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ALFRED LIEDE
Fritz Mauthner -
Sprachskepsis und Mystik


"Die Tiere empfinden dieses Viechsglück. Auch die Instinktmenschen, die ein Herdenleben führen, bei denen die Sprache und das Denken nicht über das Verabreden von Herdenhandlungen hinausgekommen ist."

In MAUTHNERs Kritik der Sprache vollendet sich die Sprachskepsis. Wir tun gut daran, uns diesen Denker genauer anzusehen, denn seine Kritik ist ein Ausgangspunkt für jede Betrachtung moderner Unsinnspoesie. Die Literaturgeschichtsschreibung hat ihn bis jetzt nicht beachtet, sein Name fehlt in den allgemeinen Übersichten und in Einzeluntersuchungen wie PRESSERs "Wort im Urteil der Dichter". Als Jude wurde er nach 1933 totgeschwiegen, doch hat diese Stille noch einen tiefem Grund. Seine Skepsis ist von einer solch eisernen Konsequenz, daß der Literaturwissenschaftler, der schließlich nicht nur Worthändler, sondern auch Wortgläubiger ist, nichts mit ihr zu tun haben will. MAUTHNERs philologische und philosophische Sprachkritik beruht auf einem eindeutig dichterischen Erleben der Sprache, er leidet an ihr wie ein Dichter. Seine eigenen Dichtungen freilich, die er nie für mehr als bloße Schriftstellereien gehalten hat und für die er nur in besonders umfangreichen Literaturgeschichten unter die "österreichischen Realisten" eingereiht wird, stehen - mit Ausnahme eines Werks - damit in keinem Zusammenhang.

Über MAUTHNERs Spracherlebnis sind wir aufs genaueste unterrichtet, denn er hat in seiner absoluten Ehrlichkeit den Ursprung keines einzigen seiner Gedanken verschwiegen. Ausgangspunkt ist seine Herkunft:
"Ich verstehe es gar nicht, wenn ein Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprachforschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals ... genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen. Deutsch als die Sprache der Beamten, der Bildung, der Dichtung und seines Umgangs; Tschechisch als die Sprache der Bauern und der Dienstmädchen, als die historische Sprache des glorreichen Königreichs Böhmen; ein bißchen Hebräisch als die heilige Sprache des Alten Testaments und als die Grundlage für das Mauscheldeutsch, welches er von Trödeljuden, aber gelegentlich auch von ganz gut gekleideten jüdischen Kaufleuten seines Umgangs oder gar seiner Verwandtschaft sprechen hörte."
Er trägt "die Leicben dreier Sprachen" mit sih herum, zudem sprechen die Deutschböhmen eine arme Papiersprache:
"Ich weiß, daß ich mit dieser Klage jedem Gegner meiner Schriften eine Waffe in die Hand gebe. Ich muß es dennoch sagen: ich besitze in meinem innern Sprachleben nicht die Kraft und die Schönheit einer Mundart. Und wenn mir jemand zuriefe: ohne Mundart sei man nicht im Besitze einer eigentlichen Muttersprache - so könnte ich vielleicht heute noch aufheulen, wie in meiner Jugend, aber ich könnte ihn nicht Lügen strafen."
Wir können das Glück, das ihn umfing, als er zum erstenmal eine lebende deutsche Mundart hörte, kaum mehr nachfühlen. "Ich fragte oft die kleinsten Kinder nach dem Weg, nur um eine deutsche Antwort aus ihnen herauszulocken." Nur aus einer solchen Liebe zur Sprache konnte eine radikale Sprachkritik hervorgehen. Diese selbst beginnt mit einem beinahe mystischen Erlebnis. Auf einem anstrengenden Marsch überfällt MAUTHNER "plötzlich der Sprachschreck ein Schrecken über das absurde Ungeheuer der Sprache". GOETHEs Faust gibt den Anstoß, denn der Erzphilister Wagner "glaubt an Wortfetische wie Herz und Geist, glaubt an die Möglichkeit der Erkenntnis, glaubt an einen Fortschritt der Menschheit". Wie vom Blitz getroffen erkennt er, daß die Sprache die Wurzel alles menschlichen Leidens und Unglücks ist, und schreibt seine Gedanken als eine Dichtung nieder:
Ohne jede Vorarbeit, wie man ein lyrisches Gedicht niederschreibt, so setzte ich mich eines Tages hin, um wie mit einem wilden Anlauf die Ideen, die mich bedrängten, für mich selbst zu gestalten und so im Grunde erst zu erfahren, was in mir denken wollte. Einige Wochen lang arbeitete ich Tag und Nacht an dieser ersten Fassung meiner Sprachkritik, leidenschaftlich und mit dem Bewußtsein, Unerhörtes zu sagen. Das Manuskript war nicht mehr ganz klein, als mir das Bedürfnis kam, mich mit der Lehre KANTs auseinanderzusetzen. Da wurde es mir plötzlich klar, daß mir die allermeisten Vorkenntnisse für meine Arbeit fehlten ...

