ra-2FichteG. K. UphuesRaoul Richter    
 
MARGARETE SUSMANN
Alfred Seidel:
"Bewußtsein als Verhängnis"
(1)

"Nicht Bewußtsein schlechthin, nicht alles Bewußtsein und Bewußtmachen gilt ihm als Verhängnis. Ausdrücklich sagt er: Nicht jedes Bewußtmachen ist schädlich, sondern nur dasjenige, was Selbstzweck wird und nicht von einem überpersönlichen Sinnzusammenhang getragen wird."

Aber solche Püffe zu halten, gehören starke
Geister zu und sind nicht viel Leut' die Gott
so angreifet.
- Luther"


In allen Tiefen aufgewühlt legt man das Buch dieses jungen Kämpfers aus der Hand, der ein Opfer der unfruchtbaren Wahrheit seiner Zeit geworden ist, der das Gericht über diese Wahrheit an sich selbst als einem ihrer reinsten Repräsentanten vollzog.

Der Herausgeber, HANS PRINZHORN, hat dem Buch ein weit ausholendes Vorwort vorausgeschickt, in dem er mit ärztlichem und menschlichem Tiefblick alle körperlichen, seelischen und geistigen Bedingtheiten dieses Daseins aufzeigt, alle Einflüsse, die es durch Herkunft und Umgebung und durch seine Zeit im weitesten Sinn erfuhr. Scheint es uns zuerst, als würde das eigentlich Exemplarische, Repräsentative des Werkes und seines Titels durch die Kenntnis aller Zusammenhänge dieses ganzen persönlichen Daseins beeinträchtigt, so zeigt sich beim Lesen des Buches selbst, daß das Wissen um alle Vordergründe und Hintergründe dieses Lebens - ja selbst um seine ursprüngliche Lebensunfähigkeit - nur seine repräsentative Bedeutung erhöht, weil ein schicksalhaftes Zusammentreffen aller Faktoren in ihm zu der geistigen und körperlichen Selbstauflösung drängte, die seinen erschütternden Sinn ausmacht. Denn nicht um einen schöpferischen, zur Gestalt aufblühenden Geist und nicht um das in heroischem Glaubensmut gebrachte Opfer einer überströmenden Persönlichkeit handelt es sich in diesem Werk und in diesem Leben; das alles wäre zu gewaltig, zu laut, zu ganz für diesen Daseinsaugenblick -, sondern es handelt sich um ein schwach und leise brennendes Licht, das sich selbst ohne Deckung in schlichter, lauterer Bereitschaft dem Sturm seiner Weltstunde zum Verlöschen darbot. Denn gewiß gehörte dieser Mensch nicht zu den ganz starken Geistern, die solchen Püffen standzuhalten vermögen; aber ganz deutlich gehörter er zu den Wenigen, die Gott "also" - d. h. aus dem überpersönlichen Ganzen des Lebens bis ins Mark des ganz persönlichen Lebens angreift.

Der Weg, den das Denken ALFRED SEIDELs ging, war schmal, steinig und schmucklos - die Aufgabe, die er auf ihm fand, ohne Pathos, ohne Lohn und Beglückung. Es war der erbitterte Kampf gegen einen Feind, den er mit seinen eigenen Waffen bekämpfen mußte, weil keine anderen ihm selbst zu Gebote standen: der Kampf gegen das zum Verhängnis gewordene übermäßige Bewußtsein unserer Zeit. Gegen das Bewußtsein aber in einem ganz bestimmten, von ihm selbst klar umschriebenen Sinn. Eine Kritik SEIDELs darf darum nicht etwa - wie es geschehen ist - davon ausgehen, daß er den Charakter des Bewußtseins verkannt und nur dessen eine Seite gesehen habe. Nicht Bewußtsein schlechthin, nicht alles Bewußtsein und Bewußtmachen gilt ihm als Verhängnis. Ausdrücklich sagt er: "Nicht jedes Bewußtmachen ist schädlich, sondern nur dasjenige, was Selbstzweck wird und nicht von einem überpersönlcihen Sinnzusammenhang getragen wird."

Damit hat er aber zugleich den Charakter gerade des Bewußtseins unserer Zeit umrissen. Daß das Bewußtsein im heutigen Sinne durchweg von einem überpersönlichen Sinnzusammenhang abstrahiert, daß es um seiner selbst willen oder um rein persönlicher Zwecke willen geschieht, daß es darum ein lediglich zerlegendes, rein analytisches Bewußtmachen ist, das allein ist ihm verwerflich und das Zeichen einer sterbenden Welt. Von allen Seiten rafft er aus der modernen Geistesgeschichte die Fäden so eines unfruchtbaren, in sich selbst kreisenden Bewußtseins zusammen. Untrüglich wie sein Wahrheitssinn ist sein historisches Bewußtsein. Überall in jeder Gestalt und Lebenshaltung der modernen Welt wittert und erkennt er den verhaßten Feind; Schritt für Schritt enthüllt er seinen Gang durch die Zeit, sein Anwachsen und Erstarken. Zur persönlichsten Tragik aber wird diese Enthüllung und der leidenschaftliche Kampf SEIDELs erst dadurch, daß er den Feind, den er bekämpft, noch zu übertrumpfen unternimmt, daß er selbst ihn überall, in jedes scheinbar noch in sich ruhende Ganze einführt - daß er, um die Analyse ad absurdum zu führen und zu zerstören, kein anderes Mittel weiß, als sie selbst bis zum äußersten Ende zu treiben, daß er sich so selbst als den Repräsentanten dessen weiß und zeigt, was er mit aller Macht bekämpft.

