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FRITZ MAUTHNER
Was ist Sprachwissenschaft?
II-01

"Muß das Kind durchaus einen Namen haben, so müßte die Sprachwissenschaft der Kulturgeschichte eingereiht werden."

Wer eine Sprachwissenschaft zu geben verspricht, der vermeint wohl immer, alle Tatsachen innerhalb seines Gebietes gesammelt und geordnet zu haben und demnach die Gesetze der Sprache zu kennen; wer nur kritisieren will, der verspricht nur genau zu beobachten. So kann der Reisende im fremden Land die Sitten des Volkes beschreiben, ohne die Gesetze des fremden Landes zu kennen; kännte er sie, so wäre er nicht viel besser daran, denn die Sitten wären durch die Gesetze nicht erklärt. Eher umgekehrt.

Ich will aber dem deutschen Gebrauche nicht ausweichen, der an die Spitze einer Untersuchung gern eine Darstellung der Hauptbegriffe stellt, ihren Inhalt und Umfang, und für jede Spezialwissenschaft einen abgeschlossenen Kreis beansprucht und wäre das Kämmerchen auch nur ideal durch einen Kreidestrich, einen Federstrich, ein Wort abgegrenzt. Was ist Sprachwissenschaft? Und welche Stelle im System der Wissenschaften nimmt die Sprachwissenschaft ein?

Da habe ich zunächst zu erwidern, daß ich nicht einsehen kann, was in aller Welt Sprachwissenschaft sein sollte, wenn sie nicht Sprachgeschichte wäre. Die Sprachwissenschaft will die sprachlichen, Erscheinungen erklären, das heißt möglichst genau beschreiben. Erkläre einer aber einmal einen Gebrauch anders als durch die Geschichte des Gebrauchs. Diese Art von Erklärung ist die notwendige Ergänzung jeder Beschreibung; wie bei jedem Stücke einer Naturaliensammlung hinzugefügt werden sollte, wo es herkommt.

Der gegenwärtige Gebrauch der Wortformen und Ableitungssilben, die gegenwärtige Bedeutung der Worte und Bildungsformen, die gegenwärtige Syntax, alle Erscheinungen der Sprache sind nur mit Hilfe ihrer Geschichte genau zu beschreiben. Und wenn die Sprachwissenschaft sonach wesentlich Sprachgeschichte sein muß, so kann sie anderseits nicht mehr als das sein, weil all ihr Wissen mit der Erklärung des gegenwärtigen Zustandes erschöpft wäre. Hätte die Sprachwissenschaft wirklich, wie allgemein behauptet wird, Sprachgesetze entdeckt, so wären es eben auch nur Gesetze der Sprachgeschichte, sogenannte historische Gesetze. Die Verwirrung der Begriffe "Geschichte", "Beschreibung" und "Wissenschaft" läßt sich öfter beobachten und verrät eine gewisse Unsicherheit bei den Gelehrten. Heute neigt der gelehrte Sprachgebrauch dazu, unter dem Worte Naturwissenschaft die Gesamtheit aller Naturgeschichte zusammenzufassen, von den Hypothesen über die Weltentstehung, die auf der Astronomie oder der Himmelsbeschreibung beruhen, bis zur Erzählung der durch schriftliche Denkmäler verbürgten Abenteuer der Menschen, welche wirklich allzu unbescheiden Weltgeschichte heißt. Vor wenigen Jahrzehnten noch hieß Naturbeschreibung die Armseligkeit, welche man den kleinsten Schuljungen aus der Naturwissenschaft darbot.

