p-4Ernst MeumannJoseph ChurchClara u. William Stern    
 
LEW SEMJONOWITSCH WYGOTSKI
Die innere Sprache
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Forschungsprobleme und -methoden
Ursprung des Denkens
Experimente zur Begriffsentwicklung
Gedanke und Wort
Die kindliche Begriffsentwicklung
"Derselbe Gedanke kann in verschiedenen Sätzen ausgedrückt werden, ebenso wie der gleiche Satz zum Ausdruck verschiedener Gedanken dienen kann."

Man kann, wie DOSTOJEWSKI sagt, alle Gedanken, Empfindungen und sogar ganze Überlegungen durch ein einziges Wort zum Ausdruck bringen. Das ist dann möglich, wenn die Intonation den inneren psychologischen Kontakt des Sprechenden widergibt, durch den der Sinn des betreffenden Wortes verständlich wird.

In der von DOSTOJEWSKI belauschten Unterhaltung besteht dieser Kontakt einmal in der verächtlichen Ablehnung, das andere Mal im Zweifel, das dritte Mal in der Empörung usw. Offenbar kann die Sprache immer dann, wenn der innere Gehalt des Gedankens in der Intonation wiederzugeben ist, die krasseste Tendenz zur Verkürzung zeigen und ein ganzes Gespräch kann mit einem einzigen Wort bestritten werden.

Beide Momente, die die Verkürzung der mündlichen Sprache erleichtern, - die Kenntnis des Subjekts und die unmittelbare Wiedergabe eines Gedankens durch die Intonation -, sind durch die geschriebene Sprache völlig ausgeschaltet. Darum sind wir auch in der geschriebenen Sprache gezwungen, zum Ausdruck desselben Gedankens viel mehr Wörter zu verwenden als in der mündlichen. Die geschriebene Sprache ist somit die wortreichste, exakteste und entwickeltste Form der Sprache. Man muß darin mit Worten wiedergeben, was in der mündlichen Sprache mit Hilfe der Intonation und der unmittelbaren Wahrnehmung der Situation wiedergegeben wird.

Der Dialog ist eine aus Stichwörtern bestehende Sprache, eine Reaktionskette. Die geschriebene Sprache ist dagegen von Anfang an mit Bewußtheit und Absichtlichkeit verbunden. Darum enthält der Dialog immer die Möglichkeit in sich, etwas unausgesprochen oder offenzulassen, und erfordert nicht, alle Wörter zu aktivieren, die eingesetzt werden müßten, um den gleichen Gedanken unter den Bedingungen der monologischen Sprache auszudrücken. Im Gegensatz zur Einfachheit der Komposition des Dialogs ist der Monolog von einer gewissen Kompliziertheit, die die sprachlichen Fakten als solche bewußt werden läßt, so daß die Aufmerksamkeit leichter darauf konzentriert wird.

Die geschriebene Sprache ist in diesem Fall der mündlichen entgegengesetzt. In der geschriebenen Sprache fehlt die für beide Gesprächspartner klare Situation und jede Möglichkeit einer ausdrucksvollen Intonation, Mimik und Gebärde. Folglich ist hier von vornherein die Möglichkeit aller Verkürzungen ausgeschlossen. Hier erfolgt das Verstehen auf Kosten der Wörter und ihrer Verbindungen.

Die geschriebene Sprache ist eine komplizierte Tätigkeit. Darauf beruht auch die Anfertigung eines Konzepts. Der Weg vom "Unreinen" zur Reinschrift ist eben der Weg einer komplizierten Tätigkeit; aber selbst ohne Konzept wird stärker überlegt; wir sprechen anfangs sehr oft vor uns hin und schreiben erst dann; das ist ein gedankliches Konzept. Dieses gedankliche Konzept der geschriebenen Sprache ist eben, wie wir zu zeigen versuchten, die innere Sprache. Die Rolle des inneren Konzepts spielt diese Sprache nicht nur beim Schreiben, sondern auch in der mündlichen Sprache. Daher müßten wir jetzt die mündliche und die geschriebene Sprache mit der inneren Sprache hinsichtlich der Tendenz zur Verkürzung vergleichen.

In unserer inneren Sprache sprechen wir, wie Lewin im Gespräch mit seiner Frau, unseren Gedanken immer frei aus, ohne uns die Mühe zu machen, ihn exakt zu formulieren. Die psychische Nähe des Gesprächspartners schafft, wie eben gezeigt, bei den Sprechenden eine Gemeinsamkeit der Auffassung, die eine Verständigung durch Andeutungen, den elliptischen Charakter der Sprache ermöglicht. Aber diese Gemeinsamkeit der Auffassung bei der Kommunikation mit sich selbst in der inneren Sprache ist vollkommen und absolut; daher ist die lakonische, klare und fast wortlose Mitteilung der kompliziertesten Gedanken, die TOLSTOI für eine seltene Ausnahme in der mündlichen Sprache hält, in der inneren Sprache eine Regel. Diese Mitteilung ist nur möglich, wenn zwischen den Sprechenden eine Intimität besteht. In der inneren Sprache brauchen wir nie das zu nennen, wovon die Rede ist, d.h. das Subjekt. Wir beschränken uns nur auf das Prädikat.

Die Analyse der analogen Tendenz in der mündlichen Sprache zeigte erstens, daß diese Tendenz zum Prädikativen dann entsteht, wenn das Subjekt der Aussage den Gesprächspartnern von vornherein bekannt ist, und zweitens, wenn eine bestimmte Gemeinsamkeit der Apperzeption bei den Sprechenden vorhanden ist. Beides ist aber bis zum Extrem getrieben stets bei der inneren Sprache der Fall.