Auf das Hochgefühl, mit dem ich wochenlang meinen Gedankengang hinausgebraust hatte, folgte eine geistige Verzweiflung, in welcher ich zwischen ganz gemeinen Räuschen und Selbstmordplänen hin und her schwankte. Da half mir wieder die seit meiner Erkrankung bestehende Überzeugung mich wäre ein Todeskandidat. Ich warf das wüste Manuskript ins Feuer und faßte feierlich den Entschluß, an eine dichterische Tätigkeit überhaupt nicht mehr zu denken, ebensowenig wie an die Wiederaufnahme der Rechtsstudien, dagegen die kurze oder längere Zeit, die ich noch zu leben hatte, Erkenntnistheorie und Sprachwissenschaft zu studieren, um mir zu einiger Deutlichkeit über die rebellischen Ideen zu verhelfen, die mich bedrängten ... Nach dem Frondienst der Tagesarbeit gehörte fast jede halbe Nacht meinen Studien. Das Doppelleben führte ich, unerbittlich gegen mich selbst, bis zu Ende durch; zwanzig Jahre lang dauerte die Vorarbeit zu meinem sprachkritischen Werke und während dieser ganzen Zeit habe ich fast keiner menschlichen Seele verraten, daß mich noch etwas ganz anderes beschäftigte als meine Romane und meine Zeitungsaufsätze.
Ein Gedanke hat sich seiner Seele bemächtigt, bei dessen Entbindung dann - wie sein offener Brief an HARDENs "Zukunft" erklärt - zwei Bücher und eine Persönlichkeit entscheidend mithalfen? OTTO LUDWIGs  Shakespeare-Studien,  die ihm die Verkündigung einer neuen Zeit waren, befreiten ihn "vom Wortaberglauben an die  schöne Sprache  des Dichters". LUDWIGs Kritik "Schönheit der Sprache am unrechten Ort wird zum Fehler und damit zur Unschönheit“ führte ihn vom dichterischen Nationalheiligen, dem wortgläubigen SCHILLER, weg zu GOETHE. Diesen "Sprachbeherrscher ohnegleichen begleitete von der Jugend bis ins höchste Alter ein Mißtrauen - um nicht zu sagen, ein Haß - gegen die Sprache. Ein solcher Haß gegen das beste Mittel des eigenen Schaffens ist immer aus Liebe geboren ... GOETHE nannte sich einmal selbst den Todfeind von Wortschällen. ". Das zweite Buch war NIETZSCHEs zweite Unzeitgemäße Betrachtung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. NIETZSCHE, den MAUTHNER einen großen Philosophen "vielleicht nur sub specie decennii" [jahrzehnteweise betrachtet - wp] nennt, befreit ihn vom wortabergläubischen Historismus.
Wer kann sagen, ob schon damals oder erst später durch das furchtbare Buch STIRNERs oder schon früher durch Betrachtungen über die Sprache als Kunstmittel der traurigste Gedanke der Sprachkritik sich festwurzelte, daß die Sprache als Summe der menschlichen Erinnerungen jeden einzelnen Menschen zwingt, beim Denken oder Sprechen die Leichen der Vergangenheit mit sich herumzutragen, daß er diese Leichen oder Gespenster nur mit dem Denken oder Sprechen selbst von sich werfen kann, wie seinen Körper nur mit seinem Leben.. Was wir so stolz Weltanschauung nennen, ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Sprache, die ererbte und erworbene Erinnerung an die Daten unserer Zufallssinne.
