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Identität und Apriori [Eine logisch-erkenntniskritische Untersuchung] [4/4]
6. Die Folgerungen aus Begriffen und das Apriori Nach dem Gesagten kann sich der Begriff niemals als solcher, oder durch Vorstellungen, die von ihm hergenommen wären, auf den Gegenstand beziehen. Bei den Abstraktionsbegriffen gelten stets nur diejenigen Vorstellungen für den Gegenstand, die analytisch an ihm gefunden sind, der Begriff als solcher hat gar keine Beziehung zu ihm, denn es ist ganz gleichgültig für ihn, woher die in ihm gleichgesetzten Vorstellungen stamen. Sie müssen nur für das Bewußtsein gleich sein, das ist alles, was erforderlich ist. Die Abstraktion von der bloßen Vorstellung hat hier ebenso viel Recht, wie die von äußeren Wahrnehmungen, wenn nur jene Bedingung erfüllt ist. Bei den Vertretungsbegriffen wird zwar die Beziehung auf den Gegenstand aufgenommen, aber darum wird das Recht der Beziehung dennoch nicht aus dem Begriff hergeleitet, sondern daher, daß Separatvorstllunen, die jene Beziehung bereits enthalten, im Begriff vereinigt worden sind. Der Begriff kann sich also nur indirekt durch seine Separatvorstellung auf den Gegenstand, der Gegenstand nur indirekt durch eben dieselbe auf den Begriff beziehen. Letzteres ist die normale Beziehung, erstere, die ein scheinbares a priori enthält, die vermittelte Beziehung, die z. B. in der Mitteilung vorkommt. Diese beiden Beziehungen, welche die Sprache durch denselben Ausdruck bezeichnet, sind durchaus entgegengesetzt (32). Wenn ich Jemade zurufe: "Siehe, deine Zeichnung hat Flecken!" und er antwortet, nachdem er darauf geschaut hat: "Wahrhaftig, sie hat Flecken": so sind trotz der gleichartigen Wortform zwei ganz verschiedene Begriffsbeziehungen gedacht. Im ersten Fall mute ich dem Hörer zu, er solle eine auf den ihm bekannten Begriff "Flecken" bezügliche Vorstellung auf Grund meiner Mitteilung a priori auf sein Bild beziehen; vor der Antwort dagegen hat bei jenem eine Analyse am Bild stattgefunden und die Flecken sind daran entdeckt. Die Antwort sagt also: Auf der Vorstellung der Zeichnung habe ich Separatinhalte gefunden, die zum Begriff Flecken gleichzusetzen sind. Dieselbe aposteriorische Beziehung muß ich aber vor der Mitteilung selbst gemacht haben; das Apriori ist hier also bloß relativ. In beiden Fällen ruht die Gültigkeit der Beziehung nur darauf, daß wirklich eine dem Begriff entsprechende Separatvorstellung vom Gegenstand losgelöst worden ist. Ich kann von unserem jetzigen Standpunkt aus Nichts auf den Gegenstand beziehen, was ich nicht durch Analyse an ihm finde, und der Begriff kann nichts enthalten, als Gleichsetzungen analytisch gefundener Bestimmungen. Durch die Beziehung vom Begriff zum Gegenstand wird hier niemals etwas Neues im Gegenstand entdeckt. Nur durch die Mitteilung an Andere ist für diese eine Erweiterung ihrer Erkenntnis durch den Begriff möglich, indem sie angeleitet werden, eine durch einen bereits bekannten Begriff bezeichnete Separatvorstellung auf den Gegenstand zu übertragen. Die Gültigkeit dieser Übertragung kann jedoch nur die eigene Analyse bezeugen, die freilich durch jenen Hinweis erleichtert worden ist. Indessen unsere Erkenntnis bleibt dabei nicht stehen. Wir bewegen uns nicht nur auf dem Weg: Gegenstand - Separatvorstellung - Begriff, sondern suchen unsere Erkenntnis der Gegenstände auch vom Begriff selbst aus zu erweitern. Das Mittel hierzu ist die Übertragung von Bestimmungen des Begriffes auf Gegenstände, an denen die betreffenden Separatvorstellungen noch nicht entdeckt sind. So beziehen wir einen Kopf, der dem des Pferdes gleichsieht, unmittelbar auf das ganze Pferd, das dem Beziehungsbegriff gemäß