cr-3 
 
FRITZ MAUTHNER
Verstand und Vernunft
I -36

"Der Verstand ist wenigstens ein gefälliger Knecht, die Vernunft ist ein schwatzhaftes altes Weib. Der Verstand ist praktisch. Er sieht im Herbst eine reife Birne an einem Zweig, und alle Umstände lassen ihn zum Schlusse kommen, sie würde sich herunterschütteln lassen. Das ist doch etwas. Dazu braucht's aber auch keiner Sprache und keiner Worte."

Indem LIPPERT GEIGERs Einfall, daß die menschliche Sprache die Ursache der menschlichen Vernunft sei, aufnimmt und gut heißt, zerlegt er den menschlichen Geist oder das Denken in drei Faktoren, als ob das Denken eine Gottheit wäre, die man in eine Dreifaltigkeit auseinanderlegen könnte. Ganz klar ist dem Kulturgeschichtsschreiber sein eigenes Vorgehen freilich nicht. Er glaubt das Denken nur in zwei Vermögen teilen zu müssen, in den Verstand, welcher der Sprache vorausgeht, und in die Vernunft, welche auf die Sprache folgt. So wird ihm die Sprache wieder zu einer Magd der Vernunft, das Produkt der Sprache wird zu ihrem Herrn, etwa so, wie der Fetisch zum Gott derer wird, die den Fetisch erst geschnitzt haben.

Wären wir aber erst tiefer in die Seelen der verschieden sprechenden Völker eingedrungen, so würden wir wissen, daß Sprache und Denken überall identisch ist, daß die Sprache nicht, wie sich das LIPPERT wohl vorstellen muß, eine Art hoher Schule ist, in welcher der Verstand das Doktorat der Vernunft erlangt, daß vielmehr jedes Volk diejenige Form der Erinnerung, welche seine Sprache ihm an die Hand gibt, sein Denken nennt. Es gibt verschiedene Denkgewohnheiten, wie es verschiedene Sprachgewohnheiten gibt. Wenn die Indianer und die Chinesen für unser Hilfszeitwort "sein" kein besonderes Wort haben, so können sie auch unsere Logik nicht haben, in welcher die Copula "ist" eine so entscheidende Rolle spielt, so können sie noch weniger unsere metaphysischen Bücher über das Sein, die Substanz u.s.w. besitzen oder verstehen.

Was man in diesem Zusammenhange Verstand nennt, das ist nur ein Wort für die ungeheure Summe aller der Reflexbewegungen, welche eigentlich schon bei den niedersten Tieren zu beobachten sind. Verstand hat auch die Qualle, die sich auf den Reiz einer Nahrung hin bewegt. Verstand liegt beim Menschen, wie wir seit KANT und nun gar seit HELMHOLTZ genau wissen, nicht nur den Bewegungen, sondern auch schon den Sinneswahrnehmungen zu Grunde, welche die Bewegungen veranlassen. Ohne Verstand können wir weder sehen noch hören. Wir sagen allerdings, es seien unsere verständigen Bewegungen mit Bewußtsein verbunden; wir wissen nur nicht, was Bewußtsein sei. Die genaueste Selbstbeobachtung führt mich zu der Behauptung, daß noch niemals das Bewußtsein bewußt geworden sei. Wir denken im Grunde so instinktiv, wie wir atmen. Und wenn wir uns einmal selbst über die Achseln gucken, wenn wir uns unser Denken zum Bewußtsein zu bringen suchen, so ist das nur, wie wenn wir absichtlich einen tiefen Atemzug tun.

Wir wissen also nicht, wie sich der Verstand bis zur Sprache entwickelt hat, obgleich da sicherlich eine Entwicklung vorliegt; wir wissen noch viel weniger, wodurch sich die Vernunft von der Sprache unterscheiden könne, weil nie und nirgends ein Unterschied beobachtet worden ist.

