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HANS-MARTIN GAUGER
Brauchen wir Sprachkritik ?

"Die Sprache verfügt über Wörter für Dinge, die nicht existieren."

In dem berühmten "öffentlichen" Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn, mit dem THOMAS MANN, 1937, aus dem Exil antwortete auf die Aberkennung seines "doctor honoris causa", heißt es: "Das Geheimnis der Sprache ist groß; die Verantwortlichkeit für ihre Reinheit ist symbolischer und geistiger Art, sie hat keineswegs nur künstlerischen, sondern allgemein moralischen Sinn, sie ist die Verantwortlichkeit selbst, menschliche Verantwortung schlechthin, auch die Verantwortung für das eigene Volk, Reinhaltung seines Bildes vorm Angesichte der Menschheit, und in ihr wird die Einheit des Menschlichen erlebt, die Ganzheit des humanen Problems..."

Hier tritt, pathetisch und exakt, jenes Gefühl der Bindung, jenes auf die Sprache gerichtete Ethos hervor, von dem etwas in jedem Verhältnis zur Sprache lebendig sein sollte.

Brauchen wir Sprachkritik? Die keineswegs nur rhetorisch gemeinte Frage ist damit schon beantwortet. Wie wären Reinheit und Reinhaltung möglich ohne Kritik, ohne offenlegende und austauschende rationale Besinnung? Die Frage kann nur lauten: wie kann und soll Sprachkritik sich ausprägen? Und dann: wie ist ihr Verhältnis zur Sprachwissenschaft? Hierzu im Folgenden einige vorlaufende, aber "unvorgreifliche" Gedanken.

Beginnen wir mit dem "locus classicus". Im ersten Teil seines "Novum Organum (1620) legt FRANCIS BACON dar, was er "Lehre von den Idolen" nennt. Unter "Idolen" versteht er Vorurteile, die unvoreingenommene Beobachtung und unvoreingenommenes Denken verhindern. Die Erkenntnis beginnt für ihn mit dem Abbau der Idole. BACON unterscheidet unter ihnen vier Arten.
Erstens die  idola tribus  "Idole des Stamms": gemeint ist die Tendenz des Erkennenden, alles nach dem Maß, der Analogie des Menschen zu beurteilen. Der Blickwinkel, der zu uns gehört, insofern wir Menschen sind, wird absolut gesetzt.

 Zweitens  die  idola specus  "Idole der Höhle". Hier handelt es sich um die Absolutsetzung des eigenen, subjektiven Blickwinkels; Verzerrung also der Erkenntnis oder ihr Ausbleiben durch fehlende Überwindung der Subjektivität des Erkennenden.

Drittens die "Idole des Theaters"  idola theatri.  BACON meint mit diesem überraschenden, aber ein einem zweiten Blick einleuchtenden Ausdruck die Vorurteile, die sich aus der überlieferten Anschauung, der Tradition insgesamt, ergeben. Der Ausdruck  Theater  paßt zu dem Rituellen, das zum Theaterhaften - nicht nur im akademischen Bereich - der Tradition gehört.

Viertens die  idola fori,  "Idole des Markts". Hier nun handelt es sich um die Vorurteile für die Beobachtung und das Denken, die sich aus der Sprache ergeben. Konkret stellt es sich BACON so vor, daß Wörter entweder die Existenz von Dingen suggerieren, die es faktisch nicht gibt, oder daß sie die Wirklichkeit anders darstellen, als sie ist. Also: die Sprache verfügt über Wörter für Dinge, die nicht existieren. (Bacon nennt interessanterweise das Wort  Glück),  und benennt Dinge, die tatsächlich existieren, nicht mit den ihnen angemessenen Wörtern.
also stellen sich zwischen die Dinge, die tatsächlich existieren und unsere Erkenntnis. Aus dem eigentlichen Instrument des Denkens wird eine Schranke. Diesen Darlegungen BACONs kommt, mit einem Ausdruck EDMUND HUSSERLs zu sprechen, "Ewigkeitsbedeutung" zu: jede Bemühung um Erkenntnis im Bereich des Menschlichen muß beginnen mit einer kritischen Untersuchung der Wörter, welche die Dinge, um die es geht, bezeichnen. Das heißt: die Wörter der Alltagssprache müssen registriert, dann aber kritisch überschritten werden.