damit verbunden ist, und warten nicht, ob die Erfahrung es bestätigt; der Naturforscher konstruiert nach aufgefundenen Knochenstücken die Gestalt eines vorweltlichen Tieres, der Spektralanalytiker schließt aus dem Vorhandensein der gelben Linie im Spektrum auf die Anwesenheit von Natrium im entferntesten Stern; den Satz, daß ein Dreieck = 180° hat, beziehen wir, wenn wir ihn von einem Dreieck bewiesen haben, sofort auf alle Dreiecke. Diese Übertragung von dem an einem Gegenstand gefundenen Merkmale auf andere mittels des Begriffs ist es, welche das Rätsel des Apriori ausmacht. Allein wir glauben, es sei nunmehr nicht allzuschwer zu lösen. Es hat nämlich seinen Grund erstens in der einfachen Übertragung einer sekundären Separatvorstellung auf den Ort der ersteren, sowie in der bereits angeführten Synthesis der Separatvorstellungen am Grundort, und zweitens der Erweiterung des Grundortes durch eine identische Synthese. Wie beide Gründe ein apriorisches Schließen aus Begriffen möglich machen, wollen wir betrachten. Wenn ich ein Stück Fleisch von einem Tier losgetrennt habe und ich finde darin eine Krankheitserscheinung, z. B. Finnen oder Trichinen, so bleibe ich nicht dabei stehen, daß ich sage: Dieses Stück hat Trichinen, sondern ich übertrage sofort auf das Tier selbst, und sage: Das Tier hat Trichinen. Das ist eine völlig gültige Übertragung a priori. Ich brauche das Tier selbst gar nicht herbeizuholen, um dessen, daß die Trichinen zu ihm gehören, gewiß zu sein. Das Bewußtsein, daß das vorliegende Fleisch ihm entnommen ist, leistet genügend Bürgschaft. Diese Übertragung ruht also auf der Identität der mittleren Vorstellung, d. h. auf dem früher betrachteten Beziehungsgesetz. Es ist dasselbe Stück Fleisch, welches zum Tier gehört und an dem ich die Trichinen gefunden habe, folglich gehören die Trichinen zum Tier selbst. Allein diese Art der Übertragung war nicht die einzige, die wir bei den Objekten vorgefunden haben. Wir haben gesehen, wie bei den Vertretungsvorstellungen oft ein einziges Merkmal dazu dient, um den ganzen Gegenstand zu bezeichnen. Sobald nun dieses Merkmal auftritt, beziehen wir es dem Identitätsgesetz gemäß auf den betreffenden Gegenstand. Indessen gerade dadurch, daß wir dies tun und nicht abwarten, bis die übrigen Merkmale des Gegenstands ins Bewußtsein treten, irren wir oft weidlich und klopfen z. B. einem Fremden auf die Schulter, den wir nach Bewegung und Kleidung ganz zweifellos für einen Bekannten glaubten halten zu müssen. Hier kann uns stets nur die Erfahrung belehren, ob und wie weit wir ein zur Vertretung bestimmtes Merkmal ohne weiteres auf den Gegenstand beziehen dürfen; und selbst eine tausendfache Sicherheit der Erfahrung kann uns nicht ganz gewiß machen, daß wir uns nicht einmal täuschen. Diesen beiden Übertragungsweisen entsprechen nun auch die begrifflichen Übertragungen unseres ersten Falles, und es gelten hierfür ganz die gleichen Regeln in Bezug auf die Sicherheit. Wenn ich - um mit dem letzten Fall zu beginnen - noch niemals gesehen hätte, daß einem Tierkopf etwas anderes als vier Beine zukommen, so würde ich unfehlbar jeden neuen Kopf, den ich irgendwo hervorschauen gesehen habe, mit der Vorstellung von vier Beinen verbinden. Ich hätte die letztere Vorstellung in die Merkmale der Vertretung des Begriffes Tier mit aufgenommen und würden nunmehr a priori dieses Merkmal mit auf jeden Gegenstand beziehen, den mir die übrigen Merkmale als Tier anzeigen. Ein Kind, das diese Übertragung vollzieht, würde nun freilich sehr rasch enttäuscht sein und dann dieses Merkmal aus dem Begriff entfernen oder das betreffende Wesen nicht mehr Tier nennen. Wir machen es aber gar nicht anders, als ein solches Kind, wenn wir