Besäßen wir eine Sprachgeschichte, die mehr wäre als eine Sammlung philologischer Kuriositäten und eine etymologische Umschau über ein paar hundert Jahre von ein paar Literatursprachen, besäßen wir - was unerreichbar ist - eine ernsthafte Geschichte der menschlichen Sprachen, so hätten wir in ihr auch eine Geschichte des menschlichen Denkens oder vielmehr eine Geschichte der verschiedenen Arten des Volksdenkens. Das Ideal einer solchen Geschichte der Arten des Volksdenkens wäre im Grunde eine Geschichte der menschlichen Seele oder des. menschlichen Gehirns. Vorstellen läßt sich so eine Geschichte, nur leider nicht ausführen. Wie wir auf der Unterlage des Darwinismus eine Entwicklungsgeschichte des Auges haben, angefangen von den pigmentierten Hautstellen bis zu den Augen der Fliege und des Menschen, so könnte besser als bisher eine Geschichte des Gehirns geschrieben werden, angefangen von den Nerven der niedersten Tiere, bis zur Scheidung des Gehirns vom Rückenmark und bis zur Ausbildung der gegenwärtigen Gehirne von Australnegern, Chinesen und Bewohnern der Berliner Wilhelmstraße.

Und so wie bereits Anfänge gemacht sind für eine Geschichte des menschlichen Auges oder wenigstens des Farbensinns in den letzten dreitausend Jahren, so müßten sich auch Anhaltspunkte finden für die Geschichte des Gehirns in historischer Zeit; ja die Notizen über die Geschichte des Farbensinns sind bereits Beiträge für eine solche Geschichte des Gehirns. Wir hätten dann anstatt der Anekdotensammlungen, welche wir Geschichte der Psychologie zu nennen belieben, etwas wie eine Geschichte der Psyche. Freilich dürfte eine solche Geschichte, selbst wenn wir was Rechtes darüber wüßten, nicht gut mit den Schlagworten der gegenwärtigen Psychologie zu schreiben sein. Man müßte diese Geschichte der Seele oder des Gehirns schreiben, ohne auch nur ein einzigesmal Worte wie Verstand oder Vernunft zu gebrauchen. Auch mit dem Bewußtsein wäre nicht viel anzufangen. Wohl aber würde sich eine ideale Geschichte der Sprache gar sehr einer solchen Geschichte der Seele oder des Gehirns nähern. Unsere Sprachkritik möchte gern eine Untersuchung des gegenwärtigen Gehirns oder der gegenwärtigen Seele sein; ein Wissen könnte sie nur bieten, wenn eine Geschichte der Seelen oder der Sprachen vorausgegangen wäre.

Die Aufgabe ist so groß, daß selbst eine vorbereitende und armselige Sammlung von Notizen zur Entwicklungsgeschichte der Sprache, der Seele oder des Gehirns schon dankenswert wäre. Es wäre der erste Beginn einer Wissenschaft vom Menschen. Hat man doch auch erst seit kurzem begonnen, andere menschliche Instinkte historisch zu untersuchen. Wir besitzen erst seit wenigen Jahren, zum nicht geringen Entsetzen der Philister, Untersuchungen über die Geschichte der Scham, über die Geschichte des Gewissens oder der Moral. Besinnen wir uns auf einen allgemeinen Ausdruck für solche im höhern Sinne darwinistische Untersuchungen, so müssen wir armen sprechenden Menschen zu dem Ausdrucke zurückgreifen, den wir soeben abgelehnt haben und das sogenannte Bewußtsein bemühen. In der Scham kommt der Geschlechtstrieb zum Bewußtsein, im Gewissen kommt dem einzelnen die Volkssitte zum Bewußtsein, in der Sprache kommt dem einzelnen die Denkgewohnheit seines Volkes zum Bewußtsein. So wären die historischen Untersuchungen über die Scham und das Gewissen bereits hübsche Beiträge zu einer Geschichte des Menschengehirns in der historischen Zeit.

