cr-3Chandos-BriefHelmut ViebrockRudolf Hirsch    
 
MARTIN STERN
Der Briefwechsel
Hofmannsthal - Mauthner


"Für diesen Mangel an Vertrauen und vielleicht auch Takt entschuldigt sich Mauthner in seinem Brief M5 vom 26. November 1906 und kündigt gleichzeitig sein kleines Spinoza-Buch an."

Die 1975 bei de GRUYTER als Buch erschienene Dissertation von JOACHIM KÜHN "Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk" hat erstmals das bewegende Schicksal und die bisher unübersehbare Zahl der Schriften dieses eigensinnigen Menschen und Autors kritisch und übersichtlich dargestellt. Sie berücksichtigte all bis dahin zugänglichen Quellen und leistete damit Pionierarbeit.

Auch die HOFMANNSTHAL-Forschung sieht sich durch KÜHNs Ermittlungen bereichert und angeregt. Denn der erste Teil des Buches geht unter dem Titel "Sprachskepsis und Dichtung seit 1900" auf interessante Zusammenhänge innerhalb der deutschsprachigen Literatur ein (GUSTAV SACK, CHRISTIAN MORGENSTERN, HUGO BALL, OSKAR WIENER), zeigt Verbindungslinien zwischen MAUTHNER und bedeutenden englischen und französischen Autoren auf (JAMES JOYCE und SAMUEL BECKETT) und diskutiert wesentliche Positionen der HOFMANNSTHAL-Literatur zur Frage der Entstehung und Bedeutung des Chandos-Briefes (PESTALOZZI, REQUADT, BRINKMANN, HOPPE, WUNBERG, DAVIAU, KOBEL). Die Hauptthese KÜHNs, daß HOFMANNSTHALs Prosa "Ein Brief" ohne MAUTHNERs Werk nicht entstanden, ja kaum denkbar gewesen wäre, bedarf allerdings einer sorgfältigen Differenzierung. Der hier erstmals publizierte - KÜHN nur teilweise bekannte - Briefwechsel zwischen HOFMANNSTHAL und MAUTHNER soll unter anderem auch dazu beitragen.(1)

Schon längere Zeit war bekannt, daß HOFMANNSTHAL sich nach 1900 mit MAUTHNERs Werk beschäftigte, dessen Bücher zum Teil noch heute in seiner Bibliothek enthalten sind.(2) Ihre Beziehung begann aber viel früher, mit der Veröffentlichung von HOFMANNSTHALs großem DUSE-Aufsatz im März 1892 im "Magazin für Litteratur", dessen Herausgeber FRITZ MAUTHNER damals war. In dieser Funktion bat er denn auch, wie der Brief M1 zeigt, HOFMANNSTHAL im Juni desselben Jahres 92 um einen weiteren Beitrag, eine "subjective Ausstellungs-Betrachtung", die der junge Wiener Dichter in einem nicht erhaltenen Schreiben angeboten haben scheint.(3) Weder dieser Beitrag noch der in M1 ebenfalls genannte "Bericht über die Franzosen" kamen zustande. Die zahlreichen Aufsätze über bildende Kunst der Jahre 1893 und 1894 wie "Die malerische Arbeit unseres Jahrhunderts", "Die Malerei von Wien", "Franz Stuck" u.a. veröffentlichte HOFMANNSTHAL in anderen Revuen und Zeitungen, und der Kontakt zwischen ihm und MAUTHNER ruhte offenbar während zehn Jahren.

Am 18./19. Oktober 1902 erschien HOFMANNSTHALs Chandos-Brief als erstes Stück einer geplanten Reihe von "Erfundenen Gesprächen und Briefen" im Berliner "Tag", ein Text, der sogleich MAUTHNERs stärkste Anteilnahme weckte, da HOFMANNSTHAL darin dichterisch ähnliche Probleme verarbeitete, wie sie MAUTHNER in seinem gleichzeitigen philosophischen Werk "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" darzulegen suchte(4).

Mit dieser erneuten Kontaktaufnahme, die wieder von MAUTHNER ausging, begann - wie wir seit KÜHNs Buch wissen, schon  zwischen  den beiden Autoren - die Diskussion um die an sich wenig belangvolle Frage der Priorität. Für den schwer ringenden Einzelgänger MAUTHNER war dieser Punkt begreiflicherweise von entscheidender Bedeutung. Sein (zeitweiliger) Verzicht auf eigene dichterische Versuche anspruchsvoller Art, wie auch auf seine umfangreiche belletristische und publizistische Tätigkeit, die ihm in den rund dreißig Jahren von 1870 - 1900 Erfolg und Ansehen gebracht hatten, erwies sich für ihn nur dann als gerechtfertigt und sinnvoll, wenn dem großen philosophischen Werk auch öffentliche Wirkung beschieden war. Voll Hoffnung, aber auch Zweifel, bittet er daher HOFMANNSTHAL in seinem Brief M2 von Ende Oktober 1902 um eine entsprechende Bestätigung. Daß ihn HOFMANNSTHALs Antwort H1 vom 3. November aus Venedig hierin nicht restlos befriedigen konnte, liegt auf der Hand. Denn HOFMANNSTHAL betonte stärker das Gemeinsame ihrer Gedanken hinsichtlich des Sprachproblems als die Einwirkung von MAUTHNERs Buch, die er indessen keineswegs leugnete(5). Vor allem aber machte er geltend, schon in seiner Jugend vom Nur-Metaphorischen jeden Sprechens tief überzeugt gewesen zu sein und diesem ambivalenten Verhältnis zum Wort in mehreren Werken Ausdruck gegeben zu haben. Werken, von denen MAUTHNER bis dahin nur "Der Tor und der Tod" gekannt hatte, wie er im Brief M3 vom November 1902 zugleich zugab.

Mehr noch als "Tor und Tod" ist das von HOFMANNSTHAL genannte Versdrama "Der Kaiser und die Hexe" ein wichtiges Zeugnis ähnlich gerichteter, von MAUTHNER noch ganz unabhängiger Gedankengänge HOFMANNSTHALs. Vor alle aber berührt sich sein Mitterwurzer-Essay "Eine Monographie" des Jahres 1895 bereits sehr nahe mit MAUTHNERs Grundthema der Sprachkritik, welche bei beiden Autoren ja zugleich schärftste Wissenschafts- und Kulturkritik implizierte(6).