überzeugt sind, daß einem Pferdekopf, der aus einer Stalltür hervorschaut, ein Pferde- und nicht etwa ein Schlangenleib entspricht. Wir schließen ebenfalls a priori darauf, daß dahinter ein Pferd steckt. Die Befugnis, welche die begrifflich Verknüpfung darreicht, wird also überschritten. Streng genommen haben wir bloß das Recht, ein Tier, bei welchem sich alle zum Begriff "Pferd" gehörigen Merkmale beisammenfinden, auf diesen Begriff zu beziehen, und diesen rückwärts nur diejenigen einzelnen Tiere vertreten zu lassen, bei denen wir jene Abstraktion bereits vollzogen haben. Sobald wir darüber hinausgehen und vom Begriff selber und einigen Separatvorstellungen desselben auf neue Gegenstände gehen, können wir nie sicher sein, daß wir nicht betrogen sind. Wir überschreiten die legale Befugnis in der Hoffnung, daß sich diese Überschreitung nicht rächen wird; aber nur die Erfahrung selbst, daß sich diese Überschreitung bisher nicht gerächt hat, verschafft hier verhältnismäßig Sicherheit, niemals jedoch legale Gewißheit. Eine ganz andere Art der Gewißheit kommt dagegen solchen Übertragungen zu, die nach Art der erstgenannten Folgerung am Einzelgegenstand, dem Beziehungsgesetz entsprechend, bei Begriffen auftritt. Wenn eine Separatvorstellung sekundärer Art, die auf einer primären gefunden ist, a priori, aufgrund des Beziehungsgesetzes auch für den Ort der letzteren gilt,, so muß eine solche Separatvorstellung für alle Orte der letzteren gelten, wenn die primäre Separatvorstellung eine begriffliche Gleichsetzung ist. Hierbei handelt es sich freilich vor allem darum, daß die sekundäre Separatvorstellung wirklich auf einem zur begrifflichen Gleichsetzung selbst gehörigen Elemente gefunden worden ist und nicht bloß zu deren Gegenstand gehört. Von der Wahrnehmung aus, daß das Fleischstück Finnen enthielt, konnte ich sicher schließen, daß das Tier Finnen enthielt, weil das Fleischstück vorher als zum Tier gehörig bestimmt war. Allein eine andere Frage ist es, ob ich dann, wenn ich bei verschiedenen Tieren gleiche Stücke abgetrennt und an einem derselben Finnen entdeckte habe, nun apriori schließen darf: "Alle diese Tiere haben Finnen?" Offenbar nicht. Denn das Merkmal "Finnen" ist gar kein Konstituens von Fleisch, ist also nicht auf dem Boden begrifflich gleichgesetzter Vorstellung, sondern nur als Separatinhalt einer einzelnen Wahrnehmung gefunden. Darum kann es nur für deren besonderen Ort, nicht aber für alle Orte der begrifflichen Gleichsetzung gelten. Hätte ich dagegen eine Separatbestimmung gefunden, ohne welche ich Fleisch nicht als Fleisch ansehen könnte, z. B. Eiweiß und Faserstoff, so würde ich schon mit Recht, nachdem ich diesem Umstand an einem Fleischstück erkannt habe, sagen, auch das übrige noch gar nicht untersuchte Fleisch muß diese Bestandteile haben. So sage ich mit der Überzeugung voller Sicherheit, nachdem ich einmal festgestellt habe, daß ich nur eine chemische Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff als Wasser anerkenne, daß alles, was ich durch eine andere Untersuchung als Wasser erkannt habe, aus Sauerstoff und Wasserstoff besteht. Ich kann wohl einmal irren, indem ich Etwas für Wasser halte, was es nach genauerer Untersuchung nicht ist. Darin aber, daß, wenn dies Wasser ist, es aus jenen Elementen besteht, ist jeder Irrtum - mit der früher genannten Einschränkung - aufgehoben. Wenn ich dagegen noch so genau untersucht hätte, daß ein abgeschnittener Kopf dem eines Pferdes gleich ist, würde ich doch nie mit unbedingter Sicherheit mein Urteil fällen. Ganz außer allem Zweifel steht diese Übertragung jedoch nur bei reinen Abstraktionsbegriffen. Selbst der bestimmte Begriff "Wasser" könnte noch eine Beziehung auf