Vorbild hierfür sind bereits die platonischen Dialoge, die ausgehend von der Alltagssprache, dann aber weiterschreitend, sie kritisch transzendieren. Es ist sinnvoll, ja in gewissem Sinn notwendig, sich zunächst zu fragen: was weiß davon die Sprache? Dann aber muß dies Wissen der Sprache kritisiert werden, denn die Sprache ist, nach einem schönen Ausdruck BENEDETTO CROCEs, eine "Wissenschaft im Zustand der Morgendämmerung",  scienza aurorale. 

Daß es wichtig sei, die Dinge beim Namen zu nennen, bei dem ihnen zukommenden Namen, daß man etwas nicht so nennen sollte, was eigentlich, wenn es mit rechten Dingen zuginge, so genannt werden müßte, ist ein sprachkritisches Motiv, das sich früh findet.

An einer Stelle seines  Peloponesischen Krieges  schreibt THUKYDIDES: "Sie veränderten sogar, um sich zu rechtfertigen, die übliche Bedeutung der Wörter. Unüberlegte Kühnheit wurde als Treue zur eigenen Partei betrachtet, kluges Zögern als Feigheit, Mäßigung galt als Bemäntelung unmännlicher Schwäche, und die Dinge durchschauen hieß Nichtstun. Umgekehrt wurde unvernünftige Heftigkeit als etwas bei einem Mann Unabdingbares betrachtet, und das Eingreifen von Vorsichtsmaßnahmen gegenüber dem Feind galt als bloßer Vorwand, sich der Gefahr zu entziehen".

Ein anderes Beispiel: SALLUST läßt in der  Verschwörung des Catilina  CATO vor dem Senat sagen: "Leider sind uns schon längst die wahren Wörter für die Dinge abhanden gekommen, und eben deshalb, weil fremdes Gut verschenken Freigebigkeit heißt und frecher Mut zu bösen Streichen Tapferkeit: deshalb steht der Staat am Rande des Ruins". Darum geht es der Sprachkritik - neben anderem - in der Tat: umd die "vera vocabula rerum".

Sprachkritik im Zusammenhang mit Politik spielt auch in dem genialen, melancholischen Reißer GEORGE ORWELLs "Nineteen-Eighty-Four" eine gewichtige Rolle. Es gibt ja die Sprache "Newspeak", die von fünfzehn Prozent der Bevölkerung Ozeaniens, nämlich von den Parteimitgliedern, nicht aber von den sogenannten "proles", gesprochen wird. Sprachlenkung, also, bei der Elite.

Die Beispiele sind bekannt: etwa  joycamp  für Konzentrationslager oder  Ministry of Love  für das für Unterdrückung zuständige Ministerium. Zum "Neusprech" gehört auch der "Doppeldenk", nämlich die Fähigkeit, die man sich erwerben muß, zwei sich widersprechende Aussagen gleichzeitig für wahr zu halten. Denk "Doppeldenk" kennzeichnen die drei Wahlsprüche der Partei: "Krieg ist Frieden, Freiheit ist Knechtschaft, Ignoranz ist Stärke". Die Differenz zwischen diesen kontradiktorischen Begriffen findet sich in diesen Wahlsprüchen aufgehoben.

Dies ist, von ORWELL her gesehen, implizite Sprachkritik: durch die einebnende Gleichsetzung dieser Begriffe ergibt sich für das Denken ein Orientierungsverlust, denn gerade solche Begriffe vom Typ "gut" und "böse" vermögen es, Klarheit zu schaffen (in ähnliche Richtung geht ja bereits das berühmte "Fair is foul and foul is fair..." der drei Hexen zu Beginn von SHAKESPEAREs  Macbeth). 

Bei dem letzten der drei Wahlsprüche, "Ignoranz ist Stärke", handelt es sich nicht um kontradiktorische Begriffe, denn Dummheitist nicht das kontradiktorische Gegenteil von Stärke; hier geht es um die Negierung des normalerweise Implizierten, und hier wird gerade jener berühmte Satz BACONs, demzufolge Wissen Macht ist, negiert. Insofern ist dieser Satz Antiaufklärung par excellence.

Wenn es um die möglichen Ausprägungen und Richtungen der Sprachkritik geht, ist zu unterscheiden zwischen Sprachbesitz und Sprachäußerung. Der Sprachbesitz ist der historisch gewordene sprachliche Besitz einer Gemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Sprachäußerung ist der konkrete, einzelne Gebrauch, den ein Individuum von diesem Besitz, über den es verfügt, macht.