In BISMARCK schließlich fand der fanatisch nationale Deutschböhme aus Prag einen Helden der Realpolitik, der ihn vom politischen und juristischen Wortaberglauben erlöste. Er versteht "das Lachen BISMARCKs über die Wortmachereien der Parlamente, der Bezirksvereine und der regierenden Herren. Der Mann der Tat verhöhnte die Schreiber als Menschen, die ihren Beruf verfehlt hätten, Handeln ist Beruf. "MAUTHNERs Erinnerungen schließen in Variierung des Erasmus-Wortes über SOKRATES: "Sancte BISMARCK, magister Germaniae, ora pronobis." Am Festredner der offiziellen Wissenschaft, DUBOIS-REYMOND, steigert sich "eine nach BISMARCK geschulte Rednerverachtung zum fruchtbaren Worthaß". MAUTHNERs heimliche Arbeit an der Kritik der Sprache fällt in seine Berliner Zeit, wo er der einflußreichste Theaterkritiker ist und dem Neunundzwanzigjährigen mit seinen Parodien auf die literarischen Zeitgenossen AUERBACH, FREYTAG, SPIELHAGEN, EBERS, SCHEFFEL usw. in "Nach berühmten Mustern" der größte buchhändlerische Erfolg dieser Jahre zuteil wird. Wie die Aufsatzsammlungen zeigen, stehen viele seiner Feuilletons über dem Niveau der Tagesschriftstellerei. Was er über literarische Moden, den landläufigen Idealismus, das Virtuosentum in der Literatur oder "Reisende in Dichtkunst" schreibt, ist trotz dem verblichenen Gewand noch heute aktuell, ebenso sind es seine kritischen Studien, die Polemik gegen den Mißbrauch GOETHEs durch DUBOIS-REYMOND und von LOEPER in "Wagner über Faust", die Liebe zu GOTTFRIED KELLER, den er neben GOETHE stellt und in dessen Lob er auch den "Martin Salander" einschließt. Seine Kritik an ZOLA ist für die Blütezeit des Naturalismus erstaunlich. Daneben schreibt er Satiren gegen das Zeitungswesen und den Journalismus. Er gibt bedenkenlos die Mitarbeit an Blättern auf, wenn er gegen die Ängstlichkeit der Herausgeber kämpfen muß, und opfert dem Widerwillen gegen die neue Scheinrenaissance mit ihren toten Symbolen selbst das Wohlwollen THEODOR MOMMSENs. Er ist auch als Journalist keine Durchschnittsfigur. Mitten im Ruhm verläßt er jedoch Berlin und läßt sich in Freiburg nieder. Dort und später im "Glaserhäusl" bei Meersburg entstehen seine drei umfangreichen Werke: 1901 die "Beträge zu einer Kritik der Sprache", 1910/11 das "Wörterbuch der Philosophie" und 1920/23 "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande", dessen letzter Band im Todesjahr des 74jährigen "Buddhas vom Bodensee" erscheint. Ein Zug sei aus seinem Leben noch herausgehoben: Auf seinen Wunsch unterbleibt die Ausgabe des schon gesetzten ersten Teils der "Erinnerungen" (Prager Jugendjahre) wegen des Ausbruchs des ersten Weltkriegs, nur aus Vertragspflicht erscheinen diese dann nach dem Krieg, auf einen zweiten Teil verzichtet er ganz.
"Der Tod war über die Menschheit gekommen, das Leben eines einzelnen alten Stubenhockers bedeutet wenig mehr, noch weniger die Geschichte eines solchen Lebens."
Wir greifen einige Abschnitte aus den "Beiträgen zu einer Kritik der Sprache" heraus, die uns für die Entwicklung der Unsinnspoesie wichtig scheinen. Ihr erster Band ist dem Wesen der Sprache und der Psychologie gewidmet. "Eine neue kleine Veränderung" will MAUTHNER mit der Sprachkritik "dem Gesellschaftsspiel des Wissens hinzufügen, eine neue kleine Spielregel. Sie ist das Nichtigste von allem Nichtigen, sie ist der dem Spiele entfremdete Traum eines schlechten Mitspielers". Dann aber regnet es Hiebe. Die Sprache macht den Menschen einsam:
Trotzdem rühmt eine ewig wiedergekäute Lehre an der Sprache, daß sie den Menschen verbinde. Und noch ist der Jammerruf nicht erklungen, daß alles Elend der Einsamkeit nur von der menschlichen Sprache kommt.

