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RICHARD HÖNIGSWALD
Zum Streit über die
Grundlagen der Mathematik

[3/3]

"Die Zeit ist wie der Raum in Kants Ausdrucksweise eine reine Form unserer Anschauung; ein Schema, in welches wir die Ereignisse einordnen müssen, damit sie im Gegensatz zu subjektiven, in hohem Maße zufälligen Wahrnehmungen objektive Bedeutung gewinnen."

"Die ganze Realität der Wissenschaft beruth überall nur auf der korrelativen Beziehung von Form und Inhalt; die in ihrer berechtigten Abneigung gegen die unkritischen Elemente des Begriffs der Gegebenheit vergißt, daß auch der Begriff des Aufgegebenseins nur dann die Lösung des erkenntnistheoretischen Grundproblems bedeuten kann, wenn er sich über das ganze System der durch ihn implizierten Voraussetzungen Rechenschaft gibt."


III.

1. Es soll nunmehr der Versuch gemacht werden, die Problemlage, wie sie sich in den vorangegangenen Abschnitten entfaltet hat, in ihren wichtigsten Momenten an einem konkreten Fall gleichsam zu exemplifizierten. Sie soll an einer bedeutsamen Kundgebung eines hervorragenden Mathematikers über das Verhältnis zwischen Mathematik und Natur, an den Darlegungen der Rektoratsrede ADOLF KNESERs (1), die das zweite Jahrhunderts des Bestandes der Breslauer Universität im Zeichen der kritischen Erkenntnistheorie eröffnet hat, eine weitere Klärung und Ergänzung erfahren. Mit zielbewußter Prägnanz rückt diese Rede jenen entscheidenden Punkt in den Vordergrund der Betrachtung, an welchem die Probleme und die Interessen der Mathematik, der Naturforschung und der Erkenntnistheorie zusammentreffen. Denn die "prästabilierte Harmonie" zwischen der mathematischen Einsicht und deren Anwendbarkeit auf die Natur ist ihr eigentlicher Gegenstand, "die Wesensverwandtschaft der Mathematik mit ihren Anwendungsgebieten".

Wir kennen bereits das Problem dieser "Wesensverwandtschaft". Es muß sich herleiten aus dem des "mathematischen Gegenstandes", und es muß hinführen zu einer Begründung des Begriffs vom Gegenstand der Erfahrung. Es sind damit die Gesichtspunkte gegeben, die sich bei der Darlegung einer solchen "Wesensverwandtschaft" geltend machen müssen. - Drei Fälle kommen hier augenscheinlich zunächst in Betracht: Entweder jene "Wesensverwandtschaft" wurzelt in der, hinsichtlich ihrer gesamten Struktur von nichtmathematischen Gesichtspunkten jeglicher Art völlig unabhängigen Mathematik selbst, also im Begriff des "mathematischen Gegenstandes", - oder aber sie gründet sich auf die sinnlich bestimmte Erfahrung als solche, indem sie implizit die Mathematik selbst auf Erfahrung gründen will, - oder schließlich, sie sucht das in der mathematischen Naturwissenschaft vorliegende Verhältnis der "Harmonie" zwischen Mathematik und Naturerkenntnis aus den psychologischen Umständen der Entstehung beider herzuleiten.

Dieser letztgenannte Fall nun scheidet, um mit ihm zu beginnen, aus der Diskussion alsbald von selbst aus. Denn die Berufung auf einen psychischen Zwang, die Verbindung, die als Harmonie zwischen Mathematik und Naturerkenntnis bezeichnet worden war, herzustellen, ist sowenig eine Antwort auf die Frage nach der Struktur jener Verbindung selbst, wie etwa der Hinweis auf die psychische Nötigung, beim Anblick dreier nebeneinanderliegenden Steinchen deren Summe zu bilden, geeignet erscheint, die logische Struktur des Begriffs der Drei oder den der Summe aufzuhellen. So bleiben denn nur die ersten beiden Möglichkeiten übrig. Gründet sich jene "Harmonie" auf die Mathematik selbst oder aber auf den sinnlichen Gehalt der "Erfahrung"?

Die Antwort auf die zuletzt genannte Frage wird nicht schwer zu finden sein. Auch die Beziehung zwischen der Mathematik und der sinnlichen Erfahrung sind, sofern sie in Sätzen der angewandten Mathematik ihren Ausdruck finden an rein mathematische Bedingungen geknüpft. Und zwar sind sie dies nicht nur in negativer, sondern auch in positiver Hinsicht, d. h. nicht nur sofern sie mathematische Einsichten nicht verletzen dürfen, sondern auch, weil sie selbst einen mathematischen Inhalt haben. Auch die Sätze der mathematischen Naturwissenschaft sind also unweigerlich hineinverwoben in die Gesamtheit der Bedingungen mathematischer Erkenntnis. Gründete sich daher die mathematische Naturwissenschaft auf sinnliche Erfahrung, dann müßten in der Struktur auch der reinen Mathematik allerorts die Spuren der sinnlichen Erfahrung angetroffen werden, dann lieferte eben wirklich die auf MILLs Wissenschaftslehre fußende Abstraktionstheorie die Grundlagen der Mathematik. Nicht zuletzt auch im Hinblick auf die neuesten Phasen ihrer Entwicklung aber bedarf dieser Fall gar keiner weiteren Widerlegung. Denn es hieße nicht nur den modalen Charakter mathematischer Urteile, deren Apodiktizität [Gewißheit - wp], in Zweifel ziehen, es würde auch eine völlige und prinzipielle Verkennung des Inhalts derjenigen Gebiete mathematischer Erkenntnis bedeuten, die, zunächst wenigstens, jeder mittelbaren oder unmittelbaren Beziehung auf Erfahrung entbehren. Hängt doch auch die auf Erfahrung bezogene Mathematik, und zwar nach einer der Erfahrung grundsätzlich entrückten Norm, mit völlig erfahrungsfreien, genauer, erfahrungsgemäß in keiner Weise deutbaren Teilgebieten mathematischer ERkenntnis zusammen. So brächte dann die Behauptung, daß sich die "Harmonie" zwischen Mathematik und Natur auf Erfahrung gründet, in die Einheit des methodischen Aufbaus der Mathematik einen schlechthin unmöglichen Riß.