Über die Stellung der Sprachgeschichte ist damit noch nichts entschieden. Es werden die Wissenschaften gern nach den sogenannten Kräften eingeteilt, welche den Erscheinungen des betreffenden Gebietes - ich möchte fast sagen: präsidieren. Danach gibt es eine Mechanik, eine Biologie, eine Soziologie usw. Die Kraft, welche die Veränderungen in einer Menschensprache veranlaßt, ist oft gesucht, aber noch nicht entdeckt worden. Sie ist möglicherweise in Beziehung mit dem berühmten Sprachvermögen. Was ließe sich nicht alles über Kraft und Vermögen zusammenschwatzen! Es ist für die in der Sprachgeschichte tätige Kraft noch nicht einmal etwas von den Gleichmäßigkeiten aufgefunden worden, die man in anderen Wissenschaften ihre Gesetze nennt. Man achte auf diese Hilflosigkeit der Sprachgesetzforscher, die gerne Sprachgesetzgeber sein möchten, jedesmal dann, wenn der Sprachgebrauch noch schwankt, also eine Änderung der Sprache vor unseren Augen und unter unserem Zeugnis vor sich gehen soll. Da überlegen die Forscher zunächst, ob ein Bedürfnis für das neue Wort vorliegt? Ein Narr wartet auf ihre Antwort; denn nicht ihre Entscheidung urteilt über die Bedürfnisfrage, sondern erst, nachdem das neue Wort gesiegt hat oder unterlegen ist, werden sie sich klar darüber, ob sie von einem Bedürfnis reden dürfen oder nicht. Da überlegen die Forscher weiter, ob die Neubildung mit dem Sprachgesetze vereinbar sei? Wieder wartet nur ein Narr auf Antwort; denn die Sprachgesetze sind das Sekundäre, und die Neubildung kümmert sich nicht im geringsten darum, ob durch den kleinsten ihrer Buchstaben der ganze Bau der bisher geltenden Sprachgesetze einen Stoß bekommt oder nicht. Wie die Hebammen um die kreißende Frau, so sitzen die Forscher in solchen Zeiten um die schwangere Sprache herum; sie nähren sich gut und plappern dafür über die Gesetze und die Kraft, die Knaben oder Mädel schafft; ob es aber ein Mädel oder ein Knabe geworden ist, das erfahren sie erst nachher.

Es ist demnach nichts mit der Kraft (Energie), welche den Erscheinungen der Sprache zugrunde liegen soll. Nach ihr kann die Sprachgeschichte nicht in das System der Wissenschaft eingestellt werden. Wir müssen uns also an die Erscheinungen selbst halten. Da müssen wir doch auf den ersten Blick sehen, ob die Erscheinungen der Sprache zur Natur oder zum Geist gehören. Ich möchte gern gegen den Leser und gegen mich großmütig sein -und alle diese Begriffe als wohlbekannt voraussetzen; aber ich kann wirklich von einer leisen Berührung aller dieser abstrakten Dinge nicht absehen. Die Materialisten leugnen den Geist, die Spiritualisten leugnen die Natur; und beide haben recht mit dem, was sie sich etwa bei diesen Worten denken. Es sind langlebige Worte, in welche seit Jahrhunderten jedes Geschlecht gewisse Unklarheiten seiner Weltanschauung hineinwirft. Doch selbst wenn wir definieren könnten, was Natur sei und was Geist, was Naturwissenschaft und was Geisteswissenschaft, was nützte es uns im Einzelfalle? Wollte ich einmal den eben auf das Papier fließenden Punkt über dem i des Wortes Papier ganz genau beschreiben, ganz genau, so weit meine Kenntnis überhaupt reicht, so müßte ich alle Naturgeschichte, von der Astronomie bis zu meinem heutigen Frühstück, alle Geisteswissenschaften, insonderheit die Menschengeschichte, und nicht minder alle Philosophie, soweit ich sie kenne, zusammensuchen und käme damit zu einer leidlichen Beschreibung des Punktes auf dem i. Denn alle Wirkung ist unendlich in Zeit und Raum.

Selbstverständlich wäre der gesamte bisherige Weltlauf ebenso die einzig genaue Erklärung für das kleine Häufchen, welches eben neben mir die Fliege an der Fensterscheibe absetzt. Und wenn ich nicht jedes Geschehnis der Welt so eingehend erklären  müßt,  so  könnte  ich doch, oder so könnte doch eine Gesellschaft von Gelehrten alles jemals von Menschen Gewußte und auf uns Gekommene vollständig und systematisch an den Tintenpunkt über dem i oder an das Pünktchen Fliegendreck knüpfen. Ich gestehe gern, daß dieses System bei großen pädagogischen Vorzügen doch manche Mängel besäße.