Nur in der Herde ist Wohlsein. Nur im Herdenleben ist die stumme Überzeugung, daß alles, was geschieht, so und nicht anders am besten geschieht. Wir nennen diesen Zustand dumpfen Glücks den Instinkt. Die Tiere empfinden dieses Viechsglück. Auch die Instinktmenschen, die ein Herdenleben führen, bei denen die Sprache und das Denken nicht über das Verabreden von Herdenhandlungen hinausgekommen ist. Ob so eine Herde Menschen sich einmütig vor dem gemeinsamen Götzen auf die Knie wirft, ob die Weibchen der Herde einmütig den gleichen Cape über ihre flachen Schultern werfen, ob die Männchen mit dem gleichen Hurraruf in den Krieg ziehen oder ob sie alle zur gleichen Stunde äsen, wiederkäuen und zur Tränke gehen, ist ein unbewußtes Viechsglück.

Bei wem aber die Sprache sich so weit differenziert hat, daß er die Kommandorufe des Instinkts anders versteht als die Herde, daß ihm ihr Götze nicht Gott ist, daß er sich von den wattierten Schultern des Cape nicht täuschen läßt, daß er den Hurraruf des Feindes versteht und nicht mittut, daß er dann frißt, wenn er selber hungert, und dann erst Mittag schlagen hört, der ist einsam geworden durch die Sprache und hat als letzten Trost nur sein Lachen über das Blöken der Herde. Die blökende Herde aber hat vollkommen recht, wenn sie seine Sprache für irr erklärt. Irr ist, wer sich von der Herde und ihrer Tränke entfernt, verirrt hat.

Die Herdensprache ist so wenig Gegenstand der Kritik wie das Zwitschern der Vögel. Sie steht unter der Kritik. Sie verbindet die Menschen nicht, aber sie ist ein Zeichen der Verbindung. Zu dieser Herdensprache gehört der Glockenklang, der zur Kirche ruft, die Trommel im Felde und der Gong, der im Hotel die Dinerstunde anzeigt. Irre wird auch die Sprache erst, wenn sie sich nicht mehr damit begnügen will, zwischen den Menschen zu sein, ihre Notdurft stöhnend zu begleiten, wenn sie über den Menschen, von Menschennotdurft gelöst, überreizten, geistigen Bedürfnissen dienen will.

Wie der Ozean zwischen den Kontinenten, so bewegt sich die Sprache zwischen den einzelnen Menschen. Der Ozean verbindet die Länder, so sagt man, weil ab und zu ein Schiff herüber- und hinüberfährt und landet, wenn es nicht vorher versunken ist. Das Wasser trennt, und nur die Flutwelle, die von fremden Gewalten emporgehoben wird, schlägt bald da, bald dort an das fremde Gestade und wirft Tang und Kies heraus. Nur das Gemeine trägt so die Sprache von einem zum andern. Mitten inne, wenn es rauscht und stürmt und hohler Gischt zum Himmel spritzt, wohnen fern von allen Menschenländern Poesie und Seekrankheit dicht beisammen .
Die Sprache übt als soziale Macht eine unerträgliche Tyrannei über die Gedanken des einzelnen aus; darauf hat schon STIRNER hingewiesen:
"Die Sprache oder  das Wort  tyrannisirt Uns am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen Uns aufführt."
MAUTHNER geht noch weiter:
Was in uns denkt, das ist die Sprache; was in uns dichtet, das ist die Sprache. Die Empfindung, die oft in Worte gebracht worden ist:  Nicht ich denke; es denkt in mir -,  die Empfindung des Zwangs ist einfach richtig.

