber erklärte ihm sofort den berechtiten Anlaß: Seit sieben Wochen hatte er kein frisches Hemd an, oft auf dem bloßen Stroh geschlafen usw.

So übersah er sein ganzes Elend, nahm bald Abschied und setzte unter immerwährendem Kampf mit Entbehrung und allem möglichen Jammer die Reise bis Berlin fort. Dort endlich angelangt, mußte er, da die Residenz keine Betteljuden litt, vor dem Rosenthaler-Tor im jüdischen Armenhaus bleiben.


8. Maimons erster Berliner Aufenthalt
und Bettlerirrfahrt nach Posen

Erst spät bemerkte er einen Menschen, der dem Anzug nach ein Rabbiner sein mußte. Ihm sprach er sich aus, erklärte sein Vorhaben, in Berlin Medizin zu studieren und zeigte ihm sogar seinen aufklärerischen Kommentar über des MAIMONIDES  More Newochim  [Führer der Unschlüssigen - wp]. Das sollte ihm schlimm zu stehen kommen: Jener Rabbiner war höchst orthodox und schwärzte MAIMON sofort bei den Ältesten der jüdischen Gemeinde an, welche nicht nur die Erlaubnis in Berlin zu bleiben verweigerten, sondern nicht ruhten, bis sie den Ketzer auf dem Weg vor dem Tor sahen.

Da warf er sich nun auf die Erde nieder und weinte aufs Neue. Die vielen, wie gewöhnlich, vor dem Tor spazierenden Menschen, kümmerten sich nicht um den Winselnden; und wer es tat, verstand ihn nicht. Er verfiel in ein hitziges Fieber, sodaß die ihn bemerkenden, Wache habenden Soldaten es meldeten, und der Aufseher ihn hereinholte ins Armenhaus. Dort blieb er noch einen Tag; dann hatte sich der an Leiden gewohnte Leib erholt und er mußte fort, wohin wußte MAIMON selber nicht. Er nahm den erstbesten Weg und überließ sich seinem Schicksal. Dies führte ihn nach einer längeren Bettlerirrfahrt trostlosester Art, welche er alsbald mit einem Betteljuden von Profession in Gemeinschaft machte, nach Posen. Er bemühte sich letzterem Begriff der Religion und wahren Moralität beizubringen, wogegen er in der Kunst zu betteln unterrichtet wurde. Diese Lehren wollten aber nicht anschlagen. Die Formeln hielt MAIMON für abgeschmackt und daß er jemandem fluchen sollte, der ihm eine Bitte verweigerte, fand er sowohl grund- als auch zwecklos.

Ging er einmal allein betteln, so wußte er gar nichts zu sagen; "aber," schreibt er, "an meiner Miene und Stellung konnte man doch sehen, was mir fehlte."


9. Aufenthalt in Posen;
erste Ehren und erstes Lebensglück.

In Posen angelangt, beschloß er dann auch um jeden Preis, einer solchen Wanderung ein Ende zu machen. Er erklärte dies, als er am herbstkalten Morgen nackt und barfuß aufwachte, seinem Kameraden und wies dessen Frage, wie er sich denn sonst nähren wolle, mit der Antwort zurück: "Gott wird schon helfen."

Und er half. Zwar konnte sich MAIMON in der Judenschule mit seiner litauischen Sprache nicht verständlich machen und so verließ er diesen zunächst gesuchten Zufluchtsort. Er entsann sich nämlich, daß ein Oberrabbiner aus seiner Gegend vor einigen Jahren in Posen aufgenommen wurde. Der war nun zwar seitdem fort, hatte aber seinen Sohn, einen zwölfjähigen Knaben beim Nachfolger zurückgelassen. Nach jenem frug er bei diesem und wurde sofort erkannt. Dem fragenden Knaben bedeutete er, ihm nicht alle Unglücksfälle sogleich erklären zu können und bat ihn vielmehr um Erleichterung des Elends. Der Erstaunte und Gerührte versprach es und meldete MAIMON an bei Oberrabbiner "als einen großen Gelehrten und frommen Mann, der durch besondere Zufälle in einen sehr elenden Zustand geraten ist."

Dieser Oberrabbiner, ein vortrefflicher Mensch und scharfsinniger Talmudist und von sanftem Charakter wurde von MAIMONs Elend auf das Tiefste gerührt. Er disputierte mit diesem über die wichtigsten Gegenstände und fand ihn in der ganzen jüdischen Gelehrsamkeit sehr bewandert.

Als sein Vorhaben erklärte MAIMON, er wolle Hofmeister werden, zunächst aber die heiligen Tage in Posen feiern. Er erhielt vom Rabbiner so viel Geld als dieser bei sich hatte, der ihn auch aufforderte, alle Sabbath bei ihm zu essen, und ihm sogleich bei einem der reichsten und ältesten Juden der Stadt ein sehr eigenes Stübchen verschaffte. Auch Essen und Trinken wurde ihm dort, solange wie er sich in der Stadt aufhielt, zugesichert. Ein Entzücken war es für ihn, als man nach dem Abendessen ihm ein reinliches Bett anwies, so daß er verschiedentliche Male fragte: "Ist dieses wirklich für mich?" "Mit Wahrheit kann ich versichern", heißte es, "daß ich nie sowohl vor dieser Begebenheit als nachher einen solchen Grad von Glückseligkeit gefühlt habe, als damals, als ich mich zu Bett legte und meine seit einem halben Jahr strapazierten, ja beinahe zerbrochenen Glieder in einem weichen Bett ihre vorige Stärke wieder erlangen fühlte."