Es ist eine Tatsache, daß KANT eine Kritik der reinen Vernunft geschrieben hat, ohne sich selber darüber klar zu werden, was Vernunft eigentlich sei. Vernunft kann doch unmöglich - um auf den wichtigsten Punkt nur hinzuweisen - zugleich das Vermögen zu schließen, also logische Tätigkeit, und zugleich, als reine Vernunft, das Vermögen der Erkenntnis  a priori  sein. Die logische Vernunft, die die Kategorien der Erscheinung begrifflich schließt, kann nicht zugleich das Verhältnis zwischen Erscheinung und Ding-an-sich begreifen. KANT definierte den obersten Begriff seiner Untersuchung nur unsicher. Und dabei traf er doch wesentlich ins Schwarze. Er brachte die Vernunft um, wenigstens um ihre metaphysischen Ansprüche; so trifft ein guter Schütze in der Dämmerung sein Ziel, ohne mehr als Konturen zu sehen. Nun hat SCHOPENHAUER diesem Übelstand sehr ordentlich abgeholfen, indem er für Verstand und Vernunft bestimmte Definitionen gab, die dem Sprachgebrauch nicht widersprechen. Bei ihm hatte der Verstand das wichtige Amt, unsere Sinneseindrücke zu deuten, d.h. die gesamte Außenwelt in ihrer Wirkung auf uns und ebenso die Wirkung der Dinge untereinander zu erklären. So fiel dem Verstande nicht nur die Leitung des ganzen alltäglichen Lebens zu, auch alle Erfindungen und Entdeckungen waren seine Sache. Der Mangel an Verstand hieß Dummheit. Und SCHOPENHAUER empfand gar nicht die Ironie, die darin lag, daß starke Vernunft bei kompletter Dummheit möglich war. Denn die Vernunft hatte gar nichts Verständiges zu tun. Ihr Amt ist das begriffliche Denken, also das große chinesische Schattenspiel.

Nun hat SCHOPENHAUER die beiden Begriffe reinlich nach allen Regeln der Logik definiert, so daß wir uns ihrer wie bei mathematischen Spielereien ganz bequem in seinem Sinn bedienen könnten. Er selbst aber hat die Begriffe zu einer Art von mythologischen Wesen gemacht, ohne eine Ahnung davon zu haben. Wer bei griechischen Gottheiten immer gleich an die späteren Atelierschablonen der Griechen denkt, der wird es nicht verstehen, aber es ist doch so : daß auch unsere feinsten Philosophen ganz anthropomorphisch-mythologische Geschöpfe erfinden. Die Nymphe, welche den Bach "personifiziert", und die Dryade, welche das Leben des Baumes schützt, ist um nichts phantastischer als der Verstand, der über die Anwendung der Gesetze der Kausalität wacht, und als die Vernunft, welche sich um den Einzelfall nicht mehr kümmert, und wie ein Statistiker nur mit Begriffen und Formeln arbeitet. Man muß es nur erst einmal fühlen, daß die Philosophen solchen Worten eine Kraft zuschreiben, um sie auf diesem Köhlerglauben nachher immer wieder zu ertappen. Es sieht, modern ausgedrückt, wahrhaftig genau so aus, als ob im menschlichen Gehirn ein besonderes Ressort für Kausalitätsbeziehungen und ein anderes für Begriffe eingerichtet wäre, als ob im Organismus des Gehirns ein Vorstellungsrat und dann wieder ein Rat für Wort- und Begriffsangelegenheiten sein Bureau hätte. Dem entspräche dann in der Anatomie etwa ein Gallenbureau und Gallenrat, ein Speichelbureau und Speichelrat.

In Wirklichkeit dürfte doch die Sache so liegen, daß die Tiere sich ein Organ geschaffen haben, das zu ihrem Nutz und Frommen Reize der Außenwelt kombiniert. Das Aufgußtierchen krampft sich zusammen, wenn es leer ist und vorüberflimmernde Nahrung es reizt, in seiner geduldigen, unsäglich langsamen Art nach ihr zu schnappen; und der gelehrte Astronom schraubt sein Riesenfernrohr etwa kürzer, wenn er um Liebe, Hunger, Eitelkeit willen seinem Kollegen einen Stern wegschnappen will. Die meisten Tiere kommen über so gemeine Verstandestätigkeit nicht hinaus. Die Menschen haben aber ihr Hilfsorgan so perfektioniert, daß es auch Nachwirkungen der Außenreize zu verwerten vermag. Mit Hilfe des Gedächtnisses oder der Sprache wird für eine Unmenge ähnlicher Reize ein Hilfszeichen genommen, ein sogenanntes Wort. Und wenn das Gehirn zu seinem unveränderlichen Zwecke auch noch solche Nebelbilder nötig hat, dann heißt es eben Vernunft. Wird der Inhalt völlig verschwommen, so ist es die höchste Vernunft, z.B. die Ausgangssätze berühmter Philosophien:  cogito ergo sum,  SPINOZAs  causa sui.  Immer findet sich da der reinliche Begriff  Sein  vor.