Sollte man demgegenüber die wechselseitige, inhaltliche und methodische Abgrenzung der einzelnen Teilgebiete der Mathematik geltend machen, so läge hierin, abgesehen von den rein mathematischen Gesichtspunkten, die der Begründung dieser These hinsichtlich der hier in Frage kommenden Probleme im Weg stehen möchten, eine unüberwindliche logische Schwierigkeit. Denn es würde damit, genau besehen, die unmögliche Forderung erhoben, ein und dasselbe Stoffgebiet in ein und derselben Beziehung mathematisch und zugleich empirisch zu begründen. In der Struktur der Mathematik selbst also müssen die Bedingungen liegen für ihre Anwendbarkeit auf sinnliche Erfahrung. Das aber heißt: Die durch die sinnliche Erfahrung zu erfüllende Erkenntnisleistung wird durch Bedingungen ermöglicht, die in der Mathematik gegeben sind. Nur nach Bedingungen der Mathematik können durch Wahrnehmungen naturgesetzliche Beziehungen bestimmt werden. Nur im Hinblick auf das erkenntnistheoretische Problem der "reinen" Mathematik kann daher die "transzendentale" Frage auch nur gestellt werden. Nicht als "zufällig" kann folglich die Tatsache der mathematischen Naturwissenschaft, das Zusammentreffen mathematischer und nicht-mathematischer Faktoren in jener Tatsache, bezeichnet werden; sie ist vielmehr genauso notwendig, wie es im Rahmen der Erkenntnis überhaupt die Beziehung der sinnlichen Erfahrung auf die Mathematik ist.
    Eine "dualistische Auffassung vom Verhältnis der Mathematik zur mathematischen Naturwissenschaft", erklärt Kneser, "kann den nicht befriedigen, der in den höchsten gemeinsamen Erfolgen beider Gebiete dem Weltsystem Newtons oder Lagranges Mechanik mehr als bloße Zufallsergebnisse sehen will." (2)
Und so kann es dann auch nicht, am allerwenigsten unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten, überraschen, wenn z. B. FOURIER, ein Forscher, "den Mathematik und Physik mit gleichem Stolz den ihrigen nennen können", bei der Bewältigung seiner speziellen Probleme
    "analytische Hilfsmittel" ausbildet, "die nicht nur für die verschiedensten Zweige der theoretischen Physik, sondern auch für die reine Mathematik von größter Bedeutung sind." (3)
Aber noch an einem weiteren Punkt begegnen sich die Sympathien des Mathematikers und die Forderungen der Erkenntnistheorie. Eine so ungeschmälerte Bewunderung man auch der großen Entdeckung FOURIERs, der Darstellung der willkürlichen Funktionen, zollen wird, so schwer wird man sich doch nur entschließen können, auf die Seite derjenigen zu treten, die bei der Erörterung der Frage nach den Gründen des "Zusammentreffens der mathematischen und naturwissenschaftlichen Interessen", gleich dem berühmten Freund NAPOLEONs, wie KNESER sagt, "für die physikalische Seite der Sache" Partei nehmen. - Freilich, der Gedanke einer Harmonie zwischen Mathematik und Natur hat im Verlauf der historischen Entwicklung der Mathematik gelegentlich auf metaphysisch-theologisierende Formen angenommen. Mit kraftvoller Intuition entwirft nach KNESERs Schilderung der große französische Mathematiker HERMITE das Bild einer wesenhaften, metaphysischen Identität zwischen den Welten der mathematischen Wahrheiten und der Erfahrung. Nur die Schwäche unseres Intellekts läßt uns die beiden Welten verschieden erscheinen: ein machtvollerer und vollendeter Geist erkennt sie, wie sie sind, als ein und dasselbe. Diese wesenhafte Einheit und Identität der beiden Welten soll es aber auch sein, die sich unserem beschränkten Intellekt in einem wunderbaren Zusammentreffen von Mathematik und Natur enthüllt - der Gedanke einer "prästabilierten Harmonie" in der "Gestalt eines schönen Mythos". Ein ästhetischer, nicht logischer Reiz ist es also, den der erkenntnistheoretisch geschulte Forscher der spekulativen Betrachtung HERMITEs abgewinnt, wie dann auch jene divina necessitas [göttliche Notwendigkeit - wp], in der HERMITEs großer Lehrer JACOBI, das Wesen und Wachsen aller Wissenschaft verankert, weit mehr den spekulativen Stolz der hegelschen Schule (4) als die Spuren wirklicher erkenntnistheoretischer Analyse verrät. Dasjenige aber, was trotzdem die Anschauungen beider Denker für die erkenntnistheoretische Fundierung der Mathematik so bedeutungsvoll macht, ist ihr gemeinsames logisches Grundmotiv: der Gedanke der prinzipiellen Unabhängigkeit der Mathematik von der Erfahrung (5). Man wird mit KNESER die metaphysischen Tendenzen der Konzeptionen beider Denker als für die erkenntnistheoretische Grundlegung der Mathematik bedeutungslos, ja deren methodischen Zielen widersprechend ablehnen müssen; man wird aber zugleich auch im Sinne seiner Darlegungen und gestützt auf JACOBI die Vorstellung abzuweisen haben,
    "als wohne der Mathematik kein eigentümliches Prinzip des Fortschritts inne, und als müsse sie immer nach außen schauen, um sich für ihre Fortentwicklung die nötigen Direktiven geben zu lassen." (6)
Auf der ganzen Linie verknüpft sich so mit dem erkenntnistheoretischen Problem der mathematischen Naturwissenschaft der Gedanke der methodischen Selbständigkeit der Mathematik oder, was dasselbe bedeutet, der Spezifität mathematischer Synthesis. Ganz von selbst schaltet aber damit aus den Darlegungen KNESERs jener bedenkliche Empirismus, welchem das Harmonieproblem gelöst erscheint, weil es für ihn nicht vorhanden ist, aus der Diskussion aus. Jener Begriff der Spezifität mathematischer Synthesis oder, in der Ausdrucksweise der vorangegangenen Abschnitte, der Begriff des "mathematischen Gegenstandes", ist es eben, welcher der Argumentation auch hier implizit die Richtung gibt.

Von solchen Gesichtspunkten aus aber fällt weiterhin auch Licht auf die Bedeutung, welche dem Gedanken der Synthesis für den Mathematiker grundsätzlich zukommt. Ist einerseits - so darf man in unmittelbarer Anknüpfung an früher Gesagtes und in freier Interpretation der Darlegungen KNESERs erklären - das logische Prinzip des Aufbaus der Mathematik der Erfahrung gegenüber selbständig, und ist dieses Prinzip andererseits ein solches des "Fortschritts", dann kann die methodische Struktur der Mathematik weder auf dem psychologischen Moment der "Willkür" bei der Setzung ihrer Ausgangsposition beruhen, noch auch sich in den Prinzipien des Widerspruchs und der Identität erschöpfen.

2. Nun sind diejenigen Momente selbst, durch welche die Harmonie zwischen Mathematik und Natur manifest wird, nicht im Feld der im engeren Sinn verstandenen Erfahrung zu suchen. So gewiß eine mathematische Theorie selbst im keiner "Erfahrung" gegeben ist, so gewiß sind es eben auch ihre Beziehungen zur Erfahrung nicht. Mit anderen Worten: Der Gedanke der Harmonie zwischen Mathematik und Natur ist selbst erst das methodische Ergebnis wissenschaftlicher Forschung. Er kann selbst nur aus der Analyse der Wissenschaft gewonnen werden und wird sich stets an Faktoren knüpfen, welche die Erfahrung im engsten Sinn "direkt weder bestätigt, noch widerlegt". Denn, um auch diesen Punkt einmal prinzipiell klarzustellen, nicht so liegen letztenendes die Dinge, daß zu zwei gesondert gegebenen Faktoren - Mathematik einerseits, "Erfahrung" andererseits - das drittes, ein die wissenschaftliche Existenz der beiden anderen im Übrigen nicht berührendes Element, die "Harmonie" zwischen ihnen, hinzukommt, sondern so, daß gewisse mathematische Relationen geeignet erscheinen, die Allgemeingültigkeit oder Objektivität von Wahrnehmungsfolgen zu verbürgen. Durch eine Einordnung in die Bedingungen jener Relationen objektiv gewordene Wahrnehmungsfolgen: das eben ist mathematische Naturwissenschaft. Die "Harmonie" zwischen Erfahrung und Mathematik prinzipiell zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen machen, heißt einfach den Begriff der mathematischen Naturwissenschaft analysieren und rechtfertigen; es heißt die Frage stellen, wie es "möglich" wird, mittels der Mathematik Grundbegriffe der Naturwissenschaft, wie etwa den der Bewegung, zu definieren, d. h. Begriffe, ohne die Experiment und Beobachtung selbst richtungslos, also wissenschaftlich unmöglich wären.

Man könnte sich solchen Betrachtungen gegenüber freilich darauf berufen, daß es stets zu den größten Triumphen naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit gehört, wenn Beobachtung und Experiment bestätigen, was die Rechnung fordert. Das heißt, man könnte darauf verweisen, daß hier eine methodologisch bedeutsame Form der Harmonie zwischen Mathematik und Natur vorliegt, die der naiven Auffassung jenes Begriffs, nicht aber den soeben geltend gemachten Gesichtspunkten entspricht. Man könnte daraus folgern: Nicht um "Konstituierung" der Erfahrung durch Mathematik, sondern um Parallelität von Erfahrung und Mathematik handelt es sich im Problem der "Harmonie". Mit der Tatsache ansich hätte man unzweifelhaft recht: in ungezählten Fällen findet wirklich die zuletzt geschilderte Art der Korrespondenz von Experiment und Rechnung statt. Auch kann man nicht bezweifeln, daß sie, wo immer sie auch vorliegt, der Logik eine Fülle der bedeutsamsten Probleme stellt. Aber eine genauere Überlegung würde doch alsbald zeigen, daß es sich hierbei stets schon um eine abgeleitete Form der "Harmonie" handelt, daß mit anderen Worten die Parallelisierung von Experiment und Rechnung jene erste Form des Harmonieproblems überall schon voraussetzt. Denn man bedenke: wo immer von Experimenten überhaupt die Rede ist, da hat bereits, bewußt oder unbewußt, eine Gliederung der Gedanken nach Gesichtspunkten stattgefunden, wie sie durch jene erste Form des Harmonie-Problems repräsentiert werden. Kein Experiment, dessen bloße gedankliche "Möglichkeit" nicht schon von einer Fülle theoretischer Voraussetzungen abhinge, und keine dieser theoretischen Voraussetzungen, welche nicht mittelbar oder unmittelbar auf die Grundbegriffe zurückweist, die jede Bestimmung objektiver Verhältnisse normieren und beherrschen.
    "Der Apparat, kraft dessen das Volumen eines Gases festgestellt wird, setzt nicht nur die Prinzipien der Arithmetik und Geometrie, sondern auch die abstrakten Grundsätze der allgemeinen Mechanik und der Himmelsmechanik voraus; die exakte Definition des Drucks fordert zu ihrem vollen Verständnis das Eindringen in die tiefsten und schwierigsten Theorien der Hydrostatik, der Elektrizitätslehre usw." (7)
Keine dieser Voraussetzungen selbst aber wird möglich unabhängig von den Grundbegriffen der Veränderung oder der Bewegung.