Auch die Sprachgeschichte ist doch nur die Gesamtheit der Wirklichkeitswelt, von einem beschränkten Gesichtspunkte aus gesehen. Dazu kommt, daß das Wort Wissenschaft regelmäßig schon eine Abstraktion bezeichnet von zahlreichen Versuchen, einzelne Erscheinungen zu beschreiben oder zu erklären. Was dabei die Wissenschaft ausmacht, das ist die Tatsache, daß zwischen den Erscheinungen Ähnlichkeiten bestehen und darum auch zwischen den Beschreibungen oder Erklärungen. Es handelt sich also in jedem einzelnen Falle um kleinste Erscheinungen der Sprache. Handelt es sich aber nur um die Frage, warum z.B. ein Vokal, der vor 2000 Jahren kurz ausgesprochen wurde, jetzt um den Bruchteil einer Sekunde länger ausgesprochen wird (was man dann Dehnung nennt), so muß die Sprachgeschichte zur Beschreibung alle möglichen Wissenschaften aufs Speziellste bemühen. Zuerst die Physiologie, weil ohne Kenntnis der Sprachwerkzeuge die mit der Dehnung gewöhnlich verbundene Änderung des Vokals nicht zu beschreiben wäre; dann die Psychologie und wohl auch die Philosophie, weil mit der Dehnung ein Bedeutungswandel vor sich gegangen ist, der ohne diese Geisteswissenschaften nicht zu erklären wäre; dann wohl alle die höchst irdischen Wissenschaften, welche den höchst unklaren Begriff  Klima  umgeben, weil nach der Mode unserer Jahrzehnte das Klima einerseits für die Physiologie, anderseits für die Psychologie verantwortlich gemacht wird; dann wieder die Mathematik, weil die Größe der Dehnung ohne Mathematik nicht ziffermäßig festgestellt werden könnte.

In dieser Aufzählung, die nur eine beispielmäßige ist, habe ich wiederum die Psychologie zu den Geisteswissenschaften gerechnet; und der Anstand schon scheint zu gebieten, daß man die Wissenschaft vom menschlichen Geiste zu den Geisteswissenschaften rechne. Nur daß die Psychologie selbst verzweifelte Anstrengungen macht, sich zu den Naturwissenschaften hinüber zu retten, und wenn es mit dem minimalsten Gepäck auch nur auf einen Strohhalm geschähe. So müssen die Spezialwissenschaften bei der kleinsten Einzeluntersuchung förmlich frikassiert werden; und es steigt der Verdacht auf, daß ihre systematische Einteilung wirklich nur ein Armutszeugnis des Menschengehirns sei. Die Enge des menschlichen Bewußtseins zwingt zu solchen Auskunftsmitteln.

Man hat die Sprachwissenschaft, also die Sprachgeschichte insbesondere darum den Geisteswissenschaften zuzählen wollen, weil die Sprache nicht eine Schöpfung der Natur, sondern des Menschen wäre. Wenn ich mir bei solchen Worten nur etwas denken könnte! Doch ich will es versuchen, auch dieses Schema mitzudenken. Sprachgeschichte oder Sprachwissenschaft steht dann neben Philosophie, Philologie und Geschichte in der Reihe der stolzen Geisteswissenschaften. Lassen wir die Philosophie beiseite, - um nicht unhöflich zu werden. Was man aber gewöhnlich Philologie nennt, die Beschäftigung mit den schriftlichen Denkmälern unserer und der älteren Kultursprachen, ist dann wieder doch offenbar nur ein Teil oder eine Hilfswissenschaft der Sprachgeschichte. Und die Sprachgeschichte, das heißt die Summe aller sprachlichen Erscheinungen auf Erden, ist wieder nur ein Teil unserer Kenntnis von den menschlichen Abenteuern der allerjüngsten Zeit, der letzten zwei- bis viertausend Jahre.