Der Verstand ist wenigstens ein gefälliger Knecht, die Vernunft ist ein schwatzhaftes altes Weib. Der Verstand ist praktisch. Er sieht im Herbst eine reife Birne an einem Zweig, und alle Umstände lassen ihn zum Schlusse kommen, sie würde sich herunterschütteln lassen. Das ist doch etwas. Dazu braucht's aber auch keiner Sprache und keiner Worte.

Dann kommt aber die Klugseicherin Vernunft und schnattert "Der Baum ist grün". Wahr ist es nicht, denn im Winter ist es "der" Baum nicht, aber es ist ein Urteil. Ferner schnattert die Vernunft: Birnenwachsen nur auf Birnbäumen. Das aber weiß ohne Vernunft und Worte jeder Affe und jeder Hottentottenjunge, und dadurch, daß die Vernunft mit Hilfe von tautologischen Urteilen es schnattert, vermehrt sich die Erkenntnis der Welt auch nicht um ein Atom.

So müßten wir sagen, daß der Verstand ein Knecht ist, die Vernunft aber eine Gans, wenn darin nicht eben auch schon wieder eine unnötige Personifikation läge.

Wie fast bei jedem Worte in dieser Wortkritik, müßte ich auch bei der Betrachtung von Verstand und Vernunft vorausschicken: Es gibt nichts Wirkliches, das dem Begriffe "Verstand" entspräche. Es gibt nichts Wirkliches, das dem Begriffe "Vernunft" entspräche. Und noch weniger gibt es etwas Wirkliches, das in die beiden Wirklichkeiten Verstand und Vernunft zerfiele. Ebensowenig wie es eine Raubtierigkeit gibt und von ihr zwei Unterarten, die Katzigkeit und die Hundigkeit.

Es gibt aber Erscheinungen, welche nach gewissen Ähnlichkeiten und höchst wahrscheinlich auch nach ihrem Stammbaum in Katzenhaftigkeit und Hundigkeit zusammengefaßt worden sind. Und auch die Begriffe Verstand und Vernunft können, wenn auch mit geringerer Brauchbarkeit, auf je zusammengehörende Erscheinungen angewandt werden. Der Sprachgebrauch ist bei solchen ausgelaugten Abstraktionen immer schwer festzustellen; denn Sprachgebrauch ist ja wohl der Gebrauch der Masse, und die Masse denkt sich bei solchen Begriffen gar nichts, noch weniger als die Denker. Nun hat aber SCHOPENHAUER - wie eben erwähnt - Verstand und Vernunft in einer sehr verwendbaren Weise und nach dem Gebrauch der besseren Denker gegeneinander abgegrenzt. Seine Definitionen sollen gelten. Freilich nicht etwa wie Beschreibungen natürlicher Dinge, aber doch wie feste Abmachungen über strittige Grenzgebiete. Danach ist etwa Verstand die Ausdeutung der Sinneseindrücke, das Verstehen der Außenwelt durch die Sinne. Vernunft ist das sogenannte Urteilen und Schließen durch Begriffe, das Spiel der Worte, das sogenannte Denken.

Also möchte ich behaupten, daß die Kultur der Menschheit immer nur durch den Gebrauch des Verstandes weiter gekommen ist, niemals durch Worte, durch Vernunft. Die Entwicklung der Wissenschaften ist nichts weiter als die immer sorgfältigere Anwendung des Verstandes auf die Außenwelt.

Wenn ein Hund oder ein Mensch im schnellen Lauf über einen Graben zu springen hat, so mißt sein Verstand die Entfernung mit ziemlicher Richtigkeit ab; Hund und Mensch kommen über den Graben. Man nennt das: ein Größenverhältnis abschätzen. Wissenschaftlich wäre das mit den Daten des Verstandes unendlich schwer, denn Hund und Mensch haben doch nur die Winkel und Einstellungsgrößen in ihrem optischen Augenapparat als Ausgangspunkt, dazu etwa die Erfahrung über die Größe der Gewächse der Sträucher und Blätter am Graben. Nun arbeitet der Verstand mit derjenigen Exaktheit, die die Erhaltung des Hundes oder des Menschen von ihm verlangt. Sie wollen kein Bein brechen, und derselbe Verstand, der ihnen die Breite des Grabens ausrechnet, läßt sie ihre Muskeln ungefähr mit derjenigen Kraft anspannen, die der Sprung über die und die Breite erfordert. Die Wissenschaft könnte mit dem Meßapparat des Auges heute schon die Breite berechnen, die Hund und Menschen ohne Mathematik finden. Die Kraft der Muskeln für einen bestimmten Sprung könnte die Wissenschaft heute noch nicht auch nur annähernd angeben.