Beginnen wir mit dem Sprachbesitz. Er kann unter zwei Aspekten kritisiert werden. Erstens unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit, der Wahrheitsfindung und Wahrheitsvermittlung, denn der dem Suchenden zur Verfügung stehende Sprachbesitz wird gebraucht, um Wahrheit zu finden und um gefundene Wahrheit anderen darzulegen; Sprache, also, als Instrument der Erkenntnis.

Zweitens kann ein Sprachbesitz kritisiert werden unter dem Gesichtspunkt seiner kommunikativen Absicht, denn Sprache, was immer sie sein mag - und was sie sei, ist noch nicht ausgemacht - hat jedenfalls mit Kommunikation viel zu schaffen, wenn sich auch, anthropologisch gesehen, was der Sprachbesitz leistet, keineswegs in ihr erschöpft; Sprache also, als Mittel der Kommunikation.

Beim Gesichtspunkt Sprache als Instrument der Erkenntnis handelt es sich um die philosophisch erkenntnistheoretische Sprachkritik, wie wir sie in der Philosophie von PLATON an finden. Gewisse sprachkritische Fragestellungen waren bereits für PLATON traditionell. Wichtig war hier ohne Zweifel der Beitrag der Sophistik. SOKRATES, im gewissen Sinn ja selbst Sophist, dann PLATON, haben diese Sprachkritik aufgegriffen. Sprachkritik unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis findet sich auch in der Scholastik, dann in der Philosophie der englischen, französischen und deutschen Aufklärung, etwa bei LEIBNIZ und LICHTENBERG. Sie fehlt auch nicht in der Philosophie des deutschen Idealismus; aber dies Thema bleibt in ihr peripher. Dies zeigt sich bereits bei KANT.

Es ist, finde ich, besonders bedauerlich, daß KANT dem Problem Sprache kein Interesse abgewonnen hat. Erst in der Philosophie der Gegenwart ist dies Thema, bisher ein Randthema, ins Zentrum gerückt. Und zwar gilt dies für ganz verschiedene philosophische Richtungen, so verschieden, daß sie sich gegenseitig ignorieren. Ich nenne exemplarische drei Namen: CARNAP, HEIDEGGER, WITTGENSTEIN. Die Bedeutung des Sprachthemas kündigt sich, wie so vieles, übrigens schon im Werk NIETZSCHEs an. Ich breche diese äußerst summarischen Hinweise ab und möchte nur bedauernd hervorheben, daß die philosophische Sprachkritik bisher so gut wie gar nicht aufgearbeitet und historisch thematisiert worden ist. Es ist dies ein dringendes Desideratum.

Gibt es "unwahre Wörter"? Sicher gibt es keine "lügenden Wörter", denn zur Lüge gehört die bewußte Absicht, das Falsche zu sagen. So hält es bereits die Definition des AUGUSTIN fest, die HARALD WEINRICH in seiner "Linguistik der Lüge" (1964) zitiert: "Die Lüge ist eine mit dem Willen, das Falsche zu sagen, verbundene Aussage". Zur Lüge, also, gehört Absicht. Nun hat die Sprache als solche, als Sprachbesitz, keinerlei Absicht. Die Sprache spricht übrigens auch nicht (hier irrt HEIDEGGER): zu Absicht, auch zum Sprechen, gehört ein Subjekt; gerade ein solches ist aber die Sprache nicht.

Es ist ein in der Geschichte der Sprachreflexion, auch der Sprachwissenschaft, immer wieder anzutreffender Irrtum, eine Versuchung, daß der Sprache ein Subjekt unterstellt, daß sie hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] wird zu einem Subjekt. Auch die Destruktion, immer wieder, solch verhängnisvoller Hypostase ist Aufgabe der Sprachkritik. Die Sprache spricht nicht; sie hat keine Absicht. Daher kann sie auch nicht lügen. Auch kein einzelnes Element von ihr kann dies. Aber es gibt unwahre Wörter: Wörter, die in sich selbst eine Unwahrheit enthalten und also jeden, der sie gebraucht, gewollt oder ungewollt, eine Unwahrheit sagen lassen.