Erwägungen dieser Art bestimmen dann naturgemäß die Auswahl der Anknüpfungspunkte jeder "transzendentalen" Betrachtung, und es ist nur eine notwendige Folge der ganzen Problemlage, daß die Gedanken des Mathematikers über das Verhältnis seiner Wissenschaft zur Natur sich unter dem Gesichtspunkt des Bewegungsbegriffs und der Analyse seiner mathematischen Voraussetzungen entfalten. Er kann nicht umhin, sich über die mathematischen Faktoren Rechenschaft zu geben, welche an die Stelle der sinnlichen Wahrnehmung von Bewegungen deren wissenschaftlichen Begriff setzen, um damit der Gesamtheit sinnlicher Erfahrungen, soweit diese in irgendeinem Sinn auf eine Bewegung bezogen werden, einen objektiven Geltungswert zu verleihen. So rechtfertigt sich an dieser Stelle in vollem Umfang die Frage nach der Struktur des Bewegungsbegriffs und die Besinnung auf die sachlichen und historischen Umstände, welchen er seine mathematische Fixierung verdankt. Die Analysis des Unendlichen nun ist es, welche diese methodische Leistung vollbringt. Sie selbst aber wird, nur möglich, indem sie DESCARTES' Begriffe der veränderlichen Größe und der Funktion mit dem Problem GALILEIs von der Geschwindigkeit eines bewegten Punktes in einem bestimmten Zeitmoment "zu einer höheren Einheit zusammenfaßt". (8) Das Differential- und Integralkalkul ist das Mittel, DESCARTES' Reform der Geometrie und den galileischen Bewegungsbegriff in einer höheren Gesetzlichkeit zu vereinigen. Die allgemeinen methodischen Gesichtspunkte, unter welchen dies geschieht, definieren erst jenen, wie wir wissen, das ursprüngliche Problem der "prästabilierten Harmonie" in sich schließenden Begriff der mathematischen Naturwissenschaft. Für diesen Begriff bedeuten Mathematik und Erfahrung nicht zwei, gleichsam voneinander trennbare Realitäten, sondern höchstens in einem logischen Sinn elementarere Faktoren einer umfassenderen methodischen Beziehung. Erst in der mathematischen Naturwissenschaft erlangen die veränderlichen Größen der Natur "ihre wissenschaftliche Existenz", deren Voraussetzungen damit zu Bedingungen der Natur selbst werden. "Der Grundbegriff der Differentialrechnung", erklärt KNESER hier im unmittelbaren Anschluß an HERMANN COHEN, "ist ein Grundstein der Natur".

So gestaltet sich mathematische Naturwissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung gegenüber zu einem selbständigen methodischen Begriff; und nur ein anderer Ausdruck, ja die unabweisbare Konsequenz eben dieser methodischen Selbständigkeit und Eigenart der mathematischen Naturwissenschaft ist es, daß z. B. FOURIERs Empirismus die Entfaltung und die logische Bedeutung seines Theorems so gut wie gar nicht beeinträchtigt. Mag er auch im "eindringenden Studium der Natur" ein Mittel erblickt haben wollen,
    "die Analysis selbst zu gestalten und die wichtigsten Elemente zu entdecken, die diese Wissenschaft immer bewahren muß" (9),
- sein Theorem ist doch ohne Zweifel eines der erfolgreichsten Mittel geworden, jenes "Studium" selbst erst zu fundamentieren.

Aber die begriffliche Selbständigkeit der mathematischen Naturwissenschaft gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung führt auch noch zu einer weiteren, historisch wie sachlich interessanten Konsequenz. Es gibt kaum einen größeren Gegensatz als den zwischen FOURIER und JACOBI hinsichtlich der Bedeutung, welche der "Erfahrung" für die Gestaltung mathematischer Erkenntnis zukommt. Für FOURIER ist "das eindringende Studium der Natur ... die fruchtbarste Quelle der mathematischen Entdeckungen". Neigt er einer "monistischen" Auffassung des Verhältnisses zwischen Mathematik und Natur zu, so ist dieser "Monismus" unverkennbar empiristisch gefärbt. JACOBI dagegen will "den physikalischen und astronomischen Anwendungen nur eine äußerst geringe Bedeutung für die Fortentwicklung der Mathematik zugestehen". (10) Er
    "fürchtet von einer bestimmten wissenschaftlichen Marschroute, sie möchte der freien, ihrem Genius hingegebenen Forschung zur lästigen Schranke werden." (11)
Wenn sich dennoch die beiden großen Forscher nicht nur in dem allgemeinen Gedanken einer prästabilierten Harmonie begegnen, sondern auch in der Tendenz ihrer wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der angewandten Mathematik mannigfach übereinstimmen, so äußert sich darin eben jene methodische Selbständigkeit des Begriffs der mathematischen Naturwissenschaft, die sich in ihrer sachlichen Bestimmtheit allen individuellen Neigungen gegenüber behauptet. Sinnliche Wahrnehmung veranlaßt wohl die mathematische Naturwissenschaft, aber sie begründet sie so wenig, wie sie, zumindest für gewisse Erkenntnisabsichten, selbst erst in der mathematischen Naturwissenschaft volle theoretische Bestimmtheit erlangt.

3. Aber nicht nur Erwägungen der bisherigen Art allein bestimmen, wie man alsbald erkennt, den gegenwärtigen Stand des Problems vom Verhältnis zwischen Mathematik und Natur. Die Relativitätstheorie von LORENTZ und EINSTEIN ist es vor allen Dingen, die jenes Problem in neue Formen zu bringen und auf neue Voraussetzungen zu gründen scheint. Ja, auch das Wort von der "prästabilierten Harmonie" zwischen reiner Mathematik und Erfahrung selbst war erst innerhalb des Problemkreises der genannten Theorie wieder neu geprägt und mit einem die aktuellsten Fragen der physikalischen Forschung berührenden Inhalt erfüllt worden. So erscheint die "prästabilierte Harmonie" in diesem ihrem modernsten Sinn als das Symbol für eine beispiellose Wandlung physikalischer Grundvorstellungen - dafür freilich auch als derjenige Gedanke, in dem dem man mit MINKOWSIK (12) eine Entschädigung sehen darf für "ein Aufgaben altgewohnter Anschauungen" und, wie der Mathematiker bezeichnenderweise hinzufügt, auch "für das Peinliche, das die LORENTZ-EINSTEINsche Theorie umso mehr an sich hat, je physikalischer man sie darstellt". (13)

Noch ist ja im Rahmen der Relativitätstheorie selbst, wie man weiß, so gut wie alles in Fluß und Bewegung, und kaum noch läßt sich die Fülle ihrer Konsequenzen für die Umgestaltung des gesamten Begriffssytems der Physik ermessen. Noch ist daher auch ihre philosophische Bedeutung, wenn Philosophie überhaupt Wissenschaftslehre ist, nicht an allen Punkte und in vollem Umfang zu überschauen. Einige der wichtigsten Beziehungen zwischen Relativitätstheorie und Erkenntnislehre lassen sich jedoch auch jetzt schon ohne Schwierigkeit fixieren. Denn einmal erscheint das Relativitätsprinzip schon in seinen ersten Ansätzen an Voraussetzungen geknüpft, die einer erkenntnistheoretischen Rechtfertigung bedürfen; sodann aber führt es, selbst in seinem noch relativ unfertigen Zustand, zu Ergebnissen hin, die für viele einer Aufhebung mancher Grundvorstellung der kritischen Erkenntniswissenschaft gleichkommen. In jedem Stadium ihrer Entwicklung stellt sie somit die wissenschaftliche Philosophie vor eine Reihe bedeutsamer Probleme.

In welchem Umfang und in welchem Sinn nun darf die Relativitätstheorie als Ausdruck einer "prästabilierten Harmonie" zwischen Mathematik und Erfahrung gelten? Welches sind, genau besehen, die Elemente, zwischen denen hier "Harmonie" postuliert wird, und welche Folgerungen ergeben sich aus der Fixierung dieser Elemente hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Relativitätsprinzips? Ganz von selbst wird die Erörterung dieser Fragen dazu führen, in kritischer Anknüpfung an die Darlegungen KNESERs einerseits das erkenntnistheoretische Problem der mathematischen Naturwissenschaft oder, was dasselbe bedeutet, die Frage der Geltung mathematischer Erkenntnisse für wahrnehmungsgemäß bestimmte Objekte, andererseits die grundsätzliche Bedeutung des Relativitätsprinzips für das genannte Problem noch einmal zu fixieren.