Es würde demnach der Begriff der Geisteswissenschaften am Ende mit dem hochmütigen Menschenbegriff der Weltgeschichte zusammenfallen. Wer da nun glaubt, daß die Geschichte der Menschheit von dem Willen, von dem bewußten Willen einzelner Menschen abgehangen habe, der mag auch glauben, daß die Sprachgeschichte den Willen einzelner Menschen darstelle und darum eine Geisteswissenschaft sei. Wie aber, wenn die gesamte Menschengeschichte und die Sprachgeschichte dazu nur die Zeitfolge ist von Billionen einzelner Handlungen, welche, bewußt oder unbewußt, von ebensoviel Billionen Gefühlen begleitet waren, die wir heute den Willen nennen? Wie, wenn die Geschichte der Pflanzenwelt auf der Erde - sicherlich eine noch längere also darum vornehmere Geschichte als die der Menschen - sich ebenfalls auffassen ließe als eine Zeitfolge von unaussprechbar vielen Lebenserscheinungen, von Veränderungen also, die ebenfalls von irgendwelchen Lebensgefühlen begleitet gewesen sein mögen, die ja ein SCHOPENHAUER ebenfalls den Willen genannt hat? Wie, wenn die Freiheit des Willens, die doch also die Menschengeschichte von der Naturgeschichte als eine Geisteswissenschaft von der Naturwissenschaft scheiden soll, ein unbestimmtes, ein nichtssagendes Wort ist? Was fangen wir dann mit der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften an?

Ich will noch einmal umkehren und sehen, ob es doch im Stoff der Sprache liegen mag, daß wir instinktiv geneigt sind, sie der unklaren Gruppe der Geisteswissenschaften zuzurechnen. Wir wissen schon, wie wertlos dieser letzte Begriff ist; wir haben uns aber in dieser ganzen Untersuchung daran gewöhnen müssen, die üblichen Worte mit einer ungefähren Bedeutung weiter zu gebrauchen, nachdem wir ihre landläufige Definition für unhaltbar erklärt haben.

Den Stoff der Sprachwissenschaft geben Erscheinungen ab, so recht eigentlich Erscheinungen, die wir dem geistigen Gebiete zuzuweisen pflegen; jede Spracherscheinung ist ein Schall , der in uns näher oder ferner die Erinnerung an Sinneseindrücke erweckt, welche Erinnerung wir die Bedeutung des Schalles nennen. Also wohlgemerkt: wir besitzen in allen Sprachäußerungen etwas, was uns in doppelter Hinsicht etwas Geistiges, das heißt etwas Immaterielles zu sein scheint, den immateriellen Schall, den wir  hören,  und seine Bedeutung, deren wir uns  erinnern.  So scheinen wir prächtig auf rein geistigem Boden zu stehen. Eigentlich ist aber das einzige "Immaterielle" daran die Erinnerung. Die Sinneseindrücke, an welche die Bedeutung des Wortschalls erinnert, sind nämlich doch etwas Materielles gewesen, populär ausgedrückt. Wie sich der Sinneseindruck in unserem Gehirn als Gedächtnis bewahrt hat, das wissen wir nicht; aber wir ahnen von Jahr zu Jahr sicherer, daß auch das Gedächtnis an materielle Veränderungen gebunden ist. Das Geistigste also an der Sprache, die Bedeutung der Wortschälle, ist nur insofern psychologisch, als wir unter Psychologie die uns immer noch unbekannte Physiologie des Gehirns verstehen.

Ich glaube aber wirklich, daß auch ohne diese Bedeutungsseite die Sprache besser den immateriellen Erscheinungen zugewiesen würde, weil ihr Stoff der Schall ist, also eine Bewegungserscheinung der Luft, nach dem Zeugnis unserer Sinnesorgane eine formelle, nicht eine materielle Änderung eines Stoffs. Es ist aber traurig, so viele Jahre nach LOCKE und KANT noch darauf hinweisen zu müssen, daß auch die von den anderen Sinnesorganen beobachteten Erscheinungen psychologisch ganz sicher, und höchst wahrscheinlich auch physikalisch, Bewegungsveränderungen, formelle Änderungen unveränderlichen Stoffes sind, eines Stoffes, den wir vorläufig, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, seit einiger Zeit wieder die Atome nennen. Wäre also durch irgend welche Umstände das Verständigungsmittel der Menschen eine  sicht bare Sprache geworden, so würden wir nicht so sehr geneigt sein, die Sprache zu den immateriellen Dingen zu rechnen; und doch wäre an der Sache nichts geändert.