Aber die Analyse läßt sich nicht durch sich selbst überwinden. Etwas Anderes nur kann sie aufheben, etwas ganz Anderes. Und um diese Aufhebung mit solcher Macht zu wollen, dazu muß schon dieses ganz Andere am Werk sein. Dieser ganze leidenschaftliche Wahrheitskampf, diese fanatische Auflösung des Auflösenden, diese "Nihilisierung des Nihilismus" konnte letzthin nur von einem Wissen aus geschehen, das durch diese Auflösung alles rein gedanklich wißbaren gar nicht berührt wird. Im Hintergrund von SEIDELs verzweifeltem Kampf steht wie ein verhüllter dämmernder Opferberg hinter einem wild aufgepeitschten Meer das Geheimnis jenes überpersönlichen Sinnzusammenhangs, um dessentwillen er geschah. Immer weiter wurde der Ringende von diesem letzten Ziel und Sinn seines Kampfes abgetrieben - gerade dies war sein Schicksal - immer weniger fühlt er sich der Möglichkeit gewachsen, dem Berg seiner Sehnsucht sich auch nur zu nähern, geschweige denn ihn zu erklimmen - aber immer wußte er um ihn, um diesen letzten unerreichbaren verborgenen Sinn seines Lebens, dem er sich zuletzt selber opferte.

Darum ist es ganz gewiß keine Inkonsequenz, kein Verfallen ins Romantisch-Utopische - oder Inkonsequenz nur, soweit alles Religiöse nichts mehr mit bloßer Konsequenz zu tun hat - daß er, der schonungslose Entlarver aller Ideologien, der Zerstörer ihres objektiven Wahrheitswertes, doch als absoluten, unantastbaren Wert die Religion und die religiöse Bindung erkannte. Aber mit so sicherem Blick, mit so tiefer Festigkeit er diese eine "Ideologie" außerhalb aller Ideologien setzte, mit ebenso großer Sicherheit wußte er auch immer, daß nicht der Mensch sie zu wählen vermag, sondern, daß sie es ist, die sich den Menschen wählt.

So war er ein Wissender um die Gnade ohne Gnade. Und so war das, was man seinen negativen Gottesdienst nennen könnte, ein Ringen mit seinem Dämon. Das Motto, das der größte Analytiker in vollem Wissen um das Verhängnis, das er heraufbeschwor, seiner "Traumdeutung" vorausgeschickt hat: "Flectere si nequeo superos acheronta movebo" [Und kann ich die Götter nicht rühren, so werde ich die Unterwelt in Bewegung setzen. - wp], hätte auch SEIDEL über das weit bescheidenere und doch um einen entscheidenden Schritt weiter dringende Zeugnis heißen denkerischen Ringens setzen können, das sein Werk ist. Und gerade dieser eine Schritt entschied zugleich über sein Leben. Es ist gewiß kein Zufall, daß allein von den bekannteren Schülern FREUDs fünf diesen selben Weg gegangen sind. Die Unterwelt, die der große Denker noch aus überschauender Entfernung in Bewegung setzte, sie mußte die um einen Schritt tiefer Steigenden in sich hinabreißen. Und gerade die edlen, ihrem Wesen nach an den Sinn gebundenen Geister mußten an der Offenbarung der absoluten Sinnlosigkeit in dem Augenblick, wo sie ihnen ans Herz stieg, zerbrechen.

Und so trat mit Notwendigkeit anstelle des ganz Anderen, das allein im Kampf gegen die Analyse triumphieren kann, für SEIDEL das Opfer des eigenen Lebens - auch dies ein anderes als selbst das äußerste Denken. Ganz bewußt wollte er durch diese Tat Sinn schaffen, den Sinn seines Lebens erhärten: die Analyse nicht nur für eine Person, sondern auch für seine Generation überwinden, indem er ihre zerstörende Wirkung an seiner eigenen Person aufwies.

So vollzog SEIDEL das Gericht über seine Zeit an sich selbst. Hier schweigt die Frage nach Wahrheit oder Irrtum. Und was immer an persönlichen Anlagen und Beziehungen die Tat mitbestimmt haben mag: die Einheitlichkeit und Lauterkeit dieses Lebens und Todes wird dadurch nicht angetastet. Nur darum mußte dieser um die letzte höchste Synthes des Lebens wissende Analytiker sein eigenes Leben in die Leere werfen, die sein Denken um ihn her schuf, weil ihm durch alle Mächte des Lebens verwehrt war, den Weg seines letzten Wissens zu gehen - weil er, der Sohn einer aufgelösten Zeit, nicht mit der Wahrheit ziehen konnte, der er diente, die in den Schlußworten seines Buches - den letzten vor seinem Tod - in jäher erschütternder Klarheit als der lebendige Christus vor ihm aufsteigt -, sondern weil er mit der Wahrheit ziehen mußte, die er selbst verwarf.

Aber wenn wirklich nach GOETHEs Wort: "Glück und Hoheit, alles ist verschwunden, nur die Wunde für den Glauben bleibt" - die Zulassung zum Paradies nur an diesem Einen hängt, dann wäre dieser aufgelöste glaubenslose Mensch, dieser Nihilisierer des Nihilismus, der nicht unmittelbar aus der wahren Quelle seines Seins leben durfte, seiner tiefsten Lebenswunde nach dennoch unter die Seligen einzureihen.



LITERATUR - Margarete Susman - Alfred Seidel: "Bewußtsein als Verhängnis", Der Morgen, Heft 3, Berlin 1927
    Anmerkungen
    1) Aus dem Nachlaß herausgegeben von HANS PRINZHORN, Bonn 1927