Welche Faktoren sind es also, die durch die Relativitätstheorie in die gegenseitige Beziehung der "prästabilierten Harmonie" gesetzt werden sollen? Blickt man, ohne auf Zwischenprobleme einzugehen, auf das Gesamtergebnis der Relativitätstheorie, wie es sich unter dem Gesichtspunkt der Forschungen MINKOWSKIs entfaltet, so kann die Antwort auf diese Frage kaum zweifelhaft sein. "Prästabilierte Harmonie", so darf man sagen, kann im Hinblick auf jene Theorie nur die wissenschaftliche Tatsache bedeuten, daß die Gesetzlichkeit eines nicht-euklidischen vierdimensionalen Raums ein Ausdrucksmittel des experimentell-physikalischen Geschehens wird. Es ist, wie kaum betont zu werden braucht, eine Frage für sich, welche mathematischen Gesichtspunkte für die Realisierung dieses Gedankens maßgebend sind. In erkenntnistheoretischer Hinsicht impliziert er, wie schon eine kurze Überlegung lehrt, das Problem, um das es sich hier handelt. Mit anderen Worten: jenen Gedanken einer logischen Analyse unterziehen, heißt die erkenntnistheoretische Bedeutung des Harmoniebegriffs im Rahmen der Relativitätstheorie klären. Und im Hinblick auf diese letztere Einsicht wiederum kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es ein Punkt sein wird, auf welchen sich jene kritische Analyse konzentrieren muß. Eine nicht-euklidische vierdimensionale Geometrie erscheint, so sahen wir, in der Relativitätstheorie als "Ausdrucksmittel" physikalischen Geschehens. Was, so wird zu fragen sein, ist hier der erkenntnistheoretische Sinn des Begriffs "Ausdrucksmittel"? Oder allgemeiner: Welches sind seine möglichen Bedeutungen, und welche dieser Bedeutungen kommt im Hinblick auf die methodische Funktion des Relativitätsprinzips in Frage?

4. Es ist, ehe diese Fragen ausdrücklich beantwortet werden können, das erkenntnistheoretische Problem, wie es sich an die Relativitätstheorie knüpft, noch unter anderen Gesichtspunkten zu beleuchten. Zunächst muß kurz auf die sachliche Voraussetzung verwiesen werden, unter welcher jene Korrespondenz zwischen vierdimensionaler Geometrie und physikalischer Erfahrung steht. Logisch betrachtet - der wissenschaftshistorische und besondere mathematische Sachverhalt kommt hier aus naheliegenden Gründen nicht weiter in Frage - schiebt sich nämlich zwischen die physikalische Erfahrung und deren Repräsentation durch die Gesetzlichkeit einer besonderen nicht-euklidischen Art der vierdimensionalen Geometrie als wesentliches Glied der Gedankenkette der mit dem MICHELSONschen Interferenzversuch gesetzte wissenschaftliche Tatbestand ein: der Harmoniegedanke mit seinen von MINKOWSKI formulierten Voraussetzungen erfüllt hier die Bedingung, die LORENTZsche Hypothese der Kontraktion wie die EINSTEINsche Kritik des Begriffs der Gleichzeitigkeit zu umspannen. Denn jene Hypothese und diese Kritik selbst fußen auf dem negativen Ausfall des MICHELSONschen Interferenzversuchs. Die Annahme einer relativen Bewegung der Erde gegen den "Lichtäther", die aus der LORENTZschen Theorie der elektrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern folgt, erschien durch jenen Versuch ausgeschlossen; auf die an irdischen Objekten meßbare Lichtgeschwindigkeit hat die Erdbewegung keinen Einfluß. Mit anderen Worten: das gefordert Verhältnis der "Harmonie" zwischen der Gesetzlichkeit einer vierdimensionalen Geometrie und der physikalischen Erfahrung hat zu seiner Voraussetzung die Überwindung der mit dem Versuch MICHELSONs gegebenen Schwierigkeit in einer umfassenden mathematischen Theorie der Zeit- und Ortsbestimmung. Das aber heißt, und zwar wiederum rein logisch betrachtet: es ist hier die Bedingung für die Möglichkeit des Harmoniegedankens, daß die Stellung des MICHELSON-Versuchs innerhalb der gesamten Struktur des Problems ihre mathematische Darstellung findet.

Und nun ist es die große und für die vorliegende Diskussion entscheidende Frage: Besitzt diese Darstellung, obschon schlechthin unerläßlich und durchwegs an die Voraussetzungen mathematischer Erkenntnis geknüpft, den logischen und erkenntnistheoretischen Sinn derjenigen mathematischen Begriffe, die, gleich dem Grundbegriff der Differentialrechnung, einen Grundstein der Natur bilden? Darf man von ihr in der gleichen Bedeutung wie von diesen Grundbegriffen behaupten, daß sie zu den Voraussetzungen gehört, die die Erfahrung direkt weder bestätigt noch widerlegt"? Man wird, wie sich sofort zeigt, beide Fragen verneinen müssen. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen: hier steht das Experiment als relativ selbständiger methodischer Faktor neben der mathematischen Überlegung. Die eigentliche methodische Bedeutung des Experiments wird ja sicherlich auch hier erst durch die mathematische Theorie fixiert. Aber das heißt so gewiß nicht, daß die mathematische Theorie das Experiment "konstituiert", als es ja gerade das Experiment ist, an welchem hier die mathematische Theorie orientiert erscheint. Es wird sich in diesem Fall daher nicht um die primäre, sondern nur um diejenige Form der "Harmonie" handeln können, die oben als die "abgeleitete" bezeichnet worden war. Der experimentelle wie der mathematische Teil der Relativitätstheorie setzen eben, so darf man ohne Gefahr behaupten, jene "Grundbegriffe" aller "Erfahrung" selbst schon voraus. Das aber heißt: Der Harmoniegedanke hat in seiner Anwendung auf die Relativitätstheorie zumindest nicht die erkenntnistheoretische Bedeutung, die ihm in Bezug auf den Funktionsbegriff von DESCARTES oder den Geschwindigkeitsbegriff von GALILEI zukommt.

5. Was dieser Einwand bezweckt, ist klar. Er will auf einen grundlegenden Unterschied innerhalb des Harmoniebegriffs hindeuten; und zwar in der Absicht, damit die erkenntnistheoretische Struktur der Relativitätstheorie und damit des Begriffs der mathematischen Naturwissenschaft überhaupt zu klären. Er diskutiert die Frage, ob eine Gleichsetzung des Harmoniegedanken MINKOWSIKs mit dem - um es mit einem Wort zu sagen - kantischen berechtigt ist.

Vielleicht wird der eigentliche Sinn des Einwandes durch eine weitere Überlegung noch deutlicher. Man kann das Relativitätsprinzip auch als die Theorie der Unabhängigkeit der Naturgesetze von der Koordinatentransformation im Sinne einer nicht-euklidischen vierdimensionalen Geometrie bezeichnen. Unter Zugrundelegung dieser Auffassung würde die Beziehung der "prästabilierten Harmonie" zu fordern sein zwischen jenem Moment der "Unabhängigkeit" einerseits und der physikalischen Erfahrung andererseits. Sucht man nun die Konsequenzen dieser Forderung zu entwickeln, so stößt man alsbald auf den entscheidenden Punkt der Diskussion. Welche Voraussetzung müßte, so fragen wir, erfüllt sein, damit jenes Moment der "Unabhängigkeit" zur physikalischen Erfahrung in die Beziehung der "prästabilierten Harmonie" zu treten fähig erscheint? Doch wohl die, daß ihr Begriff selbst sich durchwegs von der Erfahrung unabhängig entwickeln läßt. Trifft dies nicht zu, dann entbehrt auch der Harmoniegedanke, zumindest in seiner kritischen, die Mathematik als "konstitutives" Prinzip der Erfahrung betreffenden Gestalt, seiner unerläßlichen Voraussetzungen. Und es kann schon mit Rücksicht auf die logische Bedeutung des Experiments von MICHELSON für die Relativitätstheorie unmöglich zutreffen. Weil dieses Experiment "geradezu der Fundamentalversuch für die Relativitätstheorie" (14) ist, kann die Relativitätstheorie nicht selbst das konstitutive Prinzip darstellen. Vielmehr erweist sich in der Tat die "Invarianz" der Naturgesetze nur
    "vorläufig als das beste Mittel, um jene erstaunliche Unabhängigkeit der Lichtbewegung und elektromagnetischer Vorgänge von der Erdbewegung mit den übrigen Erfahrungstatsachen in Einklang zu bringen." (15)
Und selbst wenn man mit MINKOWSKI sich auf die rein mathematische Betrachtung des Verhältnisses der "Gruppen Gc und G&infin" beschränken würde, verändert sich der erkenntnistheoretische Charakter der Problemlage solange nicht, wie jene Betrachtung an die Voraussetzung geknüpft bleibt, daß es sich für c um den Wert der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts im leeren Raum, ja überhaupt um einen Wert von empirischer Bestimmtheit handeln muß. Die Unabhängigkeit der Naturgesetze von der Koordinatentransformation im Sinne einer nicht-euklidischen vierdimensionalen Geometir ist nicht ein letzter erkenntnistheoretischer Grundsatz der Erfahrung, weil diese "Unabhängigkeit" selbst, gleich der Erfahrung, noch eine erkenntnistheoretische Analyse und Rechtfertigung fordert. Nur mit dem wesentlichen Vorbehalt also, wie er sich aus diesen Erwägungen von selbst ergibt, kann hinsichtlich der Relativitätstheorie von einer "prästabilierten Harmonie" die Rede sein.