Unbekanntes haben. Der Begriff "Dreieck" kann es nicht, denn hier habe ich bestimmt, daß nur drei gerade, an ihren Enden zusammenlaufende, also eine Figur bildende Linien ein Dreieck genannt werden sollen, und es kann darum niemals zu befürchten sein, daß mir bei Achtsamkeit auf obige Bestimmung etwas Fremdes hineingerät. Wenn ich jetzt erst merke, daß von diesen Konstituentien die anderen Konstituentien, drei Winkel abzuheben sind, so würde ich völlig a priori auf alle Dreiecke schließen. Denn das neue Merkmal ist an den Konstituentien des Begriffes entdeckt, somit ist es auch auf alle in den Begriff aufzunehmende Vorstellungen zu übertragen. Die Identität ist hier der Rechtsgrund der Übertragung. Das Merkmal Winkel bezieht sich auf die Separatvorstellung im Begriff, nicht bloß auf deren Gegenstand. Die Separatvorstellungen sind im Begriff insgesamt identisch, folglich bezieht sich auch das, was eine Separatvorstellung näher bestimmt, auf sie alle und damit gemäß dem Beziehungsgesetz auf deren Gegenstände. In diesen einfachen Fällen tritt oft ein Element hervor, das z. B. SCHUBERT-SOLDERN als Grund der Evidenz geltend macht: die Untrennbarkeit einer Vorstellungsverbindung (33). Jedoch gibt dieses Element kein allgemeines Kennzeichen ab. Zwar ist es gewiß richtig, daß ich weder eine Linie, noch einen Winkel aus dem Dreieck wegnehmen kann, ohne das Dreieck aufzuheben. Allein ich kann doch einen Winkel vermöge zweier Schenkel und eine Linie für sich separat vorstellen. Nun habe ich sie aber nur in jener Verbindung vorstellen und gleichsetzen wollen, und in dieser Verbindung nicht bei der Probe, ob sie zu trennen sind, habe ich das neue Merkmal gefunden. Die Trennbarkeit ist also nur ein sekundäres und negatives Merkmal, das mir wohl anzeigen kann, daß ich mich im Beziehungsort geirrt habe; allein sie betrifft nicht das Beziehungsgesetz selbst, welches auch dann Geltung behalten würde, wenn ich mich im einzelnen Fall getäuscht hätte. Außerdem ist dieses Kriterium gar nicht allenthalben anwendbar. Mit der Wegnahme der Diagonalen fällt der Begriff Quadrat nicht ebenso zusammen, wie der Begriff "Dreieck" mit Wegnahme der Winkel. Der Satz, daß ich die entgegengesetzten Winkel eines Quadrats durch größengleiche Diagonalen verbinden kann, gilt trotzdem, nur an einem Fall beobachtet, a priori für alle Quadrate. Weil sie auf dem Boden der begrifflichen Abstraktion geschaut worden sind, sind sie auf Alles, was unter dem Begriff steht, zu beziehen; und wo ich sie nicht wirklich schaue, kann ich sie, ohne den Begriff zu schädigen, sofort im Geiste oder in Wirklichkeit ergänzen. Die Untrennbarkeit gilt also nur da, wo ein Merkmal zum Begriff selbst gehören muß, und dann ist es eine Tautologie, daß, was zum Begriff gehören muß, auch von diesem untrennbar ist. Der Satz kann also nur als praktische Probe, nicht aber als Gesetz dienen, und die Notwendigkeit erschöpfen. Denn die Möglichkeit, Diagonalen ins Quadrat zu zeichnen, ist auch sub voce [unter dem Ausdruck - wp] eine notwendige Möglichkeit, da sie vermöge der Identität für alle Quadrate gilt. Der erste apriorische Satz lautet somit: Was von einem Merkmal einer in den Begriff aufgenommenen reinen Abstraktionsvorstellung gilt, das gilt auch für alle Vorstellungen desselben und damit für deren Gegenstände. Wir sehen schon hier, wodurch sich der Unterschied der bloß vergleichsweise apriorischen Folgerung bei Erfahrungsbegriffen und der völlig apriorischen Folgerung bei Abstraktionsbegriffen begründet. In beiden Fällen sind es die Identität und das Beziehungsgesetz, welche die Folgerung bewerkstelligt. Aber wie die Identität der Vertretung schon von Anbeginn an niemals Gewißheit über die übrigen Inhalte des