Als aber nun der erste Band von MAUTHNERs "Beiträgen" erschienen war - wohl vordatiert bereits Ende 1900 -, muß HOFMANNSTHAL sofort danach gegriffen haben. Und wie stark er davon berührt war, bezeugt nicht nur sein Rückblick H1 von 1902, sondern zeigen auch mehrere Notizen und Skizzen aus dem Nachlaß deutlich.

Erstens nennt HOFMANNSTHAL in seinem Brief aus Venedig selber seinen wichtigen Dramenplan "Semele" als einen Entwurf, der u.a. ein Ausdrucks- und damit Sprachproblem zum Thema habe. Das erhalten gebliebene Material dazu stammt aus dem gleichen Jahr 1901. Auch dieser Plan dürfte also von MAUTHNER beeinflußt worden sein.

Doch noch weitere dichterische Vorhaben dieser Zeit beziehen sich nachweislich auf MAUTHNERs Werk. So eine kurze, nicht datierte Notiz zu einem anderen "Erfundenen Gespräch", die folgenden Text aufweist(7):
"für den Dialog (Der Schauspieler) sind die geistigen Grundlagen aus MAUTHNER (z.B. den Theilen über Psychologie) zu ziehen. Der Schauspieler ist das fließende Ich, die immer wechselnde Exposition, er nennt sich direct so: ich bin eine spannende Exposition diese Flasche wird mein interessantes dénouement sein."

Der Dialog wurde von HOFMANNSTHAL nie ausgeführt.

Und schließlich ein Drittes: Sieben Jahre nach dem Tode JOSEPHINE von WERTHEIMSTEINs, deren Sterben in HOFMANNSTHAL eine unauslöschliche Erinnerung blieb, plante er, wohl auch im Frühsommer 1901, zu einem von ihr hinterlassenen Novellen-Fragment einen Rahmen zu schreiben. Auch dazu hat sich ein Bruchstück im Nachlaß erhalten, das deutlich auf MAUTHNER bezug nimmt. Es lautet (8):
Die Erzählung der Frau von W.
Schlußstimmung: Homo nihil intelligendo fit omnia: eine durchgehende Kritik der Sprache: das tiefste der Erlebnisse entzieht sich dem Wort, so empfand ich immer, Worte bringen die Menschen auseinander, nicht zusammen. Die wortlose Creatur erfreut und tröstet.

Das lateinische Zitat in dieser Notiz stammt von VICO und ist eines der Motti im ersten Band von MAUTHNERs "Beiträgen".

MAUTHNERs nachhaltige Wirkung auf HOFMANNSTHALs Denken und Schaffen in diesem wichtigen Jahr 1901 ist damit für mehr als nur den Chandos-Brief erwiesen. Nicht bloß in der Radikalität ihrer Sprachkritik, auch in der aus dieser hervorgehenden neuen Mystik, die ja dem Chandos-Brief wie dem Semele-Fragment und anderen Plänen inhärent ist, berührte sich das Denken der beiden Dichter, wie es sie wiederum mit Dritten, etwa dem Belgier MAETERLINCK, verband.

Äußerlich hielt vorerst nur der Austausch von Büchern ihre Verbindung aufrecht. MAUTHNERs in dessen Briefen genannte Werke sind aber leider in Hofmannsthals Bibliothek nicht mehr vollzählig vorhanden. So fehlen "Aus dem Märchenbuch der Wahrheit" (1896) und der zweite Band der Sprachkritik, "Zur Sprachwissenschaft" (1901).

Bald entstand eine längere Pause im gegenseitigen Briefgespräch. Doch begegneten sich die beiden Dichter zu Beginn des Jahres 1905 offenbar zum zweiten Mal persönlich, vielleicht durch die Vermittlung von GUSTAV LANDAUER, als sich HOFMANNSTHAL anläßlich der Proben für die Uraufführung des "Geretteten Venedig" im Lessing-Theater in Berlin aufhielt. Die große Anstrengung dieser Probenarbeit erwähnt auch HOFMANNSTHALs Brief an LANDAUER von Mitte Januar 1905. Die Premiere war am 21. Januar, die Wiederbegegnung erfolgt wohl am Abend selbst oder noch früher, wie es HOFMANNSTHALs Brief H2 andeutet.

Der Brief MAUTHNERs, auf den HOFMANNSTHAL sich in H3 am 1. Februar 1905 bezieht, scheint verloren. Die dort im Post Scriptum von HOFMANNSTHAL erwähnten Verse von den "Harpyen" stehen in der Tat nicht in "Tor und Tod", sondern im "Abenteuer". Sie lauten (Dramen I, 1953, Seite 261):
Oh laßt die Worte weg, sie sind Harpyen, die Ekel auf des Lebens Blüten streun!

Das Augenleiden, wovon im verlorenen Brief die Rede gewesen sein muß, hatte MAUTHNERs Arbeit bereits seit dem Jahre 1898 schwer behindert. Mit den "einsichtsvollen Zeilen", für die sich HOFMANNSTHAL bedankt, war zweifellos MAUTHNERs Besprechung der Berliner Aufführung des "Geretteten Venedig" gemeint. Diese im Grunde ablehnende Rezension war am 22. und 23. Januar 1905 im "Berliner Tageblatt" erschienen und stellte eine der letzten kritischen Arbeiten MAUTHNERs dar, der bald danach seinen Vertrag in Berlin kündigte und nach Freiburg im Breisgau übersiedelte, um sich dort - von GUSTAV LANDAUER und ab 1906 von MARTIN BUBER ermutigt und unterstützt - ganz seinem philosophischen Werk widmen zu können.

Wieder dürfte nun eine Pause im gemeinsamen Briefgespräch eingetreten sein. Und in der Zwischenzeit erschien das von MAUTHNER am 10. 4. 1906 in M4 enthusiastisch gelobte Drama "Ödipus und die Sphinx". Über HOFMANNSTHALs Widmungsexemplar, für das sich MAUTHNERs Brief bedankt, ist nichts bekannt. MAUTHNER konnte dieses Mal HOFMANNSTHALs Gabe mit einem eigenen Buch erwidern, und dessen Widmung hat die genaue Datierung seines Briefes M4 ermöglicht. Sie lautet in MAUTHNERs Essay-Band "Totengespräche", der in HOFMANNSTHALs Bibliothek erhalten blieb: "Hugo von Hofmannsthal einen Gruß der Verehrung Fritz Mauthner Freiburg i. B. 10. 4. 06". Das Hemmnis, HOFMANNSTHALs Drama auch nicht privatim kritisch würdigen zu können, begründet MAUTHNER bezeichnenderweise nicht etwa mit dem Rücktritt von seiner Redakteur-Stelle, sondern mit einem Hinweis auf eine Krise, die ihrerseits Anlaß jenes Rücktritts war - seinem Zweifel am "Recht", öffentlich meinungsbildend zu wirken und aufzutreten.