Es ist nicht schwer, diesen Betrachtungen eine konktretere Fassung zu geben. Die Relativitätstheorie müßte, sofern sie geeignet sein soll, das Verhältnis der "prästabilierten Harmonie" zwischen Mathematik und Natur in einem erkenntnistheoretisch ursprünglichen Sinn zu begründen, etwa den Begriff der Geschwindigkeit in dessen gesamter Struktur erschöpfen. Das aber tut sie so gewiß nicht, als sie sich selbst eines außerhalb ihres eigenen Bereichs gelegenen Geschwindigkeitsbegriffs bedient. (Der Faktor v in der LORENTZschen Verkürzungsformel
- Dieser Erwägung in ihren logischen Motiven verwandt ist ohne Zweifel die Überlegung, die MINKOWSKI selbst dazu veranlaßt haben mochte, "um weder von Raum noch von Leere sprechen" zu müssen, an die Stelle des Begriffs der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts "das Verhältnis der elektrostatischen und der elektromagnetischen Einheit der Elektrizitätsmenge" treten zu lassen. (16) Es soll eben durch diese Wendung des Gedankens augenscheinlich die Schwierigkeit vermieden werden, im Rahmen einer Theorie, durch welche "Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken" (17) sollen, mit der Voraussetzung des "Raumes" im herkömmlichen NEWTONschen Sinn des Wortes rechnen zu müssen.

Aber auch wenn diese Schwierigkeit, was zu beurteilen niemals Sache einer erkenntnistheoretischen Untersuchung sein kann, durch jene Wendung wirklich vermieden würde -, die Frage, inwieweit die Relativitätstheorie sich der herkömmlichen Begriffe von Raum und Zeit zu entledigen vermöchte, mit anderen Worten: inwieweit sie überhaupt diese Begriffe in einem erkenntnistheoretisch strengen Sinn zu Objekten ihrer Kritik macht, wäre damit selbst noch nicht entschieden. Die Antwort auf diese Frage, die hier aus naheliegenden Gründen im Wesentlichen in Bezug auf den Begriff der Zeit gegeben werden soll, wird für die Beurteilung des Harmonieproblems und im Zusammenhang damit auch für diejenige der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Relativitätsprinzips neue Anhaltspunkte darbieten.

6. Die Unklarheiten, die den voranstehenden Betrachtungen noch anhaften mögen, verringern sich nicht unbeträchtlich, wenn man sich der sachlichen Tendenz und dem historischen Entwicklungsgang der Relativitätstheorie gemäß darauf besinnt, daß diese nicht sowohl eine Theorie vom Begriff der Zeit als vielmehr eine solche vom Begriff der Zeitbestimmung darstellt. Ihre eigentliche Absicht bestimmt sich daher - in der Sprache der kritischen Erkenntnistheorie - so: Sie will den Begriff der "empirischen", d. h. der "erfüllten" Zeit mit aller Schärfe definieren. Und sie erreicht dies, indem sie den Begriff der Zeitmessung mittels einer kritischen Analyse des Begriffs der Gleichzeitigkeit genau fixiert. Sie entfernt aus dem Begriff der Zeitmessung "die unwesentlichen, nur durch die Zufälligkeit unserer menschlichen Anschauungen und Gewohnheiten hineingebrachten Bestandteile und reinigt dadurch" an diesem Punkt "die Physik von den anthropomorphen ... Beimengungen, deren vollständige Ausscheidung ... das eigentliche Ziel jeglicher physikalischer Erkenntnis" darstellt. (18)

"Relativiert" wird also durch die Relativitätstheorie nicht der Zeitbegriff selbst, sondern vielmehr nur dessen Determination in der Erfahrung der Zeitmessung. Jegliche Zeitbestimmung, das allein kann die Meinung der Relativitätstheorie sein, ist nur gemäß der mathematischen Norm jener "Union" möglich, die MINKOWSKI in der funktionalen Verbindung des Zeitparameters mit den Raumkoordinaten zur mathematischen Einheit eines vierdimensionalen Bezugssystems an die Stelle der isolierten wissenschaftlichen Existenz von Raum und Zeit - wird man hinzufügen müssen: in deren Determination mittels des Begriffs der Erfahrung - treten läßt. Geradezu gefordert aber und vorausgesetzt wird durch den Begriff einer Raum- und Zeitbestimmung derjenige von Raum und Zeit selbst. Es gibt keinen Begriff einer Zeit- und Raumbestimmung ohne die Begriff jener letzten Bezugssysteme der absoluten Zeit und des absoluten Raumes, wie auch nur unter der Voraussetzung der prinzipiellen Forderung einer absoluten Zeit der Begriff einer durchgängigen Relativierung des Begriffs der Zeitbestimmung einen definierbaren Sinn erhält.

Im Grunde genommen ist es, wie man sieht, das Problem der Messung, das in der Relativitätstheorie, freilich in weitaus komplexerer und theoretisch überaus geläuterter Gestalt, wiedererscheint. Gleichwie die gewöhnliche euklidische Geometrie nur in dem Sinn als eine Wissenschaft von der räumlichen Messung der Objekte gelten darf, daß sie die Wissenschaft von den definitorisch und konstruktiv gewonnenen und begründeten räumlichen Normen empirischer Maßstäbe darstellt, genauso impliziert die Relativitätstheorie die gedankliche Beziehung auf absolute Maßkriterien.

Gewiß wird der Physiker unter seinen besonderen methodischen Gesichtspunkten ausdrücklich darauf verzichten können, die Zeitmessung von der Zeit zu trennen. Nur die gemessene oder meßbare Zeit kommt, so darf er mit Recht sagen, für ihn in Frage; Zeit bedeutet für ihn ausschließlich meßbare und gemessene Zeit. So gerechtfertig diese Haltung aber auch sein mag - über die Zulässigkeit und Notwendigkeit einer Unterscheidung der Begriffe von Zeitmessung und Zeit ansich entscheidet sie nicht. Denn diese Unterscheidung betrifft gar keine physikalische, sondern eine logische und erkenntnistheoretische Angelegenheit. Es handelt sich in ihr um die Herausstellung einer rein begrifflichen Beziehung, die dem Tatbestand der Physik logisch vorausgeht, d. h. mit ihm selbst bereits gegeben ist. Ja, man darf im Geist der gleichen Erwägung noch ein weiteres hinzufügen: So unerläßlich der Begriff einer mathematischen "Union" von Raum und Zeit auch ist - er selbst ist es, der auch wieder die begriffliche Sonderung von Raum und Zeit in sich schließt. Gewiß hat "niemand einen Ort anders bemerkt als zu einer Zeit, eine Zeit anders an einem Ort" (19); und es ist das kaum abzuschätzende Verdienst der Relativitätstheorie, diesen bisher nur von der Psychologie ergriffenen Gedanken durch eine exakte Analyse des Begriffs der Zeitmessung der Physik in der umfassendsten Weise nutzbar gemacht zu haben. Aber auch noch so konsequent weiterverfolgt, führt er nicht zu einer Aufhebung der begrifflichen Differenzen zwischen Zeit und Raum. Was sich aus ihm ergibt, das ist höchstens nur die Verbindung beider in einer Theorie des - man gestatte den Ausdruck und mißverstehe ihn nicht psychologisch - Zeit- und Raumbemerkens. Es ist darum mehr als ein "Respektieren" des "Dogmas, daß Raum und Zeit jeweils eine unabhängige Bedeutung haben" (20), wenn MINKOWSKI "einen Raumpunkt zu einem Zeitpunkt" als einen "Weltpunkt" bezeichnet. Es liegt darin vielmehr das Zurückgreifen auf unerläßliche erkenntnistheoretische Voraussetzungen für die Problemstellung der Relativitätstheorie selbst.

Es unterliegt keine Zweifel:
    "Für den auf der Sonne ruhenden Beobachter gehen die Uhren des irdischen Beobachters falsch, und zwei Ereignisse können daher für den einen Beobachter gleichzeitig sein, für den anderen aber nicht; es bleibt nur eine gewisse Ortszeit übrig."
Aber man wird dieser Bemerkung KNESERs (21) hinzufügen müssen: jener Rest repräsentiert lediglich den relativierten Begriff der Zeitbestimmung und nicht den der Zeit selbst, so gewiß der letztere auch von jeglicher "Ortszeit" und von sämtlichen möglichen Uhren gefordert wird.