Handelt es sich aber darum, über einen Fluß von tausend Meter Breite eine Eisenbrücke von einem einzigen Bogen und von einer bestimmten Tragfähigkeit zu werfen, so ist es immer noch derselbe Verstand, der über den Graben springen hilft. Und all die angewandten Wissenschaften des Brückenbauers: Geometrie und höhere Mathematik, Mechanik, Chemie und was sonst noch der Brückenbauer nötig hat, und was Jahrtausende gebraucht hat, um, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet, den Balken über den Graben zu legen, das hat schon der Verstand des Urmenschen geleistet, und das leistet jederzeit der Verstand des Hundes, der über einen Graben springt, Und dieser Verstand leistet das nicht etwa symbolisch oder andeutungsweise, sondern vollständig mit Beachtung aller geometrischen, mathematischen, mechanischen und sonst physischen Einzelheiten, und das alles, ohne ein Wort zu denken, ohne ein Wort zu haben.

Ein anderes Beispiel. Es mag eine Zeit gegeben haben, wo die Menschen nicht ahnten, daß das Licht des Tages zur Sonne in irgend einer Beziehung stehe. Und der mag ein großer Entdecker gewesen sein, der eines Tages auf den Einfall kam: "Es wird immer finster, wenn die Sonne untergeht. Vielleicht kommt das Licht von ihr." Ich glaube, dieser Urmensch ist dafür von den Urpfaffen ermordet worden. Aber die Menschen schieden danach nicht etwa den heute angenommenen Umlaufstag von 24 Stunden sie schieden ihre Lebenszeit in Abschnitte von Tag und Nacht. Und sie haben gewiß geglaubt, Tag und Nacht seien von gleicher Länge. Für mich wenigstens haben die Ausdrücke lange und kurze Abende etwas, was an solche Uranschauung erinnert. Das war also der Anfang der Astronomie. Heute besitzt man auf Tabellen verzeichnet - kennen tut sie keiner der Gelehrten - mehr Fixsterne mit ihrer ganzen Statistik, als die verlegene Wissenschaft bequem verzeichnen kann. Die Astronomen sind heute so weit, daß sie einzelne Formationen auf der Oberfläche des Mars beobachtet haben, und daß sie genau wissen, wie hoch die Feuerbrunnen auf der Sonne springen.

Auch für die Kultur der Menschheit ist dieser Fortschritt der Wissenschaft etwas dienlich gewesen. Die Kapitäne können mit ihren verbesserten Instrumenten besser peilen, und die mitteleuropäische Zeit gestattet den Bürgermeistern der großen Städte, noch regelmäßiger als sonst zu Mittag zu essen. Von den Segnungen des Metermaßes ganz abzusehen. Nun ist es aber genau derselbe Verstand, der einstens Tag und Nachtunterschied, der nachher genauer zusah, sein Verfahren verbesserte und endlich die Abteilung dieser Erfahrungsvorräte unter der Filialfirma Astronomie aufgetan hat. Diese ganze Wissenschaft ist natürlich in Worten niedergelegt. Man achte aber wohl darauf, daß jede einzelne Entdeckung jedesmal und jederzeit wortlos entdeckt, wortlos erblickt worden ist. Wie jemand, der ein Meteor sieht, die Leute zusammenruft und es ihnen erzählt, seinen Schrecken beschreibt und Hungersnot prophezeit. Das überflüssige und Sinnlose faßt er in Worte. Als er das Neue sah, hat er das Maul gehalten.