HOFMANNSTHAL seinerseits hörte nicht auf, sich über MAUTHNERs Hauptwerk Gedanken zu machen. In einem Konvolut "Rodauner Anfänge" vom Juli 1906 ist im Nachlaß folgende Notiz erhalten geblieben:
durch den Gebrauch, den die Wissenschaftler von der Sprache machen, entsteht die Seite welche der Gegenwart zugekehrt ist
Probleme selbst unberührbar: da Sprache nicht Identität, sondern ...
Kassner, Mauthner.
Goethes wissenschaftliche Sprache

Diese Notiz trifft den Kern von MAUTHNERs Absicht, die Infragestellung der gesamten Philosophie, weil und solange sich diese der Sprache bedient, welche MAUTHNER als ein zu keiner Erkenntnis führendes, nicht nur verdorbenes, sondern a priori ungeeignetes, da nur metaphorisch das Wirkliche bezeichnendes Instrument betrachtet. MAUTHNERs Radikalität mochte beeindruckend sein, aber sie basierte wohl letztlich, wie KÜHN einleuchtend zu zeigen vermochte, auf falschen Voraussetzungen, auf einem fast mittelalterlichen Nominalismus oder Sprachidealismus, wie ihn - mehr gesellschafts- und gegenwartsbezogen - auch KARL KRAUS lange verfocht in seiner leidenschaftlichen Hoffnung, durch Sprachkritik Ideologien entlarven und so auf eine Reinigung der Welt von Lüge und Dummheit, auf ihre radikale Erneuerung hinwirken zu können.

Jedenfalls zeigte die zitierte Notiz, daß HOFMANNSTHAL MAUTHNERs Hauptthese sehr beschäftigte, ja daß er wohl sogar daran dachte - darauf deutet der Einbezug KASSNERs und GOETHEs -, Gegenargumente oder doch Gegenbeispiele eines schöpferisch-ungebrochenen Sprachgebrauchs zu sammeln.

Ergreifend stellt eine letzte, in HOFMANNSTHALs Nachlaß aufgefundene Notiz MAUTHNERs Lage dar:
"das Buch von Mauthner ist nun einmal da: wie ein Schrei ... wir sterben und erleben kein Resultat."

Diese Notiz hält den Zusammenhang zwischen MAUTHNERs Schicksal und dem meistzitierten Wort Sigismunds aus HOFMANNSTHALs Trauerspiel "Der Turm" fest: "Gebet Zeugnis, ich war da, wenngleich mich nieman gekannt hat." Sie widerlegt auch nochmals die sicher unrichtige Ansicht, der frühe Abbruch dieser Beziehung sei erfolgt, noch bevor eine wirkliche geistige Begegnung der zwei so grundverschiedenen Denker stattgefunden habe.

Zwischen April und November 1906 geriet offenbar das Briefgespräch der beiden ins Stocken. Nun scheint eine erste Entfremdung eingetreten zu sein. Denn HOFMANNSTHALs kurzer "Gruß" H4 vom 17. August 1906 ist nicht in MAUTHNERs Hand gelangt; er wurde in HOFMANNSTHALs Nachlaß gefunden. Ein möglicher Grund für dieses Zögern mag darin zu sehen sein, daß HOFMANNSTHAL MAUTHNER mit dem doch recht ambivalenten NOVALIS-Zitat zu verunsichern fürchtete. Dieses selbst mutet im übrigen beinahe prophetisch an, wie ein Vorausblick auf jene Zumutung, die MAUTHNER dann wenig später mit seinen Bitten vom 29. Januar und 8. Oktober 1907 an HOFMANNSTHAL richtete, worauf das Gespräch endgültig abbrach.

Den letzten neuen Gesprächsgegenstand brachte der Tod des MAUTHNER nahe stehenden, freiwillig aus dem Leben geschiedenen WALTER CALÉ. Seine "Nachgelassenen Schriften" waren im Herbst 1906 - datiert mit 1907 - bei S. Fischer erschienen. MAUTHNER hatte dazu ein Vorwort geschrieben.(19) GUSTAV LANDAUER, der CALÉs Dichtungen viel kritischer beurteilte als MAUTHNER, verfaßte damals eine Besprechung dieser Ausgabe, die auch das Vorwort seines Freundes in keiner Weise schonte. LANDAUER hielt CALÉ für einen Epigonen der neuen Kunst und stellte ihm HOFMANNSTHAL, GEORGE, auch WILDE u.a. als deren schöpferische und führende Gestalten gegenüber(10).

Auch was HOFMANNSTHAL anschließend vorbringt, war wohl ein Zeichen eines gewissen Vertrauensschwundes. Er zeigt sich erstaunt, daß MAUTHNER es nötig gehabt habe, danach zu fragen, ob er das Geschenk des "Ödipus"-Bandes einer spontanen Regung HOFMANNSTHALs oder der Bitte eines Dritten verdanke.

Für diesen Mangel an Vertrauen und vielleicht auch Takt entschuldigt sich MAUTHNER in seinem Brief M5 vom 26. November 1906 und kündigt gleichzeitig sein kleines SPINOZA-Buch an, das aber in HOFMANNSTHALs Bibliothek nicht oder nicht mehr enthalten ist.(11)

MAUTHNERs Brief M6 dankt für die Übersendung des ersten Bandes von HOFMANNSTHALs "Prosaischen Schriften", die als ersten Text den Vortrag "Der Dichter und diese Zeit" enthielten; dem Vortrag folgte der "Chandos-Brief", der nun - mit Resignation auf Seiten MAUTHNERs - zum letzten Mal genannt wird.

Das angekündigte MAUTHNERsche Buch war wohl dessen für MARTIN BUBERs Reihe "Die Gesellschaft" verfaßte Schrift "Die Sprache".(12) Auch sie fehlt heute in HOFMANNSTHALs Bibliothek. Daß HOFMANNSTHAL von ihrem Entstehen wußte, bezeugt sein zurückbehaltener Brief H4.