Versucht man aufgrund dieser Erwägungen, d. h. unter ausschließlich erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten, die Leistungen der Relativitätstheorie zu kennzeichnen, so wird man sagen dürfen: Sie revolutioniert geradezu die gesamte Physik im Sinne des neugewonnenen Begriffs der Zeitbestimmung. Sie hat der unkritischen Gleichsetzung der Begriffe Zeit und Zeitbestimmung, wie sie dem wissenschaftlichen Herkommen vielfach entsprach, ein für allemal ein Ende gemacht. Das heißt, sie bewies, daß die Analyse des Zeitbegriffs den Bedingungen, welche die physikalische Aufgabe der Zeitbestimmung enthält, nicht zu genügen vermag. Sie fixiert also die prinzipiellen Grenzen der Mechanik NEWTONs. Aber die Relativitätstheorie macht sich, nur nach der entgegengesetzten Seite hin, des gleichen Fehlers schuldig, den sie selbst aufgedeckt und auf dem Boden der Physik beseitigt hat, wenn sie nun den Begriff der Zeitbestimmung wiederum, wie dies gelegentlich der Fall gewesen ist, einer Theorie der Zeit kurzweg gleichsetzt. Die Folgen eines solchen Verhaltens sind naturgemäß weniger physikalischen als erkenntnistheoretischen Charakters; d. h. sie werden sich auf dem eigenen Boden der Relativitätstheorie so gut wie gar nicht, dafür aber umso entschiedener da fühlbar machen, wo die unmittelbaren Ergebnisse der Relativitätstheorie als die Lösung auch des erkenntnistheoretischen Problems von Zeit und Raum betrachtet werden. In Wahrheit freilich bietet die Relativitätstheorie so wenig eine Handhabe für eine kritische Ablehnung des Zeit- und des Raumbegriffs der kantischen Philosophie, wie es die naturwissenschaftliche Erfahrung überhaupt tut; Relativitätstheorie und naturwissenschaftliche Erfahrung fordern vielmehr selbst erst, hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Struktur durchaus gleichgeartet, die Begründung und Rechtfertigung ihrer begrifflichen Voraussetzungen durch die "Transzendentalphilosophie". - Man vergißt eben angesichts der weitausgreifenden Konsequenzen der Relativitätstheorie für die Gestaltung der gesamten Naturauffassung nur allzu leicht, daß MINKOWSKI selbst seinen berühmten Vortrag über "Raum und Zeit" mit den gerade für die erkenntnistheoretische Würdigung der Relativitätstheorie so bedeutungsvollen Worten einleitete: "Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen." (22)

7. Ist also unter solchen Voraussetzungen einerseits von einer Widerlegung des kritizistischen Begriffs von Raum und Zeit durch die Relativitätstheorie keine Rede, so ist andererseits auch da ganz besonders Vorsicht geboten, wo der philosophische Kritizismus gleichsam als unmittelbare Instanz zur Bestätigung des Inhalts der Relativitätstheorie dienen soll.
    "Darin liegt gerade" - so erklärt einmal Laue (23) - "die Kühnheit und die hohe philosophische Bedeutung des Einsteinschen Gedankens, daß er mit dem hergebrachten Vorurteil einer für alle Systeme gültigen Zeit aufräumt. So gewaltig die Umwälzung auch ist, zu welcher er unser ganzes Denken zwingt, so liegt doch nicht die mindeste erkenntnistheoretische Schwierigkeit in ihm. Denn die Zeit ist wie der Raum in Kants Ausdrucksweise eine reine Form unserer Anschauung; ein Schema, in welches wir die Ereignisse einordnen müssen, damit sie im Gegensatz zu subjektiven, in hohem Maße zufälligen Wahrnehmungen objektive Bedeutung gewinnen. Diese Einordnung kann nur aufgrund der empirischen Kenntnis der Naturgesetze vollzogen werden. Ort und Zeit der beobachteten Veränderung an einem Himmelskörper z. B. kann nur aufgrund der optischen Gesetze festgestellt werden. Daß zwei verschieden bewegte Beobachter, wenn jeder sich selbst als ruhend betrachtet, diese Einordnung aufgrund derselben Naturgesetze verschieden vornehmen, enthält keine logische Unmöglichkeit. Objektive Bedeutung haben beide Einordnungen dennoch, da sich aus jeder von ihnen mittels der abzuleitenden Transformationsformeln die für anders bewegte Beobachter gültige eindeutig ableiten läßt."
Ist nun eine Verbindung zwischen Relativitätstheorie und der Erkenntnistheorie KANTs, wie sie hier geschaffen wird, gerechtfertigt? Deckt sich mit anderen Worten, die kantische These von der Zeit, als einem Schema der Einordnung von "Ereignissen", mit den Forderungen der Relativitätstheorie? Und ist die kantische Lehre von der Zeit, wenn das letztere nicht der Fall sein sollte, als durch die Zeitauffassung der Relativitätstheorie beseitigt zu betrachten? - Keine dieser Fragen wird, wie sich aus der Gesamtheit unserer Darlegungen ohne weiteres ergibt, bejaht werden können. Gewiß werden "Ort und Zeit der beobachteten Veränderung ... nur aufgrund der optischen Gesetze festgestellt werden" können. Aber die Lehre KANTs hat mit den Methoden der Feststellung von Örtern und Zeiten nichts zu tun. Was sie "Zeit" nennt, und entsprechendes gilt natürlich auch vom "Raum", ist kein erlebter, also auch kein der naturwissenschaftlichen Beurteilung zugänglicher Faktor. Es ist vielmehr diejenige außerzeitliche, d. h. rein begriffliche Voraussetzung, deren Bedingung überall da erfüllt ist, wo von einer in der Erfahrung gegebenen und durch Erfahrungsgesetze "festgestellten" Zeit gesprochen wird. Der Inbegriff der Bedingungen also, von welchen es abhängt, daß die "aufgrund derselben Naturgesetze" durch verschieden bewegegt Beobachter verschieden bewertete Beziehung, ungeachtet dieser ihrer Verschiedenheit, dennoch als "Zeit" charakterisiert ist - das, und das allein, liegt im Zeitbegriff KANTs. Es sei im Zusammenhang damit noch einmal auf früher Gesagtes verwiesen. Die Relativitätstheorie ist eine naturwissenschaftliche, und zwar durch eine Kritik des Begriffs der Gleichzeitigkeit erzielte Theorie der Zeitbestimmung. Sie verleiht der Zeitbestimmung eine objektive Bedeutung, indem sie sie in Naturgesetzlichkeit auflöst. Aber daß es eine Zeitbestimmung ist, um die es sich dabei handelt, das unterliegt Bedingungen, die durch kein Naturgesetz erschöpft werden können, und zwar deshalb nicht, weil jene Bedingungen zugleich mit zu den Voraussetzungen gehören, welchen der Begriff des Naturgesetzes selbst unterliegt. Die genannten Bedingungen allein aber sind es, die der kantische Begriff der - absoluten - Zeit umfaßt. Gewiß ist diese ein "Schema", um "Ereignissen" eine "objektive Bedeutung" zu sichern; aber vor allem dadurch, daß sie die Bedingung darstellt, um überhaupt von "Ereignissen" und von "Naturgesetzen" sprechen zu können. Es ist das Problem der kritischen Philosophie zu zeigen, wie Naturgesetze von der Bedingung der - absoluten - Zeit abhängen; und es ist das Verdienst der Relativitätstheorie, die Abhängigkeit der Zeitbestimmung von Naturgesetzen erwiesen zu haben. So wahr es also ist, daß der Begriff der Zeitbestimmung erst innerhalb der Relativitätstheorie einen streng objektiven, d. h. wissenschaftlich definierten Sinn erhält, so wenig darf man doch aus diesem Umstand auf ein Zusammenfallen der Begriffe von Zeit und Zeitbestimmung oder, was dasselbe bedeutet, auf eine unmittelbare Bestätigung der Forderungen der kantischen Philosophie durch die Relativitätstheorie und umgekehrt schließen. Die Begriffe der Objektivität des Naturgesetzes und der Objektivität von Zeitbestimmungen durch Naturgesetze bedeuten eben nicht dasselbe. Dem kantischen Zeitbegriff entspricht die Zeitauffassung der Mechanik NEWTONs. Und wie der naturwissenschaftliche Wert der Relativitätstheorie in deren Unabhängigkeit von den Prinzipien der Mechanik NEWTONs liegt, so liegt ihre erkenntnistheoretische Bedeutung gerade in denjenigen Momenten, durch welche sie sich der kantischen Lehre gegenüber differenziert. Man kann es auch so ausdrücken: Die kantische "Zeit" ist, wenngleich eine formale Bedingung, so doch niemals der zureichende Grund für die Relativierung des Begriffs der Zeitbestimmung; genausowenig, wie sie es für die Determination irgendeines anderen, inhaltlich bestimmten Faktors sein kann.

Die Relativitätstheorie hat es lediglich mit der wahrgenommenen, d. h. mit der durch die Erscheinungen selbst determinierten Zeit zu tun. Die gedankliche Voraussetzung und Bedingung der letzteren, die "reine Zeit", die im Rahmen der kantischen Terminologie aus ganz bestimmten Gründen als "Anschauung" bezeichnet, aber niemals der inhaltlich bestimmten Wahrnehmung gleichgesetzt wird, fällt dagegen gänzlich außerhalb ihrer Kompetenz. Mit anderen Worten: Nur sofern es die Lehre KANTs ist, daß die Erscheinungen einander ihre Stellen in der Zeit selbst bestimmen und dieselben in der Zeitordnung notwendig machen" (24) müssen, findet das Relativitätsprinzip seine Ergänzung im Zeitbegriff der kritischen Erkenntnistheorie. Aber diese Art der Ergänzung offenbart nur noch deutlicher die erkenntnistheoretische Besonderheit jenes Prinzips. Es begründet keine Theorie von Raum und Zeit, sondern eine solche der "Erscheinungen", sofern diese räumlich und zeitlich bestimmt sind.