einzelnen Gegenstandes verschaffen kann, die nicht bereits durch Erfahrung analysiert worden sind, so kann sie auch durch eine Übertragung ihrer gleichgesetzten Separatinhalte auf neue Gegenstände nie Gewißheit über den Gegenstand hervorbringen. Und wie in der Abstraktion vom einzelnen Gegenstand das an der Separatvorstellung gefundene Merkmal mit völliger Sicherheit nach dem Beziehungsgesetz aufgrund der Identität der mittleren Vorstellung auf den Gegenstand selbst bezogen wird, so wird auch aufgrund der gleichen inneren Identität der reinen Abstraktionsvorstellungen das in einer derselben gefundene Merkmal auf alle Vorstellungen im Begriff mit dem unbedingten Bewußtsein der Gültigkeit übertragen, und von hier aus gilt es vermöge des Beziehungsgesetzes wieder für deren Gegenstände. Indessen diese Folgerung von einer begrifflichen Vorstellung auf die übrigen Vorstellungen in demselben Begriff ist noch die wenigst fruchtbare und ins Auge springende. Ihre eigentliche Bedeutung gewinnt die Übertragung erst dadurch, daß von einem Begriff auf den andern und damit auf dessen Gegenstände gefolgert wird. Damit gehen wir also zum zweiten Hauptfall apriorischer Folgerungen über. Diese Übertragung hat wiederum ihr Vorbild in der Einzelvorstellung, und zwar in derjenigen Synthese eines Zusammenhangs, welche keine Separatvorstellungen innerhalb desselben verknüpft, sondern den Zusammenhang selbst erweitert (siehe oben). Wir haben hier gesehen, daß ein Identitätspunkt, welcher zwei vorher getrennten Vorstellungen gemeinsam war, damit diese Vorstellungen selber in einen synthetischen Zusammenhang bringt. Ganz dasselbe findet nun auf dem Boden von Begriffen statt. Wenn an einer, zu einem Begriff gehörigen Einzelvorstellung, oder einer Gruppe von solchen ein Merkmal entdeckt wird, welches für diese als solche gilt, so gilt es auch überall da, wo diese Separatvorstellung oder diese Gruppe als solche vorkommt. Diese Gruppe bildet den Identitätspunkt, welcher die Übertragung auf andere Begriffe ermöglicht. Solche Übertragungen findet man schon bei unbestimmten, ja kaum als solche bewußten Begriffe des gewöhnlichen Lebens in Menge. Der Knabe, welcher bemerkt hat, daß der Hauch seines Mundes seine Pfeife ertönen läßt, hält sie auch an den Dampf, der heftig aus dem Kochtopf seiner Mutter entströmt. Die gleiche Strömung bildet den Identitätspunkt, von dem die gleiche Separatvorstellung, der Ton - hier in kausaler Abfolge - erwartet wird. Die Erfahrung, daß eine herabströmende Wassermasse Körper fortreißt, und die zweite, daß eine fortbewegte Stange an einer Walze in kreisförmige Bewegung gerät, führt zur Erfindung des Wasserrades. Die gefundene Eigentümlichkeit des Wassers wird auf das Rad, oder die der kreisförmigen Drehung durch eine bewegende Kraft auf das Wasser im Geiste übertragen. Die Eigentümlichkeit, daß in einem Mörser befindliches Pulver daraufliegende Steine emporschleudert, führt zur Erfindung der Geschosse, der Sprengung von Felsen etc. Die Wahrnehmung, daß Saiten, Hohlkugeln und dgl. in einem ihnen eigenen Ton nachklingen, führt HELMHOLTZ zur Zerlegung der Klänge in ihre Partialtöne etc. etc. Immer ist es eine neue Vorstellung, die auf einem besonderen Ort angetroffen wird, welche nun auch da angewandt wird, wo derselbe Ort in anderen Beziehungen vorkommt oder in anderer Hinsicht betrachtet wird. Eine Bedingung gilt nun freilich für eine solche Übertragung, die, daß die neuentdeckte Eigenschaft sich auch wirklich auf die betreffende Gruppe als solche, nicht auf deren zufällige Verbindung mit anderen Bestimmungen bezieht. Wenn Wasser bei 100° Celsius kocht, so gilt dies nur unter der Bedingung des Atmosphärendrucks, nicht für das Wasser als solches. Daß