Das Ende des Briefgesprächs brachten die beiden erwähnten Briefe M6 und M7 von MAUTHNER mit dessen Bitte, HOFMANNSTHAL möchte das Werk einer ihn verehrenden Kranken lesen und die Einsamkeit der Verfasserin durch ein freundliches Wort lindern helfen. Daß MAUTHNER die Bitte trotz HOFMANNSTHALs Schweigen neun Monate später nochmals wiederholte, dürfte zum Versiegen ihres Gespräches mindestens beigetragen haben. Denn es war für HOFMANNSTHAL - wie das auch andere ähnliche Fälle zeigen - eine geradezu physische Unmöglichkeit, solcherlei Wünsche zu erfüllen. Wo er sich nicht spontan von einer Arbeit berührt sah, versagten ihm die Worte. Und um der Peinlichkeit einer Erklärung auszuweichen, zog er das Verstummen vor.

So war denn der letzte erhaltene MAUTHNER-Brief nur noch der erfolglose Versuch, HOFMANNSTHALs Schweigen zu überwinden. Welches Buch mit der "neuen Schrift", die MAUTHNER beilegte, gemeint war, ist ungewiß; außer "Die Sprache" erschien 1907 kein anderes von ihm. Immerhin scheint es nicht ausgeschlossen, daß HOFMANNSTHAL durch eine Veröffentlichung MAUTHNERs des Jahres 1907 noch einmal eine Anregung empfing, und zwar für seinen letzten Romanplan "Philip II. und Don Juan d'Austria".(13)

Daß MAUTHNER 1907 an HOFMANNSTHAL einen an seinem Denken und Schaffen intensiv teilnehmenden Gesprächspartner verlor, war nicht der einzige und nicht der größte Verlust dieser Art. Schon mit dem Weggang von Berlin, wo der damals Sechsundfünfzigjährige einen aus Männern wie OTTO BRAHM, PAUL SCHLENTHER, THEODOR FONTANE und GERHART HAUPTMANN bestehenden Bekanntenkreis verlassen hatte, erfuhr sein Leben einen Einschnitt. Aber diesen hatte MAUTHNER gewollt. Seine Erfolge als Verfasser von vorwiegend zeitkritischen oder historischen Tendenzromanen und Theaterstücken bedeuteten ihm nichts mehr, und seine noch viel ausgedehntere journalistische Tätigkeit nannte er rückblickend die Zeit seiner "Flucharbeit" (14). Zwar brachte ihm das Jahr 1907 in Freiburg die beglückende Begegnung mit seiner zweiten Frau, der Ärztin Dr. HEDWIG SILLES, geb. STRAUB, die ihn von nun an bei seinen Arbeiten und in allen Lebensnöten tatkräftig unterstützte. Doch was er suchte, war ein neues und ernster zu nehmendes Publikum, war das Gehör der Philosophen und eine "Wirkung auf die Besten", wie es sein Brief M2 an HOFMANNSTHAL zum Ausdruck brachte. Dieser Erfolg blieb MAUTHNER versagt, und nicht ohne eigene Schuld verlor er schließlich auch die beiden einzigen wirklich bedeutenden Freunde seiner Spätzeit: MARTIN BUBER und GUSTAV LANDAUER. Von BUBER trennte ihn sein durchaus negatives Verhältnis zum eigenen Judentum. War er in seiner Jugen für eine möglichst vollständige Assimilation eingetreten, so entwickelte er nach 1910 einen eigentlichen Antisemitismus.(15)

LANDAUER, der MAUTHNER mit fast unendlicher Geduld die Treue hielt, entfremdete er sich wenig später mehr und mehr durch seinen wohl nur als Kompensation verständlichen, leidenschaftlich deutschnationalen Patriotismus, ja Militarismus, der jenen RILKEs, HAUPTMANNs, HOFMANNSTHALs und unzähliger anderer weit hinter sich ließ; und für den tätigen Sozialismus des Freundes, der sich 1919 der Verwirklichung der Räterepublik opferte, brachte er auch nach dem Krieg kein Verständnis auf.

Mit fast pathologischer Leidenschaft, aber nur noch von unbedeutenden Freunden unterstützt, warf sich MAUTHNER in seinen letzten Jahren in einen ganz anderen Kampf, in jenen gegen die katholische Kirche und den christlichen Glauben. Vom alten Ansatz seiner Sprachkritik aus versuchte er, in einer "Geschichte des Atheismus" die Unhaltbarkeit aller Gottesbegriffe zu beweisen, förderte viele vergessene Texte zutage, verlor sich im ganzen aber, wie KÜHN darlegt, im historischen Material, so daß seine Schrift ungewollt zu einer neuen Ketzergeschichte wurde.

Im ganzen muß doch wohl gesagt werden, daß MAUTHNER die Grenze seiner Kräfte und Möglichkeiten verkannte. Er war weder Dichter von eigener Kraft und Begabung - was er einsah -, noch Kritiker mit wirklichsicherem Urteil - was sich in seiner Verkennung GEORGEs zeigte -, noch systematischer Denker genug, um sich im philosophischen Feld durchzusetzen. So blieb sein Werk ein großes Trümmerfeld aus heterogenen Teilen und mach sein Lebensweg heute den Eindruck eines tragischen Irrgangs.

Allein seine "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" haben über den Tag hinaus zu wirken vermocht. Sie waren, wie KÜHN sicher richtig bemerkte, ein frühes Signal für eine entscheidende Entwicklung im gesamteuropäischen Bereich: die Problematisierung des Wortes als Kommunikations-, als Erkenntnis- und als künstlerisches Gestaltungsmittel.

Daß sich noch 1930 der nahezu erblindete JAMES JOYCE - mitten in seiner Arbeit an seinem monumentalen Sprachexperiment "Finnegans Wake" - von SAMUEL BECKETT in Paris aus MAUTHNERs Werk vorlesen ließ, wie ELLMANN(16) berichtet, bezeugt dieses Weiterwirken und zugleich, daß HOFMANNSTHALs frühes Interesse an MAUTHNER in jenem größeren Zusammenhang zu sehen ist, den diese Beziehung andeutet. Wie es HOFMANNSTHAL im Chandos-Brief gelang, durch eine bis heute die Leser faszinierende Mimikry ein Paradox zugleich zu zeigen und aufzuheben, indem er eine Figur erfand, die nichts anderes zu sagen vorgibt, als daß ihr die Sprache abhanden gekommen sei, aber unter Benutzung einer Sprache von höchster Virtuosität, so gelang es fünfzig Jahre später SAMUEL BECKETT in "Fin de Partie" dem Sprachleerlauf und sechzig Jahre später PETER HANDKE in "Kaspar" dem entfremdeten Sprechzwang eine überzeugende theatralische Form zu geben. FRITZ MAUTHNERs Werk war ein frühes und wichtiges, von wenigen als solches erkanntes Signal einer Krisis des Sprachvertrauen, deren Ausgang noch heute nicht abzusehen ist.