Eine unweigerliche Konsequenz der Relativierung des Begriffs der Zeit- und Raumbestimmung ist es, daß wir unter dem Gesichtspunkt einer solchen Relativierung nicht mehr von einem Raum und von einer Zeit zu sprechen haben werden; "analog wie es im dreidimensionalen Raum unendlich viele Ebenen gibt" (25). Es bleiben hier in der Tat nur "Ortszeiten" (26) übrig. Aber als Zeiten sind diese "Ortszeiten" einer gemeinsamen Bedingung unterworfen. Und diese eben ist die "Zeit" Newtons und Kants. Verschiedene Beobachter auf verschiedenen Himmelskörpern haben verschiedene "Ortszeiten"; aber ein und dieselbe "Zeit" ist es, die sie umschließt, und auf deren Hintergrund jene Ortszeiten als solche mittels der Relativitätstheorie erst bestimmbar werden. Das "Jetzt" hat auf der Erde und auf jedem anderen Gestirn verschiedene Zahlenwerte; aber eine gedankliche Voraussetzung für deren Möglichkeit ist es, daß ihre Gesamtheit durch dieses "Jetzt" in der objektiven Einheit einer Ordnung umfaßt wird. Diese Ordnung eben ist die von der Relativitätstheorie nicht berührte "Zeit".
    "Es ist nur eine Zeit, in welcher alle verschiedenen Zeiten nicht zugleich, sondern nacheinander gesetzt werden müssen." (27)
Und nun ist der Sinn, in welchem die Relativitätstheorie als der Ausdruck einer "prästabilierten Harmonie" zwischen Mathematik und Natur bestimmt werden darf, nach all dem gegeben. Die Relativitätstheorie verkörpert diese Harmonie nur mittelbar, nach der Art aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt, d. h. sie setzt sie als ein Prinzip ihrer eigenen Möglichkeit voraus. Die Relatitivätstheorie ist eine Theorie der Erfahrung, im Sinne der Begriffsbildung der positiven Wissenschaft, und nicht in dem der kritischen Philosophie. Sie begründet, d. h. sie "konstituiert" wissenschaftliche Erfahrung nicht, - sie selbst gehört zur wissenschaftlichen Erfahrung. Auch die Relativitätstheorie bedarf, mit anderen Worten, zum Zweck der begrifflichen Fixierung und Repräsentation der Naturphänomene, oder doch gewisser Bestimmungen der letzteren, derselben Voraussetzungen, die ihrerseits erst "Natur" ermöglichen; sie verkörpert den Gedanken der prästabilierten Harmonie zwischen Mathematik und Natur in seiner erkenntnistheoretisch ursprüngliche Fassung nicht in sich selbst, sie fordert ihn. Als mathematisches Symbol der Natur steht sie den Erfahrung konstituierenden Grundbegriffen der Mathematik gegenüber durchaus auf Seiten der Natur.

8. Vielleicht ist es möglich, diese Ergebnisse durch eine Reihe weiterer Erwägungen zu ergänzen und zu einem relativen Abschluß zu bringen.

Ein zweifacher Sinn kann, ganz allgemein betrachtet, dem Begriff der "prästabilierten Harmoine" von Mathematik und Erfahrung zukommen. Sie kann, der Sinn und die Tragweite beider Möglichkeiten ergibt sich unmittelbar aus den bisherigen Betrachtungen, einem Repräsentation und sie kann sodann eine Konstitution der Erfahrung durch Mathematik bedeuten. Sie kann einmal bedeuten, daß Mathematik in der Wissenschaft an die Stelle der Erfahrung tritt - und zwar Bedingungen zufolge, die sowohl in der Mathematik wie auch in der Erfahrung gelegen sind; und sie kann andererseits der Hinweis darauf sein, daß die Struktur der Erfahrung überhaupt, also einschließlich der mathematischen Repräsentation der letzteren, als Bedingungen ihrer Möglichkeit mathematische Elemente von ganz bestimmter Eigenart erkennen läßt. "Repräsentiert" nun oder "konstituier", so darf man fragen, die Relativitätstheorie als mathematisches Theorem die Erfahrung? Ist sie dieser, erkenntnistheoretisch gesprochen, gleichwertig oder erscheint sie ihr übergeordnet? Es ist ohne Zweifel das erstere der Fall.
    "Beim Relativitätsprinzip liegt zutage, wie die scheinbar handgreiflichsten Realitäten durch mathematische Konstruktionen ersetzt und in ihnen aufgelöst werden." (28)
Denn stünde die Relativitätstheorie der Erfahrung als ein mathematisches Prinzip von "konstitutivem" Charakter gegenüber, dann wäre in ihrem Rahmen für nichtmathematische Elemente - man denken an die Rolle des Experiments und an die damit zusammenhängenden Momente - kein Raum; dann müßte sie sich vor allen Dingen zur Erfahrung so verhalten, wie etwa die Begriffe des Differentials oder der Funktion. Gerade das letztere ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil! Jene Begriffe verhalten sich vielmehr zur Relativitätstheorie gleichwie zur "Erfahrung": die Relativitätstheorie setzt sie logisch voraus, sie selbst steht zu ihnen in der Beziehung der "prästabilisierten Harmonie". Die Relativitätstheorie müßte unter den Bedingungen ihrer eigenen "Möglichkeit" figurieren können, sollte sie zu den konstitutiven Prinzipien der Erfahrung gehören. Von selbst fügt sich an dieser Stelle ein Moment in das Ganze der Betrachtung ein, das geeignet erscheint, den erkenntnistheoretischen Charakter der Relativitätstheorie noch deutlicher hervortreten zu lassen. Es war schon in früheren Zusammenhängen die Rede von der Bedeutung des Faktors v in der LORENTZschen Verkürzungsformel
Er repräsentiert, so sahen wir, einen außerhalb ihrer stehenden Wert. Nun ist es nicht schwer, die erkenntnistheoretische Bedeutung dieses Umstandes aufgrund der eben angestellten Betrachtung zu durchschauen. Im genannten Faktor ragt gleichsam die Mechanik NEWTONs als der Repräsentant des Begriffs der absoluten Zeit, der die erkenntnistheoretische Voraussetzung des scharf definierten Begriffs der Relativität aller Zeitbestimmung bildet, in die Sphäre der Relativitätstheorie hinein. Er markiert gleichsam den Hintergrund, auf welchem allein die erkenntnistheoretische Absicht der Relativitätstheorie verständlich und deren Begriff im objektiven, d. h. logischen Sinn des Wortes "möglich" wird. Es ist dies, wie man auch sofort sieht, im Grunde genommen eine Umschreibung des Verhältnisses der Relativitätstheorie zur Mechanik NEWTONs. Die Relativitätstheorie ist eine unerläßliche Ergänzung von NEWTONs Mechanik im Sinne der Forderungen der Physik. Sie ist der Beweis für den Mangel einer "unmittelbaren physikalischen Bedeutung" (29) jener Mechanik. Denn so wenig die letztere etwas über die Anordnung und die Verteilung der Massen auszusagen vermag, deren Gravitationsbeziehungen sie definiert, ebensowenig vermag sie den physikalischen Begriff der Zeitbestimmung mittels des Faktors der absoluten Zeit zu erschöpfen. Aber gleichwie eine Theorie der Massenverteilung die NEWTONsche Mechanik, genauso fordert eine solche der Zeitbestimmung den NEWTONschen Begriff der absoluten Zeit. Dieser aber ist, seinem Inhalt nach betrachtet, zugleich der Zeitbegriff KANTs.