Nehmen wir das Wort "Krieg". Wörter, die meisten von ihnen jedenfalls und in gewissem Sinne alle - zielen auf eine Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, auf die das Wort "Krieg" zielt, hat sich nun aber so sehr verändert, daß dies Wort nicht mehr trifft. Wir verbinden mit diesem Wort eine Bedeutung, die nahezu nichts mehr mit dem zu tun hat, worum es sich bei einem kommenden "Krieg" handeln würde. Zum Krieg gehört dies: es sterben viele, andere werden verwundet, Sachgüter, kulturelle Werte werden vernichtet; nachdem aber der Krieg zu Ende ist, geht es, jedenfalls für die Übriggebliebenen, weiter: "Neues Leben blüht aus den Ruinen".

So war es beim "letzten" Krieg: er war noch immer Krieg, unterschied sich insofern nicht vom Dreißigjährigen. Was wir heute fürchten und noch immer "Krieg" nennen, ist gar nicht dies: wir befürchten das Ende zumindest allen menschlichen Lebens, die Gesamtvernichtung. Jeder weiß: die Vernichtung des menschlichen Lebens, des Lebens überhaupt, in eine völlig reale Möglichkeit. Trotzdem reden wir noch immer vom "Krieg", "Kriegsgefahr", "kriegerischer Auseinandersetzung."

Hier muß Sprachkritik einsetzen, denn es ist ganz offensichtlich eine den Tatbestand der Unwahrheit erfüllende Verharmlosung, daß wir, als hätte sich nichts geändert, noch immer dies längst nicht mehr treffende Wort gebrauchen. Die Distanz zwischen der Wirklichkeit, um die es geht, wenn wir "Krieg" sagen, und der Vorstellung, die wir mit diesem Wort verbinden, ist abgründig. Linguistisch gesprochen: Das Signifikat, das wir mit dem Signifikanten verbinden, paßt nicht mehr zum außersprachlich Gemeinten. Dem Signifikat ist gleichsam das Gemeinte davongelaufen. In anderen Worten: wir meinen nicht, was wir sagen, wir sagen nicht, was wir meinen, wenn wir von "Krieg" und "Kriegsgefahr" sprechen.

Oder nehmen wir das Wort "Waffe". Hierzu gehört die Vorstellung einer zumindest einigermaßen begrenzbaren Wirkung auf einen Gegner. Eine Waffe in diesem Sinn ist gewiß ein Gewehr, und eine Kanone ist ein verlängertes und verstärktes Gewehr. Das neue Duden-Wörterbuch definiert "Waffe" so: "Gerät, Instrument, Vorrichtung als Mittel zum Angriff auf einen Gegner oder zur Verteidigung." Dann nennt es als Beispiele: "Konventionelle W., atomare, nukleare W., biologische W., taktische W., strategische W." Die Frage ist aber die: haben die sogenannten A-B-C-Waffen, die atomaren, bakteriologischen, chemischen Waffen, noch etwas zu tun mit jener - durchaus zutreffenden - Definition des "Duden"?

Für bestimmte chemische Waffen kann dies gesagt werden. Die Gaswolken zum Beispiel, die im ersten Weltkrieg bei geeignetem Wind in Richtung auf die feindlichen Schützengräben abgelassen wurden, waren noch Waffen. Dies gilt aber sicher nicht von den Geräten und Installationen, die wir jetzt meinen, wenn wir von "Waffen" reden. Diese sind etwas prinzipiell anderes als eine "Weiterentwicklung der Artillerie", wie sich seinerzeit, in einer berühmten Formulierung, ein deutscher Staatsmann ausgedrückt hat.

Wir haben da nicht nur die Ausweitung der Wirkungen von dem Kämpfenden auf die Zivilbevölkerung, sondern auch die von der "feindliche" Zivilbevölkerung auf die eigene. Ja, man muß sich diese - durchaus reale - Enormität vergegenwärtigen: diese Waffen treffen schon den noch nicht Geborenen, ja, den noch nicht Gezeugten! Ein Ausdruck wie "Völkervertilgungsmittel", den IVAN ILLICH einmal vorgeschlagen hat, wäre sicher angemessener als das Wort "Waffen", das wir, als ginge es um Gewehre oder Kanonen, noch immer gebrauchen.

