cr-3Ferdinand de Saussure - Der Gegenstand der Sprachwissenschaft 
 
FRITZ MAUTHNER
Geschichte der Sprachwissenschaft
II-04

"Alle Versuche, die ungeheure Menge von Tatsachen für eine Erkenntnis des Ursprungs von Sprachen und Völkern zu verwenden, sind nur Belustigungen des Verstandes und des Witzes."

Als das Naivste an der ganzen biblischen Legende von der Sprachschöpfung, die doch noch immer zitiert wird, ist es mir stets erschienen, daß die Sprache da älter ist als der Mensch, weil sich doch der liebe Gott gleich am ersten Schöpfungstage einer gesprochenen Zauberformel bedient hat. "Er sprach, es werde Licht." Übrigens ist es, wenn diejenigen, welche eine ursprüngliche Einheit der Sprache für alle Menschen behaupten, sich auf die Bibel berufen ("Und die ganze Erde hatte eine Sprache und ein und dieselben Worte") nicht minder lächerlich, als wenn man sich zu Beweisen für die Entstehung der Kometen auf die Legenden eines Indianerstammes berufen wollte.

Als die Inder Sprachwissenschaft zu treiben begannen, wurden sie durch die Umstände, insbesondere durch den veralteten Zustand ihrer kirchlichen Texte, zunächst auf die Wortbildung geführt, dann erst auf den Laut- und den Bedeutungswandel. Die griechische Sprachwissenschaft folgte auf die kindliche Metaphysik der Griechen, kümmerte sich zunächst um die logischen Verhältnisse der Wortarten und schuf so die Sprachlogik, welche wir noch heute Grammatik nennen. Als in neuester Zeit die Sprachwissenschaft wieder aufgenommen wurde, lagen für die Sprache wie für andere Kulturerscheinungen schon weiter zurückreichende literarische Denkmäler vor, und die Sprachwissenschaft konnte zugleich historisch und vergleichend werden. Weil nun ein Zufall (die englische Herrschaft über indische Völker nämlich) die Aufmerksamkeit dieser historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft auf die Sprache der Inder lenkte und so auch deren alte Grammatik ans Licht brachte, wurden die Beobachtungen des ältesten Laut- und Bedeutungswandels neu entdeckt und mit den logischen, historischen und vergleichenden Versuchen verbunden. Aus diesem Gemisch besteht die gegenwärtige Sprachwissenschaft, die so überreich ist an hübschen und überraschenden Laut- und Wortgeschichten, die aber der Beantwortung der letzten sprachlichen Fragen auch nicht um einen Schritt näher gerückt ist. Alle Versuche, die ungeheure Menge von Tatsachen für eine Erkenntnis des Ursprungs von Sprachen und Völkern zu verwenden, sind nur Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Und die Sprachwissenschaft kann gar nichts Besseres tun, als die alten Fragestellungen entschlossen aufzugeben und sich selbst als eine Hilfsdisziplin der jüngsten aller Wissenschaften zu betrachten, als die wichtigste Quelle der kaum noch begonnenen Psychologie.

Der Wortaberglaube ist ganz gewiß eine notwendige Folge der menschlichen Denkweise. Tiefer als die anderen Kategorien des Verstandes, durch welche wir nach KANT die Welt zu betrachten gezwungen sind, steckt im menschlichen Gehirn was ich die Kategorie des Wortes nennen möchte. Denn das sogenannte Denken ist an das Wort, als das einzige Merkzeichen aller Erinnerungen, unlöslich gebunden.