Der Briefwechsel

Die Wiedergabe der Briefe ist originalgetreu. Die Nummern H1 bis H5 stammen von Hofmannsthal, die Nummern M1 bis M7 von Mauthner. Ergänzungen des Herausgebers stehen in eckigen Klammern.


[M1]

[Briefkopf:] Fritz Mauthner
Grunewald bei Berlin,
Wangenheimstr. 46
5. 6. 92

Verehrter Herr!

Ich fühle das Bedürfnis, Ihnen selbst zu schreiben, nachdem der Versuch durch das Bureau so schmählich verunglückt ist.

Von meinem einsamen Waldhause aus komm ich fast nie nach Berlin u. habe auch an Sie durch einen wackeren Unterredacteur unter meinem Namen schreiben lassen. Wie er den Auftrag ausgeführt hat, das sehe ich aus Ihrer Antwort.

Also: Er wäre mir sehr lieb gewesen, wenn wir von Ihnen einen richtigen Bericht über die Franzosen erhalten hätten. Hat das nicht sollen sein, so bitt ich um so mehr um die versprochene subjective Ausstellungs-Betrachtung.

Ihr ergebener
Fritz Mauthner


[M2]

Hochgeehrter Herr!
[Ende Oktober 1902]

In einer Stimmung, für welche ich keine Worte suchen will, möchte ich einige Zeilen an Sie richten. Eine Scheu, mich vor Ihnen lächerlich zu machen - wie man das wohl nennt -, kenne ich nicht.

Ich habe soeben Ihren "Brief" gelesen. Ich habe ihn so gelesen, als wäre er das erste dichterische Echo nach meiner "Kritik der Sprache". In diesem Glauben genoß ich eine ernste Freude, wie sie mir noch keine, noch so starke Lobpreisung meines Buches bereitet. Ich glaubte das Beste zu erleben, was ich geträumt hatte: Wirkung auf die Besten.

Sollte ich mich geirrt haben oder Sie mein Buch gar nicht kennen, so hätte ich noch lange nicht die Empfindung, Ihnen lächerlich erscheinen zu müssen. Ich würde mich dann etwas bescheidener der Übereinstimmung freuen und Sie fragen, ob ich Ihnen (binnen wenigen Wochen) den dritten, letzten Band meines Buches senden darf.

In vorzüglicher Hochachtung
Ihr ganz ergebener
Fritz Mauthner


[H1]

Venedig, Hotel Europe
3. XI. [1902]

Sehr geehrter Herr!

für Ihren sehr gütigen Brief, der mich lebhaft erfreut hat, bitte ich vor allem meinen aufrichtigen Dank entgegenzunehmen.

Was das wirkliche Verhältnis der von Ihnen berührten Dinge zu einander betriff, so ist es glaub ich so, daß es Ihnen hoffentlich einiges Vergnügen machen wird. Denn ich kenne sehr wohl Ihr Buch, d.h. dessen ersten Band: habe ihn vor 2 Jahren auf den Titel hin - bevor die Zeitungen ihren Lärm darüber anfingen - aus einem Schaufenster gekauft, und wie Sie denken können, sehr viel Freude daran gefunden. Meine Gedanken sind früh ähnliche Wege gegangen, vom Metaphorischen der Sprache manchmal mehr entzückt, manchmal mehr beängstigt. Es gibt einen sehr frühen lyrisch-dramatischen Versuch von mir, dessen Personen ein Dichter und seine Geliebte sind: er ist aber nur nebenbei, formal, Dichter, ist eigentlich Grammatiker und Lexicograph in päpstlichen Diensten. Sie fragt ihn, in der Nacht, im Bett, was denn  eigentlich  sein Beruf sei und da sagt er ihr beispielshalber das Personalpronomen auf und wird über den unendlichen Inhalt von  Ich - Du  wahnsinnig und erwürgt sie. Der Entwurf ist in meinen Notizen mit dem Schlagwort  Semele  bezeichnet; der Vorwitz, den Geliebten in seiner Gottähnlichkeit = donnernd und blitzend, schauen zu wollen bringt das Verderben. Auch in zwei kleinen älteren Arbeiten von mir, die Ihnen wohl nie zu Gesicht gekommen sind ("Der Thor und der Tod" und "Kaiser u. Hexe") findet sich verschiedenes sehr in dieser Richtung.

Ich bitte diese Ausführlichkeit zu verzeihen, vielmehr darin nur das Interesse für Ihre Zuschrift zu sehen.

Es besteht eben beides: Übereinstimmung und gewiß eine Verstärkung dieser Gedanken durch ihr Buch. Der merkwürdige "Monolog" von Novalis, gewöhnlich hinter den Fragmenten gedruckt, ist Ihnen doch gewiß auch bekannt? Vielleicht sogar citieren Sie ihn und das ist mir momentan entfallen.

Das Sonderbare ist, daß ich mir gar nicht bewußt war, in dem "Brief" in diese alten Gedankengänge hineingekommen zu sein - er ist von einem andern Standpunkt aus geschrieben - und erst durch ihre Zeilen darauf aufmerksam geworden bin.

Es wird mir eine große Ehre sein, den dritten Band Ihres Werkes aus Ihrer Hand zu empfangen.

Mit dem Ausdruck aufrichtiger Ergebenheit

Hofmannsthal


[M3]

Sehr geehrter Herr!
[November 1902]

Mit dem herzlichsten Dank für Ihren Brief sende ich Ihnen das Buch, welches mir die Post mit Ihrem Briefe gebracht hat.

Von den erwähnten Dichtungen kenne ich nur "der Thor und der Tod". Ich erinnere mich damals schon von solchen Tönen berührt worden zu sein. Meine Auszüge aus Novalis sind sehr zahlreich. Sie gehören zum Material für einen vierten Band, der wohl niemals erscheinen wird.

Am merkwürdigsten ist mir aber Ihre gütige Mitteilung über Ihr Semele-Fragment. Ich kannte es nicht und Sie kannten ebensowenig mein kleines Buch "#Aus dem Märchenbuch der Wahrheit". Und doch findet sich da (ich muß aus dem Gedächtnis zitieren, weil ich meine Bücher niemals besitze) unter dem Titel "Wachen im Herbstwald" die gleiche Phantasie, tödliche Feindschaft wegen des Gebrauchs von Ich und Du.