hierdurch oft irrige Übertragungen stattfinden, die durch Erfahrung erst verbessert werden müssen, ist bei unbestimmteren Begriffen nicht verwunderlich. Mit völliger Sicherheit können auch hier die Übertragungen nur bei solchen Begriffen stattfinden, deren Konstituentien fest bestimmt worden sind. So kann ich daraus, daß innerhalb der Parallelen eine von einem Punkt der einen nach zwei Punkten der anderen geführte Linien gleiche Wechselwinkel haben, mit unbedingter Sicherheit schließen, daß die Winkelsumme eines Dreiecks gleich der Winkelsumme über einer Geraden ist. Denn jene beiden Linien bilden mit dem davon abgeschnittenen Stück der einen Parallele zugleich ein Dreieck, und die Vorstellung jener Winkelsumme ist also vermöge dieses Identitätspunktes auf jedes Dreieck zu übertragen, auch wo gar keine Paralleln vorhanden sind. Die Identität jener Figur in den Paralleln mit einem Dreieck ohne solche läßt eine völlig sichere Folgerung bzw. Übertragung auf den neuen Begriff zu. Dieselbe gilt dann nach der vorhin behandelten Übertragungsart für alle Vorstellungen des Begriffs und damit nach dem Beziehungsgesetz auch für diejenigen Gegenstände, von denen solche Vorstellungen zu abstrahieren sind. Wenn wir, um noch ein mathematisches Beispiel vorzunehmen, in den Gleichungen x + y = 2 ab und x = a + b das letzte anstelle von x einsetzen, so ist die gleiche Identitätsübertragung wirksam. Denn x ist einerseits größengleich mit 2 ab - y , andererseits mit a + b. Für beide Verbindungen bildet es also den Identitätspunkt, welcher nunmehr die Gleichsetzung a + b = 2 ab - y ermöglicht. In dieser Weise geht die Übertragung bei allen apriorischen Folgerungen vor sich. Auch der zusammengesetzte mathematische oder geometrische Beweis muß stets von Identitätspunkt zu Identitätspunkt schreiten, um eine gültige Übertragung von einem Begriff zum andern zu vermitteln. Die - freilich dreidrähtigen und den wahren Grund der Beziehung über äußeren Formalien verdunkelnden - Schlußformen der alten Logik geben dennoch immer diese Identität der mittleren Vorstellungen an. Unser zweiter Satz für eine apriorische Schlußfolgerung lautet danach: Was als Separatbestimmung einer Abstraktionsvorstellung für den einen Begriff gilt, gilt auch von derselben Abstraktionsvorstellung, sofern sie in anderen Begriffen vorkommt, und damit für die (sinnlichen und geistigen) Gegenstände derselben. Ist dem aber so, dann kann an den apriorischen Schlußfolgerungen nichts Wunderbares sein, was ihnen eine höhere Dignität verleiht als den einfachen Übertragungen, die wir an den einzelnen Wahrnehmungen bemerkt haben. Etwas "Realisierendes in den Relationen der Ideen" (34) können wir hier nicht entdecken. Die Realisierung wird vielmehr nur durch die obige Übertragung vermittelt; nur dadurch, daß ich eine zum Begriff gehörige Separatvorstellung am Gegenstand loslösen kann, erfolgt die Realisierung im Gegenstand vermöge des Beziehungsgesetzes, wonach die von einer Separatvorstellung abstrahierte Bestimmung auch für die Grundvorstellung bzw. deren Gegenstand gilt. Die Grundvorstellung muß also jedenfalls von einem äußeren Gegenstand empirisch gelten, d. h. von ihr abzulösen sein, wenn auch der durch Übertragung gefundene neue Inhalt für denselben empirisch gelten soll. Wenn ich dagegen eine pseudosphärische Fläche nicht in unserem Raum finde, so können auch deren Besonderheiten, die bloß in einer trennenden Abstraktion von einer Abstraktion nicht in der Separatvorstellung gefunden sind, nicht hierfür gelten (35). Diese Notwendigkeit, daß die begrifflichen Elemente, auf deren Boden die Folgerungen stattfinden, aus der Erfahrung gelöst worden sein müssen, wenn sie für diese Geltung haben sollen, ist