Der Wortaberglaube ist unausrottbar. Der Beweis dafür ist leicht zu führen. Die Kraft eines einzelnen Menschen reicht nicht aus, um die vielen Tausende von Worten  nachzuprüfen,  in denen er sein geistiges Erbe, den Schatz aller Erinnerungen seiner Vorfahren, das heißt die zusammenfassenden Merkzeichen von Billionen von Empfindungen empfangen hat. Was der einzelne aber nicht selbst, das heißt an seinen eigenen Empfindungen nachgeprüft hat, das nimmt er auf Treu und Glauben hin; er muß also damit rechnen, daß er ungezählten Aberglauben mit in Kauf genommen hat. Auch der freieste Forscher kann sich vom Wortaberglauben nicht befreien, weil er nur auf dem engen Gebiete seiner eigenen Beobachtungen von seiner Sprache sagen kann, daß sie  seine  Sprache sei. Dieses ganze Buch ist der Befreiung vom Wortaberglauben gewidmet, und dennoch wimmelt es ganz gewiß von Wortgespenstern, an deren relativen Wert ich irrtümlich geglaubt habe.

Viel brutaler und naiver noch ist der religiöse Aberglaube an die Macht des Wortes, wie er noch heute in den Besprechungen der Kurpfuscher und der Gesundbeter nachweisbar ist. Die Inder waren darin noch konsequenter, da sie im Worte (vak, lat. vox) eine Gottheit erblickten. Der Donner (das Wort oder die Stimme) war die Ursache des Regens. Es finden sich in den indischen Liturgien Stellen, aus denen der vielgedeutete, eigentlich bedeutungslose Anfang des Johannesevangelium "Im Anfang war das Wort" einfach herübergenommen zu sein scheint.

Die alten Sanskritgrammatiker scheinen an einem tieferen Eindringen in die Sprache hauptsächlich durch zwei Umstände verhindert worden zu sein; so unsicher ich mich auf diesem Boden bewege, möchte ich die Bemerkungen nicht unterlassen, weil der Einfluß dieser alten  vaiyakaranas  (das Wort bedeutet, was wir heute vornehm Analyse nennen) auf unsere Sprachwissenschaft so mächtig geworden ist.

Zunächst war den indischen Erklärern der Veden ebenso etwa wie den früheren orthodox jüdischen Erklärern der Bibel der Urtext als die Göttersprache (daivi vak) heilig und unantastbar. Bei Indern und Juden war die ganze sprachliche Beschäftigung teils praktisch, teils abergläubisch, niemals aber eigentlich wissenschaftlich. Für den praktischen Zweck wie für die religiöse Scheu war die Aufstellung von letzten Formen der Sprache, der berühmten Sanskritwurzeln, ganz natürlich. Unbegreiflich ist es nur, wie gläubig die moderne Forschung dieses Wurzelwerk sich "methodisch" aneignen zu müssen glaubte.

Die alte griechische Grammatik wagte sich nach einigen verunglückten etymologischen Versuchen an die Regeln der Wortbildung gar nicht heran. Sie behandelte fast ausschließlich immer in Konfusion mit der Logik - die Flexionslehre und quälte sich da mit Regeln und Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen. Den Wortschatz der Muttersprache nahm man als ein Gegebenes und Bekanntes, nachdem man die Lächerlichkeit der naiven Etymologie zu ahnen angefangen hatte. Als dann später die griechische oder die lateinische Sprache als eine fremde oder tote Sprache gelehrt werden sollte, fiel es gar keinem Menschen ein, den Sprachschatz mit der Grammatik zusammen zu lehren. Die Grammatik blieb eine notdürftige Ordnung der Regeln und der Ausnahmen erster, zweiter und dritter Ordnung; auf eine Ordnung in der Wortbildung verzichtete man, indem man eben alle Bildungen des Sprachgebrauchs zuerst sachgemäß, dann alphabetisch, das heißt ungeordnet, in Wörterbüchern sammelte.