DOLF STERNBERGER (niemand wird diesen Autor linker Unvernunft zeihen) sprach in der "Frankfurter Allgemeinen" von der "absoluten Kriminalität dieser Waffen, die in der Anwendung, bei einiger Eskalation, alle Regeln des Völkerrechts, alle Konventionen und Protokolle von Haag und Genf und dazu die Normen von Nürnberg, mit einem Schlag außer Kraft setzen, die unvermeidlich,  Verbrechen gegen die Menschheit  begehen müßtenn, ja, die dazu bestimmt sind, das zu tun". Die sprachkritische Frage also: dürfen wir weiterhin von "Waffen" sprechen? Sagen wir nicht, wenn wir dies tun, die Unwahrheit?

Oder schließlich das Wort "Verteidigung". Es meint ungefähr dies: ein Land wird angegriffen, man setzt sich zur Wehr, und das Ergebnis ist, wenn die Verteidigung glückt, daß der Gegner nicht hereinkommt oder daß er zwar hereinkommt, aber wieder hinausgeworfen wird. Das Wort impliziert auch, daß schließlich, wenn alles vorbeit und einige Zeit vergangen ist, beinahe alles wieder ist wie vorher. Nun wissen wir alle: so - gerade so - wird es, im "Verteidigungsfall" keineswegs sein.

Die geschilderte Diffusion jener "Vertilgungsmittel", um die es gehen wird, schließt dies mit Sicherheit aus. Wir wissen, daß, jedenfalls was unser Land angeht, jegliches menschliche Leben in ihm, nach solcher Verteidigung, vernichtet wäre. Frage: was heißt in einem solchen Fall "Verteigung"?

Bei den Wörtern "Krieg", "Waffe", "Verteidigung" handelt es sich darum, daß, wie ich sagte, die Wirklichkeit diesen Wörtern davongelaufen ist. Anders verhält es sich mit einem nun fast schon historischen Ausdruck, den ich sprachkritisch kurz angehen will: dem Ausdruck "Nachrüstung".

In seiner genannten "Linguistik der Lüge" redet WEINRICH nicht vom Typ des "durchsichtigen Worts". Die Wörter haben die Aufgabe zu nennen; das Sagen gehört erst zum Satz oder dann - und eigentlich - zur Äußerung. Die durchsichtigen Wörter, die im Unterschied zu den übrigen, in sich selbst, indem sie nennen, bereits etwas sagen. Da diese Wörter etwas sagen, also sprechende Wörter sind, können sie auch Falsches sagen. Es handelt sich hier um die Ableitungen und die Wortzusammensetzungen, also um Wörter vom Typ "Gärtner" und "Gartenhaus". Ein solches durchsichtiges Wort ist "Nachrüstung".

Der hier implizierte Satz lautet: wir rüsten, weil die anderen vor uns gerüstet haben. Das Wort meint also: die anderen haben angefangen, nun antworten wir, und dabei bleibt es. Das Wort suggeriert also beschwichtigend - hierin (nur hierin) liegt seine Unwahrheit -, es bleibe dabei: die andere Seite ist einen Schritt vorausgegangen, nun ziehen wir, da die andere Seite nicht wieder zurückwill, nach, und damit ist der Vorgang abgschlossen; alles ist wieder wie vorher.

Nun war aber für jedermann von vorneherein klar - und dies hat sich nach erfolgter Nachrüstung bestätigt, - daß es dabei nicht bleiben würde. Es war klar, daß die andere Seite reagieren würde mit einem weiteren Schritt. Also war, was man "Nachrüstung" nannte, von daher gesehen, das genaue Gegenteil dessen, was dies Wort suggerierte.

Faktisch handelte es sich, wie berechtigt auch immer das "Nach" gewesen sein mochte, um Vorrüstung. Oder: was das Wort "Nachrüstung" meinte, konnte man genau so gut, ja, hätte man eigentlich mit "Vorrüstung" bezeichnen müssen. SO kann man - auch dies muß Sprachkritik immer wieder aufdecken - mit einem bloßen Wort vernebeln: den anderen, und, zuvor schon, sich selbst.