Er schlief bis spät in den Tag. Kaum war er aufgestanden, so ließ der Rabbiner sich bei ihm erkundigen, ob er zufrieden sei. Als er bei diesem erschien, konnte er keine Worte finden für seine Empfindung und rief in Ekstase: "Ich habe in einem Bett geschlafen." Der erfreute Wohltäter ließ auch noch Wäsche und Anzug in zwei Tagen dem Geretteten auf seine Kosten machen, und so ausstaffiert in reiner Wäsche und neuen Kleid ging dieser hin, jenem zu danken, konnte aber kaum einige abgebrochene Worte hervorbringen. Der Oberrabbiner, der jeden Danke ablehnte, hatte dabei nur ein mäßiges Gehalt und weil er sich dem Studium hingab, führte die Frau die Verwaltung seiner Geschäfte und mußte er ohne deren Willen solche Wohltaten ausüben.

Am ersten Abend war MAIMON im jüdischen Armenhaus, das ein armer Kleiderflicker inne hatte, eingekehrt. Dorther holte er sich jetzt einige zurückgelassene Sachen und erregte Staunen und Freude durch seine Verwandlung. Für ihren Säugling bat die junge Frau des Flickers um seinen Segen, und der arme Reisegefährte um Verzeihung wegen seiner oft rohen Behandlung. MAIMON gab letzterem alles Bare, was er bei sich hatte, segnete das Kind unter den Freudentränen der Mutter und ging bewegt hinfort.

Das Bezeigen des Oberrabbiners wie auch das seines gelehrten Wirtes gegen MAIMON brachten diesen in einen solchen Ruf, daß alle Gelehrten der Stadt ihn für einen berühmten reisenden Rabbiner hielten und kamen ihn zu sehen und mit ihm zu disputieren; "je näher sie mich aber kennen lernten, in desto größerer Achtung wurde ich von ihnen gehalten. Diese Zeit war unstreitig die glücklichste und ehrenvollste in meinem Leben."

Ein Beschluß der jungen Gelehrten der Stadt, ihm ein Gehalt auszumachen, wofür er sie über MAIMONIDES durch Vorlesen belehren sollte, scheiterte nur an den um die Religiösität besorgten orthodoxen Eltern derselben. - Sein Wirt stellte ihm jedoch frei, bei ihm zu bleiben solange er wollte, falls er sich nur dem Selbststudium zu ergeben die Absicht hätte. Wollte er jedoch auf andere wirken, so möchte er ihm und dem Oberrabbiner zum Gefallen, eine Hofmeisterstelle bei seinem Schwager, dem reichsten Mann der Stadt annehmen, um dessen einzigen Sohn zu erziehen. Mit Freuden ging nun MAIMON auf das Anerbieten ein und siedelte nach einem vierwöchentlichen Aufenthalt von seinem bisherigen Wirt in die neue Stellung über. Er blieb zwei Jahre in größter Ehre darin. "Man tat nicht in diesem Haus ohne mein Wissen. Man begegnete mir mit der größten Ehrerbietung. Man hielt mich beinahe für mehr als ein menschliches Wesen."

Ja, die Hochachtung ging soweit, daß man ihn, weil er nur auf kluge Beobachtung gestützt, sich für die Gesundheit der Braut seines Schülers besorgt erklärt hatte und deren Tod erfolgt war, zu einem Propheten machen wollte. Er suchte den Leuten das auszureden, es half aber nichts. Auf jede Weise bemühte er sich auch sonst, abergläubischen Tatsachen und Meinungen durch das Aufdecken des wahren Sachverhalts zu steuern. Da wurde er dann auch in Posen verlästert, und dieser Fanatismus machte schließlich in ihm das Verlange rege, nach Berlin zu reisen und den Rest des ihm noch anklebenden Aberglaubens durch Aufklärung ganz zu zerstreuen. Er forderte also den Abschied und blieb bei seinem Entschluß trotz des seitens seines Herrn geäußerten Wunsches noch länger in seinem Haus zu bleiben und trotz des von diesem ihm versprochenen Schutzes gegen jedwede Verfolgung.
LITERATUR: Johannes Heinrich Witte, Salomon Maimon, Berlin 1876
    Anmerkungen
    1) Salomon Maimon's Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von KARL PHILIPP MORITZ in 2 Teilen, Braunschweig 1792.
    2) Der "Phädon" ist 1767 erschienen. Im 14. Jahr wurde MAIMONs erster Sohn geboren. Die Ehe war also nach 67 bereits fruchtbar. Es muß demnach meine Berechnung im Wesentlichen richtig sein.