Als wir uns ein einziges Mal begegneten, war das leider, wenn ich mich so häßlich ausdrücken darf, unter der schützenden Hand eines Geschäftsmanns. Ich freue mich jetzt aufrichtig, daß ich meinen Brief an Sie nicht ängstlich zurückhielt. Denn diese Begegnung ist mir zu einer ernsten Freude geworden.

In besonderer Hochachtung
Ihr ganz ergebener
Fritz Mauthner


[H2]

Dienstag. [Mitte Januar 1905]

Verehrter Herr

es thut mir so leid: ich fuhr halb 8 zu meinem Verleger nach dem Grunewald und fand die Karte nachhauskommend, um Mitternacht. Nur freilich, viel hätte ich von dem Zusammenkommen nicht gehabt, hätte kaum mich freuen können, so müd, todmüd bin ich jeden Tag von diesen Proben. Ich schrieb an Landauer, und sagte, ich würde nachher versuchen, ihn zu sehen.

Ich bin, verehrter Herr, in wärmster Erinnerung an Ihre Freundlichkeit und an ein so vielfältiges Einander-begegnen.

Ihr aufrichtig ergebener
Hofmannstahl


[H3]

Rodaun, 1. II 1905

Verehrter Herr

Der Inhalt Ihres freundlichen Briefes war mir sehr schmerzlich. Ich muß, da Sie von alten Leiden sprechen, befürchten, daß Ihr Augenleiden Sie aufs neue angefallen hat. Es ist mir ein sehr trauriger Gedanke, daß die schönen, so absolut einsichtsvollen Zeilen, die Sie meiner Arbeit - ich fühle diese Arbeit und selbst die letzten Wochen merkwürdig weit hinter mir - gewidmet haben, der Pein und Mattigkeit abgerungen gewesen sein müssen. Ich wäre sehr glücklich, zu hören, daß das Leiden in erträglichen Grenzen geblieben ist, und Sie nicht gequält denken zu müssen.

Ich freue mich auf den heutigen Abend, da ich Beer-Hofmann wieder einmal in Ruhe sehen werde, - und seien Sie sicher, daß wir Ihrer als eines abwesenden Freundes gedenken werden.

Ihr ergebener
Hofmannsthal

P.S. Verzeihen Sie noch den elenden Kopf, den ich für meine eigenen Arbeiten habe. Die Verse von den "Harpyen" stehen im "Thor und Tod" geschrieben 1892. Ich schicke mit gleicher Post ein Exemplar und vermerke diesmal die Seite wo sie stehen.

Vielleicht grüßen Sie mir Dr. Monty Jacobs. Etwa liest er Ihnen, denke ich mir, diesen Brief vor.

P.S. P.S
Ich schlage eben die Stelle auf und sehe, daß dort nicht "wörtlich" von Worten die Rede ist, wenn auch wohl geistig. Immerhin hat mein Gedächtnis - von stupender Unverläßlichkeit gerade meinen eigenen Arbeiten gegenüber, die ich ein bißchen im Fieber schreibe und nachher en bloc und im Detail ganz lächerlich vergesse - hier etwas fälscht. Bitte nehmen Sie es nicht für eine geschickte Art, Ihnen meine Jugendarbeiten ins Haus zu schmuggeln.

H.


[M4]

Freiburg i.B. Mozartstr. 8
[10. 4. 1906]

Verehrter Herr!

Den allerherzlichsten Dank für die freundliche Sendung und Widmung Ihres Ödipus. Ich will mir die Freude nicht durch die Frage trüben, ob erst ein Wort von mir (an einen dritten) Sie an den Einsiedler in Freiburg erinnert hat.

Ihr Werk ist wohl ohne Frage das Stärkste, was das Drama dieser letzten Jahre gebracht hat. Daß ich trotz dieser bestimmten Empfindung in 2 Dingen nicht mitgehen kann, möchte ich Ihnen gerne sagen. Lachen Sie nur!: ich kann es nicht. Weil ich kein Recht dazu habe. Und vor einem Jahre noch hätte ich das Recht zu haben geglaubt, mich vor 100 000 Abonnenten einer sogenannten Zeitung auszusprechen.

Anstatt eines Urteils ein kleines Geschenk. Ein Wort von Grillparzer über Ihre Behandlung antiker Stoffe. Oder kennen Sie das Wort? Es steht in einem Gespräch zwischen Friedrich dem Großen und Lessing und wendet sich gegen Goethe's Iphigenie. "Ob solche Gesinnungen und Charaktere möglich sind, wenn nicht lange vor Anfang der Handlung der Herr Onkel seine eigenen Kinder gegessen hat."

Als bescheidene Gegengabe bitte ich meine kleine Sammlung Totengespräche freundlich aufzunehmen.

Ich bin mit der Drucklegung der II Auflage I Bandes meiner Sprachkritik über die erste Hälfte hinaus, aber so müde, als ob ich fertig wäre.

Bitte einen Gruß an Herrn und Frau Beer-Hofmann und einen Festgruß für Sie selbst.

Ihr
treulich ergebener
Fritz Mauthner


[H4]

Lueg 17 VIII. [1906]

Hier, als Gruß, eine schöne kluge Stelle aus Novalis, mit Bezug auf Ihr vorhandenes (dem Herrn Buber versprochened) Buch:

An schlechten und mittelmäßigen Schriftstellern ließe sich noch mancher schöne Kranz verdienen; man hat bisher fast lauter Schlechtes und Mittelmäßiges über dieselben und doch würde eine Philosophie des Schlechten, Mittelmäßigen und Gemeinen von der höchsten Wichtigkeit sein.

Schönen Dank für Ihren guten Brief. Ich bleibe wohl noch eine Weile hier, mehr kann und mag ich im Augenblick nicht sagen. Aufrichtig Ihr

Hofmannsthal


[H5]

Rodaun 22 XI [1906]

Verehrter Herr

ich lese die Einleitung die Sie zu den hinterlassenen Werken des W. Calé geschrieben, Ihre Zeilen berühren vieles und machen mich lebhaft an Sie denken.