Es liegt auf der Hand, daß dies alles zu erweitern und zu vertiefen wäre. Ich sage es auch ein wenig "for discussion's sake" und füge sogleich - gegen das Deutsche gerichtet - die sprachkritische Anmerkung hinzu, daß wir für die letztere Wendung keine Entsprechung haben: man sagt in unserem Land nicht gerne etwas "um der Diskussion willen..." Im übrigen lassen sich sprachkritisch die Gewichte auch gerecht zu verteilen. Zu kritisieren wäre vielleicht nicht nur "Nachrüstung", sondern etwa auch der nicht bloß exzessive, sondern auch anmaßende Gebrauch des Wortes "Widerstand", durch den man versucht, bewußt oder unbewußt, von der Gloriole dieses Worts etwas abzuleiten auf das eigene Haupt.

Auch etwa das Wort "Pazifismus", und die Inanspruchnahme pazifistischer Tradition, ist für das, worum es denen geht, die das Wort heute gebrauchen eigentlich irreführend und unwahr: Pazifismus als Haltung setzt voraus, daß es solche gibt, die den Krieg für ein legitimes Mitter der Auseinandersetzung halten ("es gibt eben Situationen, da geht es nicht anders"). Diese Meinung war einmal - und so weit braucht man da nicht zurückzugehen - die der überwiegenden Mehrheit; ihr gegenüber stann dann die pazifistische Haltung. Heute steht der sogenannten "Friedensbewegung" nicht  diese  Meinung gegenüber, und der Streit geht um anderes: darum nämlich, ob die Rüstung oder Überrüstung Schutz biete, im Sinne der Logik der Abschreckung, gegen den "Krieg", also den Untergang, oder ob sie, umgekehrt, die Gefahr dieses Untergangs vergrößere, ihn recht eigentlich erst herbeiführe.

Diese Beispiele machen einen Tatbestand deutlich, der zur Sprachkritik unausweichlich gehört: wer über Sprache und Sprachgebrauch redet, muß auch über Sachen reden; Sprachkritik impliziert vielfach Parteinahme für oder gegen. Ein anderer Tatbestand ist der: wir sind oft reizbar in sprachlicher Hinsicht gegen etwas, weil wir sachlich dagegen sind. Sprachliche Reizbarkeit ist oft bedingt durch Reizbarkeit gegenüber Sachen und (ganz besonders) Personen.

Ein Hinweis abschließen, zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Sprachkritik. Die Sprachwissenschaft ist eine Disziplin, die sich nicht auszeichnet durch Praxisrelevanz. Sie interessiert sich nicht für die gestaltende Veränderung des Stücks Wirklichkeit, das sie sich zum Gegenstand gesetzt hat. Sie will wissen, was ist. Sie will wissen, was ist, was war, warum etwas ist, warum etwas war, warum etwas wurde, wie es ist. Also die Frage nach dem Wie, aber auch die Frage nach dem Warum.

Im wesentlichen bleibt es eine beschreibende Disziplin. "Sie läßt alles, wie es ist": dieser Satz WITTGENSTEINs, von der Philosophie ( seiner  Philosophie) gesagt, gilt für die Sprachwissenschaft. Übrigens gibt es keinen Anlass, eine Disziplin gering zu schätzen, wenn sie sich beschränkt auf die Beschreibung dessen, was ist. Zu erkennen was ist, im Blick auf einen soch wichtigen Gegenstand wie die Sprache des Menschen - die Sprache ist ja, nach einer alten Kunde, was ihn zum Menschen macht, seine spezifische Differenz -, ist nichts Geringes.

Wie verhält sich die Sprachwissenschaft zur Sprachkritik? Faktisch verhält sie sich gar nicht zu ihr, wenngleich neuerdings ein gewisser Wandel, um nicht zu sagen eine Wende eingetreten ist. "Die Sprachwissenschaft", erklärt 1962 PETER von POLENZ, "hat sich von der Sprachpflege und Sprachkritik ferngehalten, weil sie aus methodologischen Gründen jede subjektive Wertung ihres Forschungsobjekts scheut". Derselbe Sprachwissenschaftler sagt dann aber auch, ein Jahr später: "Fehler und Fehlentwicklungen gibt es in der Sprache ... nicht"; Neuerungen, die sich durchsetzen, entsprächen stets "einem allgemeinen Bedürfnis".