Darin bestand nun die Eigentümlichkeit der indischen Grammatik, daß sie auch die Wortbildung in Regeln zu bringen versuchen konnte. Damit hängt es zusammen, daß die Inder wohl oder übel, der angestrebten Regelmäßigkeit wegen, eine besondere Wortart der gesamten Sprache zugrunde legten, bekanntlich das Verbum. Wir können es uns psychologisch (erkenntnistheoretisch liegt es anders) freilich kaum vorstellen, daß in Urzeiten der menschlichen Sprache die Worte etwas anderes bedeutet haben sollen als Dinge, soweit nicht früher undifferenziert Ding, Bewegung und Eigenschaft zugleich bezeichnet waren. Doch für eine hübsche Vorstellung von der Entwicklung der Sprache war nichts geeigneter als die Zurückführung des Sprachschatzes auf Verben und die Zurückführung aller Verben auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von sogenannten Wurzeln (dhatu). So bietet die indische Grammatik für die Freunde einer sauberen Schablone eine geradezu ideale Arbeit dar. Das Wörterbuch fällt einfach fort; es wird erst langsam von Europäern aus den Quellen zusammengestellt, weil man das Sanskrit eben mit der sauberen Schablone allein doch nicht lernen kann. An Stelle des Wörterbuchs gibt es eine kleine Reihe von Wurzeln, das heißt von Silben, welche offenbar den Kern abgeleiteter Worte bilden, und von anderen Silben, welche man sich der lieben Schablone wegen ausgedacht hat. In der Herleitung der Worte aus diesen Wurzeln besteht die seit hundert Jahren so verherrlichte indische Etymologie. Ich finde in dieser indischen Etymologie, so gering meine Kenntnisse sind, sehr zahlreiche Ableitungen (z.B.  agni  - das lateinische  ignis  aus beinahe ebenso vielen Verben, als es Buchstaben hat), welche an Wahnsinn den berüchtigten Etymologien in PLATONs  Kratylos  und bei VARRO nichts nachgeben. Nur daß der indische Wahnsinn jedesmal Methode hat, die schöne Methode der Wurzeln.

Die Geschichte ihrer Sprache konnten die Inder unter solchen Umständen natürlich nicht weiter verfolgen als bis zu ihren Wurzelgespenstern. Für die Laute ihrer gewordenen Sprache aber hatten sie ein sehr feines Ohr, das freilich wohl zumeist wieder durch Aberglauben geschärft wurde. Wie die orthodoxen Juden heute noch glauben, daß ihre hebräischen Gebete nur durch strengstes Festhalten an der traditionellen Melodik die erforderliche Wirkung auf JEHOVA ausüben, so meinten auch die alten Inder, daß sie ihre Vedenlieder strengstens nach der hergebrachten Betonung singen und sagen mußten. Diese Aufmerksamkeit nun führte dazu, jeden Satz mehr als eine Einheit aufzufassen, innerhalb welcher die Worte für Ton und Aussprache so aufeinander wirkten wie die einzelnen Buchstaben innerhalb eines Worts. Diese Aufmerksamkeit hat die europäische Sprachwissenschaft erst seit kurzem von den alten Indern gelernt. Man hat darauf unzählige niedliche Beobachtungen gesammelt. Und wenn man die Unzahl dieser Niedlichkeiten nicht mehr übersehen können wird, so wird man sie zu ordnen versuchen. Die Sprachwissenschaft wird in solchen Büchern eine ungeheure Bereicherung erfahren. Tiefer in das Wesen der Sprache werden mechanische Beobachtungen und ihre mechanische Gruppierung nicht führen.

Die Überschätzung des Sanskrit, der Glaube daran, im Sanskrit die Ursprache gefunden zu haben, stand ungefähr in der geilsten Blüte, als die altindischen Grammatiken unter den europäischen Philologen bekannt wurden. Kein Wunder, daß man die Göttlichkeit des Sanskrit auf die indische Sprachlehre übertrug, daß man die Anregungen, welche die europäische Sprachwissenschaft von der so fremdartigen indischen empfangen mußte, für die Lösung aller Rätsel hielt und das Sanskrit für Jahrzehnte die wissenschaftliche Mode wurde.