Sie schrieben mir einmal, ob ich Ihnen den Ödipus aus eigenen Gedanken geschickt hätte oder erst auf die Mahnung eines andern. (Ich weiß übrigens nicht wer der andre sein sollte.) Doch heute nach vielen Monaten werden Sie mir umso mehr glauben, was doch wirklich einer Versicherung nicht bedürfen sollte - daß das für Sie bestimmte Buch einfach unter denen war, die ich überhaupt verschenkte, nicht unter einer ersten, noch unter einer zweiten Gruppe, sondern einfach unter denen, die ich an zwölf oder zwanzig in der Welt verstreute Menschen, deren Theilname mir kostbarer ist als die der sämmtlichen übrigen, schickte - und daß nur ein nicht der Rede werter Grund, eine mechanische Unordentlichkeit in der Versendung, Ihr Exemplar etwas zurückhielt, so wie einige andre auch.

Zu Ihrem Hauptwerk sehe ich mich von so verschiedenen Punkten des Denkens her zurückgewiesen, daß ich daran denke es in einer nächsten etwas freieren Zeit gänzlich durchzuarbeiten.

Sie zu sehen, habe ich wohl wenig Hoffnung? Bitte Sie aber herzlich, meiner lebhaften und herzlichen Theilname versichert zu bleiben, an der auch wohl die Veränderung Ihres Lebens nichts abschwächen kann.

Ihr ergebener
Hofmannsthal


[M5]

Freiburg, 26. XI. 06
Mozartstr. 8

Verehrter Herr!

Pater peccavi. Ich hätte diesen Gedanken nicht aussprechen, nicht haben dürfen, daß ein Mann wie Sie sich zu einem herzlichen Wort veranlassen läßt. Sie werden das vielleicht nicht verstehen können. Ich lebte 30 Jahre lang in Berlin als Journalist. Bilde mir ein, was Pflicht daran war, nach Fähigkeit ganz ordentlich getrieben zu haben. Trotzdem wuchs allmählich ein völlig pathologisches Gefühl, wenn ich glaubte von einem mir wirklich werten Menschen als Journalist taxiert zu werden. In vier Fällen, die mir jetzt einfallen (Heyse, Ibsen, Hauptmann und Sie), hatte ich Unrecht. Ich hatte etwas wehmütig einem Berliner gegenüber Ihren Namen genannt und kurz darauf kam Ihre Sendung. Pater peccavi.

Ich bin jetzt über ein Jahr hier und habe hoffentlich diese 30jährige Krankheit überwunden. Nicht den Schaden.

Und nun den herzlichsten Dank für Ihre Zeilen. Sollte ich im Laufe des nächsten Jahres nach Wien kommen, so überfalle ich Sie gewiß in Rodaun. Früher, binnen wenigen Tagen vielleicht, sende ich Ihnen ein kleines Spinozabüchlein.

Die einleitenden Worte zu Calé habe ich mir abgerungen, ein altes Versprechen zu halten, und war sehr unzufrieden. Nun es mir Ihren Gruß gebracht hat, bin ich fast zufrieden.

Bitte einen Gruß an Beer-Hofmann und Frau.

Ihr herzlich ergebener
Mauthner


[M6]

Freiburg i.B. 29. I. 07
Konradstr. 4.

Verehrtester.

Herzlichen Dank für die gütige Sendung des 1. Bandes Ihrer (wie Sie sagen) prosaischen Schriften. Mir war nur der Vortrag, der die Einleitung bildet, bisher unbekannt. Ich habe ihn mit persönlichem Genusse gelesen, mögen Sie nun "persönlich" auf sich selbst oder auf mich beziehen.

"Ein Brief" machte wieder einen sehr tiefen Eindruck auf mich; Sie wissen, daß mir auch da die persönliche Note nicht fehlt, wenn Sie sich freundlichst unseres ersten Briefwechsels erinnern.

Morgen oder übermorgen erhalten Sie als Gegengabe eine kleine Schrift von mir, die von Sprachwissenschaft ausgeht und eben auch Wissen und Leben zu verbinden sucht.

Hier lebt, seit 20 Jahren ans Bett gefesselt, eine Dichterin von starkem Talent und minimaler Produktion. Die Schwester des Ibsenbiographen Prof. Woerner. Sie schwört nicht höher als Hofmannsthal. Darf ich Ihnen einen (wie mir scheint) sehr guten Einakter dieses armen alten Mädchens, wenn er erst gedruckt vorliegt, übersenden? Sie hat mich schon vor Wochen sehr beweglich darum bitten lassen. Der Zustand ist so, daß ich [sie] trotz intimsten Verkehr mit ihrem Bruder im Laufe eines Jahres nur zweimal für Minuten sprechen durfte.

Mit ernsten Grüßen
Ihr ganz ergebener
Mauthner


[M7]

Freiburg i.B. 8. X.07

Lieber und verehrter Herr.

Ich möchte mich Ihnen gern in Erinnerung bringen, indem ich Ihnen hier eine neue Schrift überreiche. Ihr freundliches Interesse läßt mich hoffen, daß Sie auch diese Arbeit lesen werden, trotzdem die Sprache da weder als Erkenntnis- noch als Kunstwerkzeug untersucht wird.

Und um weniger egoistisch zu erscheinen, füge ich der Sendung das Drama eines andern Menschen hinzu. Damit steht es so: Verfasser ist die Schwester des Ibsenbiographen Woerner, der sich mir hier sehr herzlich angeschlossen hat. Die Dichterin seit zwanzig Jahren so krank, immer ans Bett gefesselt, so daß ich sie trotz intimem Verkehr mit dem Bruder in zwei Jahren nur zweimal flüchtig sprechen durfte. Ab und zu einmal ein schmerzloserer Tag, an dem sie arbeiten kann. Ich würde ihr eine Freude gönnen. Und weil sie Sie und Ihr Dichten überaus verehrt, so wäre es ihr eine unsägliche Freude; falls Sie über die mitgeteilte dramatische Dichtung ebenso günstig dächten wie ich. Ich weiß, daß Sie in diesem Fall der armen Dame diese Freude machen werden. Sonst hätte ich natürlich wegen der Belästigung nur um Entschuldigung zu bitten.

Ich melde dazu, daß ich seit zwei Jahren nicht in Wien war, also den Plan Sie und Herrn Baer Hofmann zu besuchen (die ich zu grüßen bitte) nicht ausgeführt habe.