es eben, worin der Streit mit dem Apriorismus gipfelt. Dieser will über die Befugnis unseres Geistes hinausschreiten und behauptet, um sicher etwas a priori zu wissen, müsse man der Sache nichts beilegen, als was aus dem notwendig folgt, was wir dem Begriff gemäß selbst in sie gelegt haben (36). Wir dagegen haben bewiesen, daß man der Sache nichts beilegen darf, was nicht für eine Separatvorstellung gilt,, die von ihr abgenommen worden ist. Die Frage lautet also: Sind die Separatvorstellungen von Zahlen und geometrischen Figuren von Gegenständen abgenommen, oder in sie hineingelegt? Wir leugnen, "daß der Triangel im Geist entsprungen und nicht aus der Natur abgelesen" ist (37). Wir fragen nach der Begründung einer solchen Behauptung. Aus der Tatsache apriorischer Schlüsse auf Erfahrungsgegenstände kann sie nicht gegeben werden, denn diese haben sich ungezwungen erklären lassen. Der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung ist also Genüge geleistet. Worauf beruth jene Behauptung also noch außerdem? Daß der Triangel insofern im Geist seinen Ursprung hat, wie der Geist seine Vorstellung, abgesehen von der Farbe und dem Material des Gegenstandes, von diesem abgenommen hat, ist freilich richtig. Aber hierin hat er keinen Vorzug vor der Separatvorstellung des Materials selbst, das ich auch, abgesehen von der dreieckigen Form, betrachten kann, oder vor derjenigen der Farbe, die ich ebenfalls, abgesehen von Material und Form, ins Auge zu fassen vermag, und deren Separatvorstellungen ebenso begrifflich zu vereinigen sind. Der Vorzug besteht allein in der Tatsache, daß ich bei der Form der Konstituentien strenger feststellen kann, und darum Gegenstände, wo diese nicht völlig zutreffen, weit sicherer von einem Begriff ausschließen kann, als dies bei Farben möglich ist. Allein wir haben gesehen, daß auch dieser Unterschied fließend ist, und daß wir z. B. Stoffe heute ziemlich sicher, jedenfalls weit sicherer als zur Zeit KANTs in ihren Konstituentien feststellen und auch dieser Sicherheit entsprechende apriorische Schlüsse wagen können. Eine Lehre, welche den Triangel als im Geist entsprungen bezeichnet, muß vor allem erklären, warum wir dann nicht auch die jedenfalls in gleicher Weise im Geiste entsprungenen meta-mathematischen Begriff auf die Erfahrung anwenden können. Diese Erklärung ist meines Erachtens auf dem von COHEN gewählten Boden nicht zu geben. Denn wissenschaftliche Erfahrung, wissenschaftlich gültige Schlußfolgerung aus gewissen abstrahierten Voraussetzungen liegt sicherlich auch hier vor. Aber ihre Abstraktionen sind nicht von den Beziehungsorten der Erfahrung und deren Bedingungeen entnommen, sondern von den Abstraktionen der letzteren hat noch einmal eine andere, nämlich eine trennende Abstraktion stattgefunden, die wieder reduziert werden müßte, wenn die ursprüngliche Beziehung auf unsere Erfahrung stattfinden sollte. Nach der Voraussetzung des Apriorismus müßte aber doch ein anderer Grund vorhanden sein, warum ich dergleichen Begriffe nicht in die Erfahrung legen kann. Sobald er zugibt, daß die Eigenart unseres Raumes dies verbietet, beraubt er sich der Handhabe zu seiner Beweisführung und schiebt die Frage in ein anderes Gebiet zurück, nämlich in die Frage nach dem Apriori der realen Erkenntniskritik. Die Untersuchung dieses Apriori aber haben wir hier nicht zu führen. Es genügt uns jetzt, den Apriorismus in dem Feld zu bekämpfen, aus dem er bei COHEN seine Hauptargumente herholt, dem Apriori in der Geltung der mathematischen Schlußfolgerungen. Es ist nun freilich begreiflich, wie dieses Apriori bei einem Denker eine solche Bedeutung erhalten kann, daß er glaubt, seine Elemente müßten aus dem Geist entspringen. Denn in