Die Macht der Worte über das einzelne menschliche Gehirn ist erst im langen Verlaufe der sogenannten Entwicklung zu der übergroßen Ausdehnung gediehen, die wir in historischer Zeit beobachten können. In seinem tierähnlichen Stande hätte der Mensch diese Macht wie eine Krankheit empfunden, wie eine epidemische Krankheit, die in der Menschheit die Anlage zur Sprache zurückließ.
Die Tyrannei der Worte nimmt zu, je mehr diese altern. Das Wort, in einer ersten Periode von dichterischen Köpfen als Metapher symbolisch aufgestellt, wird in der zweiten Periode zum Philister:
Es wird etwas Hergebrachtes. Niemand zweifelt daran, weil eigentlich niemand daran glaubt. In der dritten Periode ist das Wort vom Philisterium so ausgelaugt, es ist so strohern geworden, daß es jetzt Philosophie heißt. Das einstige Symbol war zum Spiele gut, jetzt wird das Wort wörtlich genommen. Man hat seinen Sinn verloren und nimmt es darum sinnlos ernst. Als ob die Frau eines Mathematikers die Ziffern einer von ihm notierten Formel für eine Marktrechnung hielte. Oder als ob heutige Pfaffen über die Dreieinigkeit stritten.
Die Sprache ist kein Instrument der Erkenntnis.
"Die Sprache ist kein geeignetes Werkzeug zum Erfassen der Natur, weil weder die Sprache noch die Natur stille halten, ewig jagt das kreisende Wort hinter der kreisenden Wirklichkeit her und kann sie nicht einholen." Die Einsicht, daß die Sprache wertlos sei für jedes höhere Streben nach Erkenntnis, würde uns nur vorsichtiger in ihrem Gebrauche machen. Zum Hasse, zum höhnischen Lachen bringt uns die Sprache durch die ihr innewohnende Frechheit. Sie hat uns frech verraten; jetzt kennen wir sie. Und in den lichten Augenblicken dieser furchtbaren Einsicht toben wir gegen die Sprache wie gegen den nächsten Menschen der uns um unseren Glauben, um unsere Liebe, um unsere Hoffnung betrogen hat.

Die Sprache ist die Peitsche, mit der die Menschen sich gegenseitig zur Arbeit peitschen. Jeder ist Fronvogt und jeder Fronknecht. Wer die Peitsche nicht führen und unter ihren Hieben nicht schreien will, der heißt ein stummer Hund und Verbrecher und wird beiseite geschafft. Die Sprache ist der Ziehhund, der die große Trommel in der Musikbande des Menschenheeres zieht. Die Sprache ist der Hundsaffe, der Prostituierte, der mißbraucht wird für die drei großen Begierden des Menschen, der sich brüllend vor den Pflug spannt als Arbeiter für den Hunger, der sich und seine Familie verkauft als Kuppler für die Liebe, und der sich in all seiner Scheußlichkeit verhöhnen läßt als Folie für die Eitelkeit, und der schließlich noch der Luxusbegierde dient und als Zirkusaffe seine Sprünge macht, damit der Affe einen Apfel kriege und eine Kußhand und damit er selbst Künstler heiße.

Die Sprache ist die große Lehrmeisterin zum Laster. Die Sprache hat die Menschheit emporgeführt bis zu der Galgenhöhe von Babylon, Paris, London und Berlin, die Sprache ist die Teufelin, die der Menschheit das Herz genommen hat und Früchte vom Baum der Erkenntnis dafür versprochen. Das Herz hat die Sprache gefressen wie eine Krebskrankheit, aber statt der Erkenntnis hat sie dem Menschen nichts geschenkt als Worte zu den Dingen, Etiketten zu leeren Flaschen, schallende Backpfeifen als Antwort auf die ewige Klage, wie andere Lehrer andere Kinder durch Schlagen zum Schweigen bringen. Erkenntnis haben die Gespenster aus dem Paradies der Menschheit versprochen, als sie die Sprache lehrten. Die Sprache hat die Menschheit aus dem Paradies vertrieben.