Mit herzlichen und ganz
ergebenen Grüßen
Ihr Fritz Mauthner
LITERATUR - Briefwechsel Hofmannsthal - Mauthner, Hofmannsthalblätter 19-20, Hrsg. Martin Stern, Ffm 1978
    Anmerkungen:
  1. Diese Publikation wurde möglich durch die Freundlichkeit des leider im November 1978 viel zu früh verstorbenen Gelehrten und Sammlers Dr. Max Kreuzberger; er stellte mir die vier in seinem Besitz befindlichen Hofmannsthal-Briefe für den Abdruck zur Verfügung. Aber auch der Stiftung Volkswagenwerk, dem Freien Deutschen Hochstift und Herrn Dr. Rudolf Hirsch danke ich herzlich für die Erlaubnis, die sieben Mauthner-Briefe und den fünften Hofmannsthal-Brief, der im Nachlaß gefunden wurde, hier veröffentlichen zu dürfen.
  2. Es handelt sich um folgende Bände: "Sprache und Psychologie", Cotta 1901 (mit Anstreichungen); "Zur Grammatik und Logik", Cotta 1902 - also die Bände 1 und 3 des Werkes "Beiträge zu einer Kritik der Sprache"; ferner: "Totengespräche", Karl Schnabel Verlag Berlin 1906.
  3. Diesen Hinweis wie mehrere andere zur Datierung der Briefe verdanke ich Dr. Rudolf Hirsch.
  4. Vgl. Anm. 2. In Michael Hamburgers Bericht über "Hofmannsthals Bibliothek" (Euphorion 55, 1961, Seite 15-76) fehlt ein Hinweis auf Mauthners Werke.
  5. Der hier erstmals veröffentlichte Brief H1 wird es nun hoffentlich erlauben, die Diskussion der Prioritätsfrage abzuschließen. In seinem Bestreben, die Wirkung  seines  Autors Mauthner auf Zeit und Nachwelt nachzuweisen, ging Kühn entschieden zu weit, wenn er - ohne Kenntnis von Hofmannsthals Brief - vermutete, letzerer sei durch Mauthner überhaupt erst auf das Sprachproblem gestoßen worden, dieses lasse sich in Hofmannsthals Jugendwerk nicht nachweisen und die schöpferische Krise Hofmannsthals nach der Jahrhundertwende sei nicht eine Krise der Sprache, sondern der Stoffwahl gewesen. So widersprüchlich auch andere Zeugnisse Hofmannsthals hinsichtlich des Bekenntnisgehaltes seines "Chandos"-Textes sein mochten - etwa die bekannten zwei Versionen, die er am 9. Sept. 1902 und am 16. Jan. 1903 Andrian als Erklärung gab -, der hier mitgeteilte Brief an Mauthner ist völlig eindeutig und außerdem frei von jeglicher Eitelkeit. Es entsprach im tiefsten Hofmannsthals Schaffensweise, daß er Pläne und Stoffe meist viel intuitiver ergriff, als es die spätere, kritische Selbstreflexion nahelegt. Nur wenn man das weiß, wird auch einsichtig, daß der nun auf Grund von Hofmannsthals eigenen Aussagen rekonstruierbare Entstehungsweg des Chandos-Briefes beides zum Anlaß haben konnte, sowohl den unbewußten Anstoß durch Mauthners Werk, als auch das scheinbar spontane Verlangen, "etwas" im "Sprechton" der Essays des englischen 17. Jahrhunderts zu "machen", wie Hofmannsthal an Andrian schrieb. Dabei war eigenstes Erlebnis der Grund für beides: für die produktive Aufnahme des Mauthnerschen Buches, wie auch für den Plan, "eine" Sprachkrise episch-fiktional darzustellen. Wie tief dieses Erlebnis (der Sprachkrisis) bei Hofmannsthal ins Frühwerk zurückreichte, hat Karl Pestalozzi überzeugend dargelegt; wie sehr der junge Dichter Literat war, das heißt, bei fast jedem Ausdruck von Eigenem sich einer fremden Hülle, eines geborgten Stils und Kostüms bediente, hat Manfred Hoppe ebenso einleuchtend gezeigt.
  6. Vgl. Hofmannsthal, Eine Monographie, Prosa I, 1950, Seite 265: "Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Ämter, die Lügen der einzelnen, die Lügen der Wissenschaften, alles das sitzt wie Myriaden tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Wir sind (durch einen bedenkenlosen Gebrauch der Sprache) im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das #Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. Es ist beinahe niemand mehr imstande, sich Rechenschaft zu geben, was er versteht und was er nicht versteht, zu sagen, was er spürt und was er nicht spürt." - Auf diesem Zusammenhang und die für Hofmannsthal und Mauthner gemeinsamen Anreger solcher Kritik, die Philosophie Nietzsches und Ernst Machs, hat schon Rudolf Hirsch hingewiesen in seinem Nachwort zur Faksimile-Ausgabe der Handschrift des Chandos-Briefes (Darmstadt 1975)
  7. Diese und sämtliche weiteren Notizen aus Hofmannsthals Nachlaß verdanke ich der Freundlichkeit von Dr. Rudolf Hirsch, sowie der Hilfsbereitschaft von Frau Ellen Ritter, Frankfurt.
  8. Vgl. dazu die reichhaltige Darstellung von Rudolf Holzer: Villa Wertheimstein. Haus der Genien und Dämonen. Mit unveröffentlichten Gedichten, Briefen und Tagebuch-Aufzeichnungen, 12 Bildbeigaben und 2 Schriftproben, Wien 1960 (Österreich-Reihe Bd. 118-120)
  9. Walter Calé, Nachgelassene Schriften. Mit einem Vorwort von Fritz Mauthner. Hg. u. eingel. von Arthur Brückmann, Berlin 1907
  10. Gustav Landauer, Walter Calé (1907); jetzt in: G. L., Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk, Köln 1968, Seite 176-183
  11. Spinoza. Berliin und Leipzig 1906. - Eine stark erweiterte und bearbeitete Neuauflage erschien 1921 in Dresden
  12. Die Sprache. Frankfurt 1907 (= Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien 9, hrsg. von Martin Buber)
  13. Vgl. dazu Manfred Pape, Versuch einer geschichtlichen Darstellung. Hofmannsthals letzter Romanplan "Philipp II und Don Juan d' Austria" (mit unveröffentlichten Notizen); in: Hofmannsthal-Blätter 17/18, 1977, Seite 274-284
  14. Vgl. Kühn a.a.O. Seite 229 und Seite 243
  15. Vgl. Kühn a.a.O. Seite 241
  16. Vgl. Richard Ellmann, James Joyce, New York 1959, Seie 661