der Tat entspringt jede neukonstruierte geometrische Figur, jeder neue mathematische Beweis, formell betrachtet, aus dem Geist. Nach Entwürfen des Geistes verfertigen wir unsere Geräte, bauen wir unsere Eisenbahnen, setzen wir unsere Maschinen zusammen. Formen und Figuren, die wir noch nie zuvor gesehen, Instrumente, von denen noch niemand eine Anschauung hatte, von denen also noch keinerlei Separatvorstellungen empirisch aufzufinden waren, erstehen wie durch Zauberkraft aus dem Entwurf des Geistes. Allein wenn wir den Weg verfolgen, auf welchem diese neuen Synthesen im Geiste möglich geworden sind, so sehen wir allenthalben die Wirksamkeit jener Übertragungen auf Grund der Identität, die schließlich auf Elemente führen, welche von der Erfahrung abgenommen sind und nur daraus die Überzeugung erwachsen lassen, auch diese neuen Synthesen müßten in der Erfahrung hervorzubringen sein. Der einzige Unterschied zwischen diesem und den oben betrachteten Fällen ist nur der, daß die dem Entwurf gemäße Erfahrung nicht bereits vorgefunden, sondern erst geschaffen werden soll. Hier ist aber wiederum kein prinzipieller Unterschied zwischen dem Knaben, der Nüsse mit Stangen hat vom Baum schlagen sehen, darauf a priori schließt, auch Äpfel müßten so abzuschlagen sein, und diesen Entwurf zur Ausführung bringt, und zwischen dem Meister, der nach sorgsamster Berechnung ein neues Glas an eine bestimmte Stelle seines Fernrohrs einfügt. Die Tatsache, daß wir Erfahrungen, die noch nicht sind, selbst hervorbringen können, gehört in ein anderes Kapitel und berührt die Frage nach der Gültigkeit apriorischer Folgerungen als solcher gar nicht. Dennoch ist sie es vermutlich gewesen, welche neben dem apriorischen Schließen selbst den Glauben hervorgebracht hat, wir schlössen aus dem, was wir in die Erfahrung gelegt haben. Denn gar häufig, ja in der Technik ausschließlich, machen wir aus dem, was wir bereits nach unserem Entwurf zur Erfahrung gemacht haben, weitere Folgerungen, die uns anleiten, neue und abermals neue Erfahrungen hervorzubringen. Es ist also daran als Grundsatz festzuhalten, daß die Gültigkeit apriorischer Folgerungen als solcher auf einer Identitätsbeziehung zwischen bestimmten Begriffen, bzw. deren Vorstellungen ruht, daß die Beziehung auf äußere Gegenstände aber ganz davon abhängig ist, ob die Elemente, aus denen die Folgerungen stattfinden, als solche von äußeren Orten abzunehmen sind oder bloß im Geist ihren Beziehungsort haben. Damit hoffe ich, soweit es hier möglich war, den positiven Grund des mathematischen Apriori gekennzeichnet und die Annahme von Begriffen, die den Objekten a priori zugrunde liegen sollen, in dem angegebenen Sinn widerlegt zu haben. Die einfache Tatsache der Identitätsbeziehung und ihre, freilich auch nicht metaphysisch aufzufassende, Gesetzmäßigkeit erklärt vollauf das Rätsel, "warum in einigen Fällen ein einziges Beispiel zu einer vollständigen Induktion hinreicht, während in anderen Fällen Myriaden übereinstimmender Tatsachen ohne eine einzige bekannte oder nur vermutete Ausnahme einen so kleinen Schritt zur Feststellung eines allgemeinen Urteils tun". ![]()
32) Vgl. SIGWART, Logik I, Seite 62f, wo diese beiden Arten der Beziehung betont, aber freilich nicht in ihrer Gegensätzlichkeit hervorgehoben sind. 33) SCHUBERT-SOLDERN, Grundlagen einer Erkenntnistheorie, Seite 307. 34) COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, Seite 53. 35) Wir müssen unterscheiden zwischen den Abstraktionen, bei denen wir bloß von einem nicht separierten Rest der Grundvorstellung absehen, und denjenigen, bei denen wir ein Moment derselben wegdenken. 36) KANT, Kr. d. r. V., Ausgabe KEHRBACH, Seite 15. 37) COHEN, a. a. O., Seite 101 |