Es ist das in der Geschichte der Wissenschaften
ein gar nicht so seltener Fall, daß man die
Umrißlinien, die man sucht, auch findet, - nicht etwa weil sie vorhanden
wären, sondern weil man sie eben gesucht hat. Es liegt das zu tief im
Wesen des menschlichen Verstandes begründet, um nicht vermuten zu lassen,
was niemals Seziermesser
und Mikroskop werden aufweisen können: daß die bloße Richtung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Vergleichspunkt diesen Punkt zum Range
eines Einteilungsgrundes oder gar einer Kategorie erheben kann. Man kann
diese Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes
schreiend deutlich aufzeigen in dem Gedankengang der statistischen Forscher,
welche ihre ungeheuren Ziffermassen je nach der Richtung der Aufmerksamkeit
immer neu gruppieren müssen; und wer einem Statistiker einen noch so widersinnigen
Vorgleichungspunkt (z.B. Zunahme der Eigentumsverbrechen und Zunahme der
kurzsichtigen Schüler) wichtig erscheinen lassen könnte, der hätte ihn
auch gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die Vergleichung zu richten und
eine neue Tatsache zu sehen, so wie alle Welt in einem fernen Gebirgszug
einen Mönch oder einen Löwen sieht, sobald die Aufmerksamkeit auf diese
Ähnlichkeit
gelenkt worden ist. Ähnlich ist am Ende alles;
nur auf den Grad der Ähnlichkeit kommt es an. Ein Karikaturenzeichner
kann mit einer geringen Zahl sehr ähnlicher Bilder aus jedem Ding jedes
Ding machen.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II, Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906