Hätte die Menschheit aber die Sprache lieber den Affen oder den Läusen geschenkt, so hätten die die Affen oder die Läuse daran zu tragen, und wir wären nicht allein krank, vergiftet in der ungeheuren sprachlosen, heilen Natur. Wir wären dann Tiere, wie wir es hochmütig nennen in unserer protzigen Menschensprache, oder wir wären Götter, wie wir es empfinden, wenn ein Blitz uns verstummen macht oder sonst ein Wunder der sprachlosen Natur.
Sprachkritik ist also immer Erkenntniskritik:
Für das irdische Wirtshaus natürlich, für das Mitteilungsbedürfnis ist sie [die Sprache] ja brauchbar, für das Schwatzvergnügen der Wirtshausgäste und für die Zurufe an den Speiseträger. Da kommt man mit der Sprache recht weit. Mit falschen Karten, falschen Beobachtungen und falschen Ziffern kommt Kolumbus bis nach Amerika und hat es entdeckt, weil er es für Indien hielt. Aber Welterkenntnis und die arme Menschensprache! Wesentlich falsch ist unser Gedächtnis, dessen stärkste Erscheinungsform unsere Sprache ist. Wesentlich falsch ist also unsere Sprache, und wenn wir uns jetzt erinnern, daß auch die Grundlagen unseres Gedächtnisses, die Daten unserer Sinne, wesentlich, ihrem Wesen nach Sinnestäuschungen sind, dann hören wir wohl allen Glauben an eine Welterkenntnis krachend lachend Zusammenstürzen.
Die meisten unserer Assoziationen sind Gedächtnisverbindungen von Worten; an ihnen hängt unser Denken, ob wir geistreiche Menschen oder Gelehrte sind. Den geistreichen Menschen haßt MAUTHNER besonders, denn der Geistreiche ist ein Worttrödler:
Der geistreiche Mensch kann zufällig auch klug oder stark oder gut sein, oder das und jenes zugleich. Und er kann dadurch ein bedeutender Mensch werden. Geistreich allein jedoch kann jeder Narr sein. Ja, zur Zeit, da es Narren von Beruf gab, waren  Narr  und  geistreich  synonym ... Geistreich ist, wer reich an bereiten Begriffen ist, an bereiten Worten. Geistreich ist wortreich. Nur daß der träge Kopf, wenn er wortreich ist, Synonyme häuft, der lebhafte, wortreiche Kopf aber zwischen heterogenen Begriffen umherspringt. Ist der geistreiche Mensch geradezu dumm, so spricht er witzig. Wippchen ist witzig. Sein Witz heißt verächtlich Wortwitz, nur daß der witzige Dummkopf zunächst auf den Klang der Worte hört und sie nach dem Klange spielend verbindet. Der Geistreiche aber verbindet sie nach dem Gesetz der Tautologie und freut sich nebenbei an dem Spiel des Gleichklangs. Ist der geistreiche Mensch wenig gegenständlich, so hängt er seine Antithesen und Assonanzen um eine alte Fabel herum und wird dann vielleicht ein Dichter, wie SCHILLER einer war. Ist er ein abgründiger Pedant, so hängt er sie um einen alten Lehrsatz und heißt ein systematischer Philosoph, wie HEGEL einer war.
Das Denken des Menschen ist Ideenassoziation, Gedächtnis und Sprache. "wir geben Worte wie Banknoten aus und stellen uns dabei gar nicht die Frage, ob dem Werte der Note im Schatze ein materiell greifbares Unterpfand entspricht."
Wenn wir wachen, so orientieren wir uns an unsern Worten innerhalb unserer gemeinen Interessen. Jenseits dieser Interessen sind die Worte nichts weiter als Träume, weil die Worte allesamt Metaphern sind, Bilder, in denen unsere Vorstellungen wie Mücken durcheinanderschwärmen. Wenn wir einen Ton hoch nennen, so ist uns das Bild so geläufig, daß wir glauben, uns etwas dabei zu denken; aber im Altertum hat man die hohen Töne tief genannt und auch geglaubt, sich etwas dabei zu denken ... So ist die Sprache der ewige Traum der Menschheit, den wir für bedeutungsvoll halten, weil er bei jedem Erwachen wiederkehrt und die gleichen Bilder vorführt ...
"Die Sprache ist das Traumbuch der armen wortgläubigen Menschheit." MAUTHNER betont nachdrücklich, daß seine Sprachkritik nichts mit sentimentaler Klage über das Ungenügen der Sprache zu tun habe, nichts mit Geringschätzung der Sprache aus deren Überschätzung, mit gefühlvoller Sehnsucht nach einer unmittelbaren Seelensprache im Sinne von SCHILLERs "Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr." In einer packenden Analyse aus radikaler Skepsis zerlegt MAUTHNER die innersten Wurzeln der Sprache. Der zweite Band der Beiträge wirft einen kritischen Blick auf die Sprachwissenschaft. Seine Ideen muten oft äußerst modern an, z.B. die Kritik an den Methoden der historischen Sprachwissenschaft, an der sprachwissenschaftlichen Ethnologie - die er mit der Parodie vom Urrasiermesser ad absurdum führt -, seine Kritik an den Ursprungs- und Verwandtschaftstheorien und den aus ihnen erschlossenen Völkerwanderungen, die in den meisten Fällen wohl nur Wortwanderungen seien usw.