Ich will natürlich nicht ableugnen, was wirklich ist. Der Schall der Sprache gehört ohne Frage zur Naturwissenschaft. Dieser Schall erweckt aber in uns tausenderlei Gefühle, Stimmungen, Erinnerungen; die heitere und traurige Welt unserer Erfahrung baut sich mit Hilfe dieses Schalls noch einmal vor uns auf. Was da in uns vorgeht, das nennen wir die Tätigkeit unseres Geistes, weil wir die Natur dieses Vorgangs nicht kennen; das Plaudern darüber nennen wir eine Geisteswissenschaft, weil wir die Naturwissenschaft der Erscheinung nicht kennen. So sind sämtliche Erscheinungen der Tonharmonien, soweit wir sie verstehen, unbedingt Gegenstand der Akustik, einer Naturwissenschaft; nur das harmonische Mittönen des feinen Instruments in unserem Ohre, das unser Hören begleitende Gefühl, nennen wir eine Kunst, die Musik, wie wir die Begleitgefühle aller sprachlichen Entwicklung und alles anderen menschlichen Handelns unseren Willen nennen und sie der Tätigkeit des Menschengeistes zurechnen.

Für uns ist also die Frage, ob die Untersuchung der menschlichen Sprache zu den Natur- oder den Geisteswissenschaften gehöre, von Hause aus eine Phrase, eine wohlfeile Gelegenheit, trefflich mit Worten zu streiten. Für uns ist die gesamte Sprachwissenschaft ein Kapitel der Psychologie, und da trifft es sich ganz nett, daß die Psychologie selbst, welche doch die Wissenschaft vom menschlichen Geiste und nichts anderem ist, so gern Naturwissenschaft sein möchte.

Um den Unterschied zwischen Natur und Geist - unsere Ironie über solche Unterschiede vorbehalten - dem Sprachgebrauch entsprechend festhalten zu können, denken wir einmal zunächst an Zoologie und Chemie einerseits, an Moral und Jurisprudenz anderseits. Zoologie und Chemie werden zu den Naturwissenschaften gerechnet, weil die Gegenstände dieser Wissenschaften in der Wirklichkeitswelt vorkommen, das heißt weil die entsprechenden Vorstellungen von außen her in unser Gehirn hineinkommen; Moral und Jurisprudenz werden zu den Geisteswissenschaften gerechnet, weil die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen in unserem Gehirn entstehen und von da aus auf die äußere Welt übertragen werden. Als Erinnerungszeichen der Vorstellungen dienen die Worte, also die Gegenstände unserer Sprachwissenschaft, sowohl den Natur- wie den Geisteswissenschaften. Darauf kommt es aber hier nicht an. Wir müssen einmal in zweiter Potenz abstrahieren, uns die Worte unserer Lautsprache als Gegenstände der Betrachtung vorstellen und nun fragen, ob diese Vorstellungen von außen hereinkommen oder von innen hinausgeschickt werden. Diese doppelte Abstraktion ist nicht leicht auszuführen, und darum mag es genügen, einfacher zu fragen, ob die Lautzeichen unserer Sprache als Gegenstände unserer Wahrnehmung wirkliche Dinge oder aber Gehirnprodukte sind.

Wirkliche Dinge wie die Gegenstände der Zoologie und Chemie sind diese Lautzeichen nicht. Wenn die Sprache sich nicht so entsetzlich beschränkte Kategorien auf den Hals geladen hätte, so könnte man sagen, die Lautzeichen hätten die meiste Ähnlichkeit mit den Erscheinungen der Mechanik, sie wären Bewegungserscheinungen und darum im Gegensatze zu der Wirklichkeitswelt totes Material. Denn wenn uns die veraltende Sprache der Wissenschaft nicht das Wort  Leben  für die Erscheinungsformen der Tiere und Pflanzen allein hinterlassen hätte, so müßten wir doch erkennen, daß wir in den Erscheinungen, welche wir unter der Chemie zusammenfassen, mit ihren chemischen, magnetischen und elektrischen Kräften etwas dem Leben Verwandtes besitzen, und daß zu dieser ganzen ungeheuren Gruppe von Naturdingen sich die Bewegungen, zu denen auch der Schall gehört, wie etwas verhältnismäßig Totes verhalten. Doch die Sprache, die hier schon den Sprachgebrauch verlassen muß, läßt mich ganz im Stich, wenn ich auch noch daran erinnern muß, daß die gegenwärtige Naturwissenschaft auf materialistischer Grundlage nicht nur die Chemie, sondern auch die Biologie auf fabelhafte Atombewegungen zurückführen möchte.