So ist das allgemeinste Problem, welches der Erkenntniswissenschaft durch die Relativitätstheorie gestellt wird, kein anderes als das der mathematischen Naturwissenschaft überhaupt. Es gipfelt in der Frage: Wie ist eine mathematische Repräsentation der Natur möglich? Wie verhält sich im Rahmen der Relativitätstheorie die mathematische Repräsentation der sinnlichen Erfahrung zu einer mathematischen Konstitution ihrer Grundbegriffe? In einem vertieften Sinn erhebt sich in dieser Frage das große Problem der "prästabilierten Harmonie". Denn sie bedeutet die methodische Vereinigung der beiden Richtungen, in welchen sich, wie oben dargelegt, dieses Problem entfaltet. Es werden durch sie von bedeutsamen Gesichtspunkten der naturwissenschaftlichen Spezialforschung aus die letzten Beziehungen zwischen "Form" und "Inhalt" der Erkenntnis überhaupt zur Diskussion gestellt. Die Struktur dieser Beziehungen ist das eigentliche Ziel aller erkenntnistheoretischen Forschung: die Feststellung der Gründe und der relationstheoretischen Merkmale der logischen Distanz des "Inhalts" von der "Form". Es ist der Punkt an welchem sich der Streit um die Prinzipien der kritischen Erkenntnislehre entscheiden muß. An ihm wird sich die Unzulänglichkeit einer Lehre erweisen, die über das berechtigte Eintreten für die umfassende Bedeutung des formalen Erkenntnisfaktors, mehr als einmal zu übersehen scheint, daß die ganze Realität der Wissenschaft, deren Gliederung und Determination in der Mannigfaltigkeit von Methoden und Ergebnissen, überall nur auf der korrelativen Beziehung von "Form" und "Inhalt" beruth; die in ihrer berechtigten Abneigung gegen die unkritischen Elemente des Begriffs der "Gegebenheit" vergißt, daß auch der Begriff des "Aufgegebenseins" nur dann die Lösung des erkenntnistheoretischen Grundproblems bedeuten kann, wenn er sich über das ganze System der durch ihn implizierten Voraussetzungen Rechenschaft gibt. Dieses System aber schaltet den materialen Faktor der Erkenntnis nicht nur nicht aus, es führt vielmehr, nur noch in vertiefter Weise, zu ihm auf dem Umweg über die Frage nach den Beziehungen zwischen "Inhalt" und "Form", und zwar auf der ganzen Linie möglicher Erkenntnis, zurück (30). Auch vom Denken "geforderte" "Gegebenheiten" sind "Gegebenheiten". Als solche aber haben sie ihre spezifischen relationstheoretischen Merkmale und Bedingungen (31). Als solche bezeichnen sie nicht den Zielpunkt, sondern den Anfang einer philosophischen Forschungsarbeit, der auch die Mannigfaltigkeit und der Reichtum der Gliederung der Wissenschaft ausdrücklich zum Problem wird. Man spricht mit Recht vom "Faktum der Wissenschaft". Nur vergißt man dabei allzuleicht, daß auch die "Wissenschaften" ein "Faktum", eingehendster Rechtfertigung und Begründung würdig, bedeuten.

So sind auch mathematische Geltungsverhältnisse nicht das Schema, in dem die wissenschaftliche Erfahrung restlos aufgeht, sondern nur die allgemeine Bedingung, der die exakte Erforschung der Natur zu genügen hat. In echt kritischem Geist nimmt KNESER zu dieser Frage Stellung. "Nicht mit Sicherheit vorausberechnet" werden können die "merkwürdigen Erfolge" der Mathematik in der Beherrschung der Natur; "wie die Früchte eines blühenden Baumes" aber dürfen sie "erhofft werden"? (32) Es ust der methodologische Eigenwert exakter Naturwissenschaft gegenüber der Mathematik, der damit ausdrücklich und prinzipiell bejaht wird; und es ist eine wesentliche Vertiefung des erkenntnistheoretischen Problems der "prästabilierten Harmonie", die daraus folgt.

9. Wir fassen, in unmittelbarer Anknüpfung an die Ergebnisse, zu welchen die erkenntnistheoretische Analyse der Relativitätstheorie hinführt, zusammen.

Wenn die Relativitätstheorie ein Mittel darstellt, der Erkenntnis der Natur durch mathematische Überlegungen neue Bahnen zu weisen, dann ist sie auch ein neuer, wenn auch nur mittelbarer Beweis für den synthetischen Charakter mathematischer Erkenntnis. Denn dreifach ist der Gesichtspunkt, unter dem man das synthetische Verhalten von Urteilen der Mathematik, auch sofern diese an die Stelle der sinnlichen Erfahrung treten, behaupten darf. Sie sind synthetisch im Sinne der allgemeinsten Funktion des Urteils, im Sinne der Struktur des "mathematischen Gegenstandes", und schließlich in dem des durch Mathematik "konstituierten" Begriffs der Erfahrung. Freilich, angesichts des Umfangs reiner mathematischer Erkenntnis ist das Ausmaß der tatsächlich möglichen Anwendung von Mathematik auf Natur verhältnismäßig gering. Aber die Einheit mathematischer Erkenntnis wird davon nicht berührt. Ja, nur in neuen Formen wird sie dadurch zum Ausdruck gebracht. Aus dem Begriff der Mathematik oder, was dasselbe bedeutet, aus der Eigenart des "mathematischen Gegenstandes", muß ihre Anwendbarkeit auf die Natur folgen. Auch in ihren "reinsten" Gestaltungsformen müssen daher die Bedingungen ihrer Anwendbarkeit auf die Natur enthalten sein. In der Tat, wie groß die methodische Selbständigkeit mathematischer Forschung auch sein mag - es gibt zumindest keinen erweisbaren Grund, die Möglichkeit einer Beziehung selbst ihrer höchsten und komplexesten Erscheinungsformen auf die "Natur" prinzipiell auszuschließen. Die Relativitätstheorie ist der deutlichste Beweis dafür.

Der "Affinität" der Phänomene zu "einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen" (33) entspricht auch eine Affinität der "notwendigen Gesetze" zur Verknüpfung von Phänomenen. Sind einerseits Erscheinungen nur im Hinblick auf jene Gesetze mögliche Elemente objektiver Erkenntnis, so unterliegen andererseits die Gesetze selbst den Bedingungen ihrer möglichen Beziehung auf Erscheinungen. Daß nun aber eine solche Beziehung selbst wieder nur möglich ist kraft ihrer eigenen, von aller Erfahrung unabhängigen Bestimmtheit nach Prinzipien objektiver Notwendigkeit - das ist das für die Mathematik bezeichnende. Mathematik begründet die Erkenntnis der Natur, weil sie selbst Erkenntnis, d. h. synthetisch ist. Nur in einer allgemeinen kritischen Theorie des Objekts wird ihr Problem, zugleich mit dem der Erkenntnis der Natur, zu erschöpfen sein.
LITERATUR - Richard Hönigswald, Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik, Heidelberg 1912
    Anmerkungen
    1) ADOLF KNESER, Mathematik und Natur, Rede gehalten zum Antritt des Rektorats der Breslauer Universität in der Aula der Leopoldina am 15. Oktober 1911, Breslau.
    2) KNESER, a. a. O., Seite 4
    3) KNESER, a. a. O., Seite 7
    4) KNESER, a. a. O., Seite 9
    5) Um naheliegenden Einwänden zu begegnen, sei bemerkt, daß HERMITEs Gedanke einer metaphysischen Identität von Mathematik und Natur keineswegs eine logische Abhängigkeit der ersteren von der letzteren bedeutet. Ja, einer eingehenderen Analyse der metaphysischen Konzeption HERMITEs würde sich deren eigentliches Motiv geradezu im Gedanken der logischen Unabhängigkeit der Mathematik von der "Erfahrung" enthüllen.
    6) KNESER, a. a. O.
    7) ERNST CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910.
    8) KNESER, a. a. O., Seite 5
    9) KNESER, a. a. O., Seite 8
    10) KNESER, a. a. O., Seite 9
    11) KNESER, a. a. O., Seite 10
    12) HERMANN MINKOWSKI, Raum und Zeit, Leipzig und Berlin 1909, Seite 14.
    13) KNESER, a. a. O., Seite 13
    14) LAUE, Das Relativitätsprinzip, Braunschweig 1911, Seite 13
    15) KNESER, a. a. O., Seite 12.
    16) MINKOWSIK, a. a. O., Seite 4
    17) MINKOWSKI, a. a. O., Seite 1
    18) Vgl. MAX PLANCK, Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung, Seite 31. Vgl. auch BRUNO BAUCH, Immanuel Kant und sein Verhältnis zur Naturwissenschaft, Kant-Studien, Bd. XVII, Seite 18.
    19) MINKOWSKI, a. a. O., Seite 1f.
    20) MINKOWSKI, a. a. O., Seite 2
    21) KNESER, a. a. O., Seite 11
    22) MINKOWSKI, a. a. O., Seite 1
    23) LAUE, a. a. O., Seite 36f; vgl. auch KNESER, a. a. O., Seite 12
    24) KANT, a. a. O., Seite 245; vgl. auch NATORP, a. a. O., §§ 11 und 12.
    25) MINKOWSKI, a. a. O., Seite 4
    26) Es versteht sich vvon selbst, daß der Begriff "Ortszeit" hier nicht in dem strengen relativitätstheoretischen Sinn von LORENTZ (Verbindung t' von x und t) gebraucht ist.
    27) KANT, a. a. O., Seite 332 - Die unter besonderen mathematischen Gesichtspunkten mögliche Bezeichnung der "Zeit" als einer unabhängigen Variablen ändert natürlich an der erkenntnistheoretischen Beurteilung ihres Begriffs nichts.
    28) KNESER, a. a. O., Seite 13
    29) NATORP, a. a. O., Seite 399
    30) Vgl. meine Abhandlung "Zur Wissenschaftstheorie und -systematik", Kant-Studien, Bd. XVII, Seite 45f.
    31) vgl. NATORP, Kant und die Marburger Schule, Kant-Studien, Bd. XVII, Seite 203.
    32) KNESER, a. a. O., Seite 4
    33) KANT, Kr. d. r. V., Ausgabe A, Seite 114