Wir können nicht genau definieren, was wir uns unter dem Denken denken. Eben darum nicht, weil hier das Werkzeug zugleich die Arbeit wäre. Unser Denken ist das unfaßbare Mittelglied zwischen unseren Wahrnehmungen und unserem Handeln. Wo es nicht derart von der Wirklichkeit zur Tätigkeit, also vom Sein zum Werden führt, ist es immer ein Spiel. Das geistreichste Spiel ist die Philosophie. Da das Denken nun, objektiv genommen, ohne Zweifel ein materieller Vorgang ist, so können wir es in seiner geheimnisvollen Art den zukunftsschwangeren Zuständen gleichstellen, in denen auch andere Dinge als das Gehirn die Kraft sammeln, anders zu werden, als sie sind. Bildlich könnte man allem jederzeit und überall Denken zuschreiben, da alles unaufhörlich anders wird. Am deutlichsten zeigt es sich in chemischen Prozessen, oder in der Erregung von Elektrizität. Da muß es einen noch so kurzen Zeitabschnitt geben, in welchem Schwefel und Quecksilber nach festen Gesetzen (der chemischen Logik) den Plan bauen, Zinnober zu werden, in welchem die Berührung von Metallen die Spannung erzeugt, welche sich in elektrischer Kraft löst. Ebenso in den biologischen Molekülen.

Nun arbeitet unser Gehirn in solcher Weise auch direkt aus der Wirklichkeit heraus. Wir pflegen es nicht Denken zu nennen, wenn das Kind von wenigen Tagen die Nerven und Muskeln noch so kompliziert einsetzt, um an der Mutterbrust zu saugen, oder wenn der Soldat die Apparate seines Auges und seiner Finger, dazu schließlich seines ganzen Körpers kunstgerecht einstellt, um einen wohlzgezielten Schuß abzufeuern. Wir nennen Denken gewöhnlich das Zielen aus der Erinnerung, d.h. wenn wir nicht aus der unmittelbaren Gegenwart in die Zukunft hinüber wollen, sondern aus der haftenden Vergangenheit. Populär ausgedrückt: Wir nennen es denken, wenn wir aus Erinnerungsbildern, d.h. Begriffen, d.h. aus Worten unsere Schlüsse ziehen, d.h. Beschlüsse fassen. Von unseren Wahrnehmungen zu unseren Willensvorbereitungen zieht sich ein Netz von feinen Fäden, vielleicht von unsichtbaren Richtungsfäden. Die Knotenpunkte dieses Schienennetzes müssen die Worte sein.

Die Logik will nun durchaus diese Knotenpunkte nach Größe, Lage und Form mathematisch analysieren. Sie gibt zu, daß unser natürliches Denken mit unklaren, unbestimmten und subjektiven Worten arbeitet. Sie strebt darum seit Jahrtausenden einem Denken mit mathematisch gemessenen Worten zu, die sie Begriffe nennt. Ein solches unnatürliches oder übernatürlichen Denken findet sich nicht in der Welt der Wirklichkeiten. Wir haben keine anderen Begriffe als unsere armen Worte; diese sind wohl von Geschlecht zu Geschlecht feiner und schärfer geschliffen worden, reine Begriffe werden sie nie werden. Und selbst das Verdienst der Verfeinerung gebührt nur den vielen Formen der Anschauung, nicht der Logik, welche bloß das Register der Verfeinerungen führt. Die Logik ist darum keine Wissenschaft, denn ihr Gegenstand, die Begriffe, ist nur ein Ideal. Sie ist aber auch keine Kunstlehre, denn sie kann den Denkkünstler nichts lehren. Man wollte sie denn auf eine Stufe stellen mit der Schreiberei über andere Künste, die auch nur ordnet, klassifiziert und betitelt, was etwa die Augen der Maler gesehen und ihre Hände geschaffen haben.

Der Mensch versucht mit Hilfe der Sprache Gedanken zu jagen, wie er mit Hilfe der Hunde Hasen jagt. Nur daß bei der Gedankenjagd ein Kinderspiel getrieben wird. An einer Stelle sind ja auch beim Kinderspielzeug Hase und Hund hintereinander befestigt. So auch haftet fest aneinander Wort und Begriff . Und so oft man auch die Kurbel drehen mag, immer jagt hinter dem Hasen der Hund, hinter dem Begriff das Wort, immer gleich nahe, immer gleich weit. Und ein vorlauter und loser Kopf müßte erkennen, daß, man auch sagen könnte: Der Hase ist hinter dem Hunde her, der Gedanke hinter der Sprache.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906