Ähnlich springt der dritte Band mit Logik und Grammatik um. MAUTHNER bleibt sich stets bewußt, daß er Sprachkritik mit Hilfe der Sprache treibt, daß er "nach dem Beispiel des weisen Münchhausen um den Baum der Erkenntnis so lange und so schnell herumlaufen muß, "bis er sich selbst beim Schopfe zu fassen kriegt ".
Wir müssen nur wissen, daß die tiefsinnigste Sprache nur das Stammeln eines Kindes ist. Das wäre freilich die erlösende Tat, wenn Kritik geübt werden könnte mit dem ruhigen verzweifelnden Freitode des Denkens oder Sprechens, wenn nicht Kritik geübt werden müßte mit scheinlebendigen Worten.
Dieser äußerste Skeptizismus führt ihn zu völliger Resignation. Abstrakte Wörter sind für uns zu Gespenstern, zu Göttern geworden; was uns als letzte Ursache ange-geben wird, ist bloßes Wort; "Wille, Empfindung" usw. sind eine Mythologie von Wörtern, selbst die "Wahrheit" ist ein Wortfetisch: "Worte sind Götter; denn Götter sind nur Worte." Auch das Ichgefühl ist eine Täuschung durch die Sprache, ist die Täuschung der Täuschungen.
Ist aber das Ichgefühl, ist die Individualität eine Lebenstäuschung, dann bebt der Boden, auf welchem wir stehen, und die letzte Hoffnung auf eine Spur von Welterkenntnis bricht zusammen. Was wir irgend von der Welt wissen können, war uns zu einer übersichtlichen Summe der vom Individualismus ererbten und erworbenen Erfahrungen zusammengeschmolzen; unsere Kenntnis von der objektiven Welt war zu einem subjektiven Bilde unserer Zufallssinne geworden. Jetzt schwindet auch das Subjekt, es versinkt hinter dem Objekt, und wir sehen keinen Unterschied zwischen dem philosophischen Streben menschlicher Jahrtausende und dem Traumdasein einer Amöbe. Auch der Begriff der Individualität ist zu einer sprachlichen Abstraktion ohne vorstellbaren Inhalt gewor den . . . Nichts als Worte sind im  Ich.
"Wenn Skepsis und Sehnsucht sich begatten, entsteht Mystik." Dieses Wort NIETZSCHEs gilt auch für MAUTHNER. Mit dem Schwinden des Ichgefühls unternimmt er "einen verzweifelten, letzten Versuch, die Geistesbrücke zu schlagen zwischen dem notwendigen erkenntnistheoretisdten Idealismus und dem ebenso notwendigen praktischen Lebensrealismus". In den "Beiträgen zu einer Kritik der Sprache" heißt es noch: "Ich habe mich bemüht, in meinen Darlegungen auch die versteckteste Neigung zur Mystik jedesmal zu unterdrücken, so sehr ich auch für heilige Sonntagsstunden die großen Mystiker lieben mag, die stammelnd beredten  Stummen des Himmels. Aber zu einigen ECKHART-Zitaten gesteht MAUTHNER doch: "Ich meine es kaum viel anders; nur die Sprache ist etwas verschieden, weil sechs Jahrhunderte dazwischen liegen."