Das Material der Sprachwissenschaft besteht also ganz gewiß nicht aus wirklichen Dingen, sondern aus mechanischen Erscheinungen, aus Bewegungen, welche von den motorischen wie von den sensiblen Nerven des Gehirns zugleich als Erinnerungszeichen mit anderen Vorstellungen assoziiert werden. So simpel auch der Kern dieser Behauptung ist, so mußte sie doch besonders aufgestellt werden, weil die Unklarheit in dieser Beziehung so schwer aus den Köpfen zu bringen ist. Denn auch das Gerede von der Abstammung der Sprachen, von Stammbäumen usw., wird ganz und gar schief und irreführend, wenn wir nicht bedenken, daß die Worte gar nicht der Wirklichkeitswelt angehören, sondern Schallbewegungen sind, die jedesmal neu erzeugt werden müssen. Dadurch wird aber am hellsten beleuchtet, daß die Geschichte der Sprache unmöglich zu den übrigen Naturgeschichten gehören könne.

Da aber die menschlichen Geisteswissenschaften immer nur Meinungen betreffen, also nicht einmal in dem bescheidenen Sinne der Naturwissenschaften echte Wissenschaften sind, so wäre es eine Art Verstoßung, wenn wir die Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft diesen sogenannten Geisteswissenschaften überantworten wollten.

Muß das Kind durchaus einen Namen haben, so müßte die Sprachwissenschaft der Kulturgeschichte eingereiht werden. Kulturgeschichte aber ist, wenn wir das pedantische und hochmütige Wort  Kultur  (wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht) beiseite lassen, eine Geschichte der menschlichen Gewohnheiten. Der ererbten wie der erworbenen Gewohnheiten, der geistigen wie der mechanischen Gewohnheiten. Die Sprache braucht sich ihrer Nachbarn dabei nicht zu schämen. Es gibt keine mechanische Gewohnheit, die nicht für das Geistesleben Bedeutung hätte. Sicherlich hat selbst die Geschichte der Kochkunst einen Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Menschengehirns. Sicherlich ist die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fortbewegungsart von ungeheurer Bedeutung für das Geistesleben gewesen. Man muß nur verstehen, es unter einen einzigen Gesichtspunkt zu bringen, daß der Mensch erst auf seinen zwei Beinen gehen lernte, dann wer weiß wie lange sich mit dieser Kunst begnügte und jetzt über Dampfschiffe, Eisenbahnen und Luftballons verfügt. Vielleicht wird es nach einer solchen Betrachtung weniger paradox erscheinen, die Entwicklung der menschlichen Sprache mit der Entwicklung des menschlichen Gehens zu vergleichen.

Wahrhaftig, auch dieser Vergleich hinkt, schon darum, weil die meisten übrigen Erscheinungen der Kulturgeschichte in früherer Zeit sich nur langsam veränderten und ihr Wechsel jetzt ein schnelleres Tempo anzunehmen scheint, während die Sprache sich früher (namentlich vor der Erfindung der Schrift) viel rascher entwickelte als jetzt. Ich frage aber, ob die Fortbewegung des Menschen vom zweibeinigen Gehen bis zum Orientexpreßzug für die Entwicklung des Menschen nicht von außerordentlicher Wichtigkeit war, ob nicht beinahe von der gleichen Wichtigkeit wie die Sprache, wenn man schon Werte vergleichen soll? Ich frage weiter, ob die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Fortbewegungsmittel nicht eine neue und schöne wissenschaftliche Disziplin wäre, würdig der gelehrtesten Bücher und einer außerordentlichen Professur? Und ich frage endlich, ob man ohne Lachen eine Untersuchung darüber anstellen könnte: gehört diese neue und schöne Disziplin, die Entwicklungsgeschichte des Gehens, zu den Natur- oder zu den Geisteswissenschaften?
LITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906