Auch bei den Griechen hat sich eine ernsthafte Grammatik an der Aufklärung eines heiligen Textes entwickelt, an den Bestrebungen, die veraltete oder mundartliche Sprache des HOMEROS einem neuen Griechengeschlechte zu erklären. Ein Vorzug der Griechen vor den Indern und Juden war es, daß ihnen der homerische Text trotz aller Verehrung doch nichts abergläubisch Göttliches war, daß sie den Urtext sogar wer weiß in welchem Maße es geschehen ist? - verändern durften. Dagegen war die griechische Sprachwissenschaft im Keime verdorben durch den unseligen, so häufig für philosophisch ausgegebenen Hang dieses Volkes, durch ihren Wortaberglauben, ihre förmliche Besessenheit, das Abstraktum für die Quelle der konkreten Dinge zu halten, von denen es abstrahiert worden war. Auch die indischen Grammatiker besaßen die architektonische Neigung zu generalisieren; sie hatten eine Leidenschaft für knappe Regeln; wenn es nur irgend möglich war, brachten sie verschiedene Formen auf eine einzige, und wenn es gar nicht mehr möglich war, so taten sie es doch. Aber immerhin lag diesen phantastischen Generalisationen eine genaue Beobachtung ihrer Göttersprache zugrunde. Die Griechen haben sich in ihrer klassischsten Zeit bei der Wirklichkeit überhaupt nicht aufgehalten. Wie die halb mythischen Philosophen der älteren Zeit die ganze Welt aus irgend einem Element heraus erklärten, wie PLATON keck die Einzeldinge aus ihren Ideen entstehen ließ, wie dann ARISTOTELES mechanische Tatsachen aus der Form der Kreislinie erklären wollte, wie - um die Sache etwas tiefer zu fassen - die bis auf uns fortwuchernde Logik der Griechen Abstraktionen aus unseren Denk gewohnheiten  zu bindenden  Gesetz en des Denkens machte, so suchten die bedeutendsten Griechen den heimlichen Gesetzgeber, dem der offenbar vorliegende Sprachgebrauch gehorchte. Dies scheint mir der springende Punkt in dem langen Streite, ob die Sprache natürlich gebildet oder gesetzlich eingeführt sei. Die Erfinder der Logik mußten nach einem Gesetzgeber suchen. Diese Verquickung von Logik und Grammatik und der allen griechischen Wissenschaften zugrunde liegende Sprachaberglaube haben sich zäh durch die Jahrtausende erhalten.

So große Fortschritte die grammatische Erkenntnis der Sprache sodann, namentlich durch die Stoiker machte, so blieb doch die Wortbesessenheit der Griechen in der Hauptsache bestehen. Sie spricht sich sogar in dem Worte aus, das bis auf uns gekommen ist und das den in ihm liegenden falschen Sinn noch heute nicht gänzlich verloren hat. Die Vorstellung, daß jeder Laut seine Bedeutung habe, daß demnach aus dem Lautbilde eines Wortes eigentlich seine Bedeutung hervorgehen müsse, führte die Griechen dazu, in den Lautgruppen, die sie zwar nicht "methodisch" auf Wurzeln, aber ebenso phantastisch wie die Inder auf andere Worte zurückführten, den wahren,  echten  Sinn zu suchen; und diese bis zum höchsten Blödsinn ausgebildete Disziplin nannten sie Etymologie.

Die Griechen der alexandrinischen Zeit fanden die schönste Übereinstimmung vor zwischen ihrer neuen Grammatik und ihrer nicht viel älteren Logik. Merkwürdig kann diese Übereinstimmung für uns nicht sein; denn in beiden Disziplinen hatten sie doch nur einen und denselben Stoff, die Sprache, in Abstraktionen aufgelöst. Logik und Grammatik unterschieden sich bei ihnen nicht mehr als Begriff und Wort. Also eigentlich gar nicht.

Weil den Griechen nur ihre eigene Sprache Gegenstand der Beobachtung war, weil ihnen alle anderen Sprachen barbarisch, also in jeder Beziehung wertlos erschienen, darum fiel für sie griechische Grammatik und Sprachwissenschaft völlig zusammen. Und wie immer die Logik einer Zeit dem Stande der Sprachwissenschaft entspricht, so war die griechische Logik nichts anderes als griechische Grammatik. Und diese griechische Grammatik, unter logischen Gesichtspunkten geordnet, ist im wesentlichen das, was heute noch die Jugend der oberen Zehntausend als Logik lernen muß.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906