Im "Wörterbuch der Philosophie" von 1910/11 ist seine Skepsis zur Mystik durchgebrochen. Zunächst ergänzt das Wörterbuch die Beiträge, indem es einzelne Begriffe und Probleme wie "Assoziationsgesetze", "Denkmaschinen", "Kinderpsychologie", "Universalsprache" etc. sprachkritisch durchleuchtet. Einzelne Artikel sind auch für den Literaturwissenschaftler von besonderem Interesse, so der große Aufsatz über "Humor" mit einer Wort-, Begriffs- und Bedeutungsgeschichte oder die Abschnitte "Poesie" und "schön ", dieser mit einer Obersicht über die Geschichte der Ästhetik. Entscheidend ist für MAUTHNERs Entwicklung jedoch das Kapitel "Mystik". Dieses beginnt mit dem demütigen Bekenntnis: "Heutzutage, wo neben dem äußersten Wissenshochmut der Spezialisten ein Bankerottgefühl der Frommen und der Philosophen steht, werden die Schriften des MEISTERs ECKHART neu herausgegeben ... So werde ich wohl mit meiner fast widerwilligen Liebe zu einigen großen Mystikern (es sind auch ganz ekelhafte Schwätzer und Heuchler unter ihnen) mehr unter dem Einflusse des verzweifelten Zeitgeistes stehen, als mir lieb ist." Das Kapitel endet in einem großen Preislied auf die Mystik, von dem wir hier nur Anfang und Schluß zitieren können:
Die Welt ist nicht zweimal auf der Welt. Es gibt nicht den Gott neben der Welt, es gibt nicht die Welt neben dem Gott. Pantheismus hat man diese Überzeugung genannt, pedantisch wohl auch (um den persönlichen Gott scheinbar zu retten): Panentheismus. Warum nicht? Es sind ja nur Worte. In der höchsten mystischen Ekstase empfindet das Ich, daß es Gott geworden ist. ANGELUS SILESIUS und ECKHARTs Beichtkind KATHREI haben das empfunden. Warum nicht? Soll ich im Worte streiten?

Seit zehn Jahren lehre ich: das Ichgefühl ist eine Täuschung, die Einheit des Individuums ist eine Täuschung. Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen andern Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen, sie unterscheiden sich nicht von mir, ich bin Eins mit ihnen, sie und ich binnen Eins. Sind das bloß philosophische Wortfolgen? Spiele der Sprache? Nein. Was ich erleben kann, ist nicht mehr bloß Sprache. Was ich erleben kann, das ist wirklich. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts mehr weiß vom  principium individuationis,  daß der Unterscheid aufhört zwischen der Welt und mir.  Daß ich Gott geworden bin.  Warum nicht?...

Wer Liebe, Hunger und Eitelkeit nicht mehr kennt, der ist Sonne, Gott, Grashalm. Habe ich dir nicht einmal noch von andern Motiven menschlichen Lebens gesprochen als von diesen drei argen? Nicht vom Wissensdurst und von dem Ruhebedürfnis, der Todessehnsucht? Schweigen jetzt auch die, in der seligen kurzen Stunde der Ekstase?

Sie schweigen beide. Sie werden geschweigt, Du willst ja nichts, gar nichts, nicht einmal wissen willst du mehr. Weil du erfahren hast, daß auch der Unterscheid zwischen dem Wissenden und dem Wißbaren vergangen ist mit dem Unterscheide zwischen dir und der Welt. Du hast erfahren, daß du nicht zum Wissen eingerichtet bist, die Welt nicht zum Gewußtwerden. Ist ja alles nur so ein bißchen herumfahren, wie eine Raupe um ihr Blatt herumfährt. Du hast keinen Durst mehr nach dem bißchen Wissen, das andere Leute getrunken und wieder ausgespien haben: du weißt, daß es ein Wissen der letzten, tiefsten Gründe nicht gibt. Dich dürstet nicht nach der Pfütze.

Und gar das Ruhebedürfnis schweigt, weil du ruhig geworden bist, ganz ruhig, wohl gar tot. Du willst ja nichts. Und wie die doctissima ignorantia dein abgründiges Wissen ist, besser als das ausgespiene Wissen aller Weisen der Vorzeit, so ist deine Ruhe jetzt lebendiger als alle deine Vitalität, dein Tod jetzt lebendiger als all dein früheres Handeln.

Alle Motive des Lebens schweigen in dir. Da. Noch nicht still? Mörder, Räuber! Jetzt erst bemerkst du es, daß du mit jedem Atemzuge Luft schluckest, um dich mit dem Sauerstoffe der Luft zu nähren, der doch so gerne selber leben und Einer sein möchte. Mörder! So willst du noch etwas. So hast du noch nicht getan nach deiner Erkenntnis. So bist du noch nicht ruhig. So bist du gar nicht einmal gut, du Mörder des Sauerstoffs.

LITERATUR - Alfred Liede, Dichtung als Spiel - Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin / New York 1992