Frage: ist dieser Standpunkt ("was er wirklich ist, das ist vernünftig") nicht auch etwas wie Wertung? Abgesehen davon, daß ja ein "allgemeines Bedürfnis" nicht in jedem Fall berechtigt zu sein braucht. Die apogoletische Tendenz der Sprachwissenschaft im Blick auf die jeweils untersuchte Sprache ist in der Tat bemerkenswert. Es wird immer gerechtfertigt, immer liegt der Sprachwissenschaftler vor seinem Objekt auf den Knien: entweder vom Volksgeist her, oder von der Struktur oder von den Bedürfnissen und dem sozialen Zweck her. Immer kann, was so und so ist, gar nicht anders sein als so und so.

Hier kritisiere ich die Sprachwissenschaft, eben weil sie wertet und sich dies Werten nicht zu Bewußtsein bringt. Die Sprachwissenschaft sollte sagen, was ist. Ihre Frage lautet: wie ist X? Die Sprachkritik stellt diese Frage auch, dann aber die zusätzliche: wie sollte X sein?. Und diese Frage impliziert auch: Wie sollte X nicht sein? Bei der Sprachkritik geht es nicht um das Sein, sondern um Wünschbarkeit. Hier sollten die Dinge, scheint mir, nicht vermischt werden. In der Sprachwissenschaft sollte nicht gewertet, auch nicht im Sinne der Rechtfertigung des jeweils vorliegenden, sondern in der Tat nur beschrieben und erklärt werden.

Der Sprachwissenschaftler sollte - als Sprachwissenschaftler - nicht werten. Im übrigen: nichts gegen Wertung! Es sollte nur der prinzipielle Unterschied zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik nicht verwischt werden. Der Sprachwissenschafler kann ja auch, jedenfalls von seiner Wissenschaft her, keine Kriterien für Bewertung begründen; solche Kriterien sind wissenschaftlich nicht herleitbar. Es geht ja bei der Bewertung um das Wollen. Zudem bestünde die Gefahr einer Täuschung des Außenstehenden: der Sprachwissenschaftler käme bei seinen Wertungen faktisch von außerwissenschaftlichen Voraussetzungen her, eben weil diese Wertungen wissenschaftlich nicht begründbar sind, und träte doch, nach außen hin, mit dem Gewicht des Spezialisten auf. Es stellt sich hier auch das Problem der Redlichkeit. Die sprachkritischen Anmerkungen zum Beispiel, die ich gemacht habe, halte ich zwar für begründet, aber ich darf für sie nicht die Autorität meiner Disziplin in Anspruch nehmen.

Eines jedoch steht außer Zweifel: die Sprachkritik, die notwendig ist, wird um so verläßlicher, umso rationaler sein, je mehr sie durchschaut, was ist. Das Ideal wäre also eine durch die Sprachwissenschaft beratene Sprachkritik. Zutreffende Wertung setzt zutreffende Beschreibung im Sinne einer neutralen Bestandsaufnahme voraus. Zusammenfassend: Die Sprachwissenschaft sollte nicht werten, mehr noch: sie sollte den unterschwelligen Wertungen, die ihr unterlaufen, auf den Leib rücken; andererseits ist Wertung - außerhalb der Sprachwissenschaft - nicht nur nicht unerlaubt, sondern gefordert.

Wir brauchen Sprachkritik. Jeder bewußte Sprachteilhaber ist zu ihr aufgerufen. Jeder sollte sich gegenüber seiner Sprache, gegenüber dem Gebrauch, der von ihr gemacht wird, kritisch verhalten. Und da immer wieder, linguistischerseits, mit dem charakteristischen Unterton von den "selbsternannten Sprachkritikern" die Rede ist, die statt zu reden, wie man halt redet, kritisieren, möchte ich einmal sagen: jeder darf sich selbst - motu proprio - zum Sprachkritiker ernennen!

Freilich muß sich dann seinerseits der Kritiker kritisieren lassen. Schließlich: es geht bei der Sprachkritik - auch dies wird ja oft eingewandt - nicht darum, irgend jemandem Vorschriften zu machen oder irgend etwas zu verbieten. Man kann unter demokratischen Verhältnissen niemandem sprachlich etwas vorschreiben oder verbieten. Aber man kann kritisieren. Gegebenfalls muß man anprangern. Oder, frei nach WITTGENSTEIN: Worüber man nicht schweigen kann, davon muß man sprechen. Wir brauchen für unsere Sprache kritische Sensibilität: Einfühlsamkeit.
LITERATUR - Hans-Martin Gauger, Brauchen wir Sprachkritik?, Jahrbuch 1984 der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache, Marburg 1985