Wir verstehen, warum in der inneren Sprache die absolute Herrschaft des rein Prädikativen zu beobachten sein muß. Wie wir gesehen haben, führen diese Umstände in der mündlichen Sprache zu einem Minimum an syntaktischer Gliederung, überhaupt zu einer speziellen syntaktischen Struktur. Aber was sich in der mündlichen Sprache als mehr oder weniger vage Tendenz bemerkbar macht, tritt in der inneren Sprache als maximale syntaktische Vereinfachung, als absolute Verdichtung des Gedankens, als völlig neue syntaktische Struktur in Erscheinung. Diese Struktur bedeutet streng genommen die völlige Aufhebung der Syntax der mündlichen Sprache und den rein prädikativen Satzbau.

Wir können jetzt zu der Definition der inneren Sprache und ihrer Gegenüberstellung mit der äußeren zurückkehren. Wir sagten, daß die innere Sprache eine besondere Funktion darstellt und in gewisser Hinsicht der äußeren entgegengesetzt ist. Wir stimmen nicht darin überein, daß die innere Sprache der äußeren als ihre innere Seite vorausgeht. Während die äußere Sprache der Prozeß der Umwandlung des Denkens in Worte, die "Materialisierung" und Objektvierung der Gedanken ist, beobachten wir hier einen entgegengesetzten Prozeß, der gewissermaßen von außen nach innen verläuft, eine "Verdampfung" der Sprache im Denken.

Doch die Sprache verschwindet in ihrer inneren Form durchaus nicht. Das Bewußtsein "verdampft" nicht und löst sich nicht in reinen Geist auf. Die innere Sprache bleibt dennoch eine Sprache, d.h. ein mit dem Wort verbundenes Denken. Doch während sich der Gedanke in der äußeren Sprache im Wort verkörpert, stirbt das Wort in der inneren Sprache und gebiert dabei den Gedanken. Die innere Sprache ist in beträchtlichem Maße ein Denken mit reinen Bedeutungen. Sie ist dynamisch, inkonstant und fluktuierend und erscheint zwischen den geformteren und stabileren extremen Polen des sprachlichen Denkens - zwischen dem Wort und dem Gedanken. Daher kann ihre wirkliche Bedeutung und Stellung erst dann geklärt werden, wenn wir noch einen Schritt weiter nach innen tun.

Unsere erste Aufgabe besteht darin, diese Ebene abzugrenzen. Jeder Gedanke strebt danach, eine Sache mit einer anderen zu verbinden, er entwickelt sich und stellt eine Beziehung zwischen einem Sachverhalt und einem anderen her, mit einem Wort, er übt eine Funktion aus, leistet eine Arbeit, löst eine Aufgabe. Dieser Ablauf des Gedankens fällt nicht direkt mit der Entwicklung der Sprache zusammen. Beide Prozesse lassen eine Einheit, aber keine Identität erkennen. Sie sind durch komplizierte Übergänge und Umwandlungen miteinander verbunden, decken sich aber nicht.

Der lebendige Satz hat immer seinen Untertext mit einem dahinter verborgenen Gedanken. Mit den Beispielen, in denen wir zeigten, daß das psychologische Subjekt und Prädikat nicht mit dem grammatischen zusammenfällt, haben wir unsere Analyse abgebrochen und nicht zu Ende geführt. Derselbe Gedanke kann in verschiedenen Sätzen ausgedrückt werden, ebenso wie der gleiche Satz zum Ausdruck verschiedener Gedanken dienen kann.

Diese Nichtübereinstimmung der psychologischen und grammatischen Struktur des Satzes wird in erster Linie davon bestimmt, welcher Gedanke in diesem Satz ausgedrückt wird. Hinter dem Satz "Die Uhr ist heruntergefallen", der auf die Frage folgt: "Warum steht die Uhr?", könnte der Gedanke stehen: "Ich bin nicht schuld, daß sie entzwei ist, sie ist heruntergefallen." Aber der gleiche Gedanke könnte auch mit anderen Sätzen zum Ausdruck gebracht werden: "Ich pflege keine fremden Sachen anzurühren, ich habe hier Staub gewischt." Wenn der Sinn in einer Rechtfertigung besteht, kann er in einem dieser Sätze ausgedrückt werden. In diesem Fall werden die in ihrer Bedeutung verschiedenartigsten Sätze den gleichen Sinn haben.

Der Gedanke fällt also nicht unmittelbar mit dem sprachlichen Ausdruck zusammen. Der Sinn besteht - ebenso wie die Sprache - nicht aus einzelnen Wörtern. Wenn ich den Gedanken wiedergeben will, daß ich heute gesehen habe, wie ein Junge barfuß in einer blauen Bluse die Straße entlanglief, sehe ich nicht einzeln den Jungen, einzeln die Bluse, einzeln, daß sie blau ist, einzeln, daß der Junge keine Schuhe anhat, einzeln, daß er läuft. Ich denke das alles zusammen, aber ich zergliedere es in der Sprache in einzelne Wörter. Der Sinn stellt immer etwas Ganzes, etwas in seiner Ausdehnung und seinem Umfang Größeres dar, als ein einzelnes Wort.

Ein Redner entwickelt häufig im Verlauf mehrerer Minuten denselben Gedanken. Er ist als Ganzes vorhanden und entsteht durchaus nicht allmählich, in einzelnen Einheiten, wie seine Rede.  Was im Denken simultan enthalten ist, entfaltet sich in der Sprache sukzessiv.  Den Gedanken könnte man mit einer hängenden Wolke vergleichen, die sich durch einen Regen von Wörtern entleert. Darum ist der Übergang vom Gedanken zur Sprache ein recht verwickelter Vorgang der Zergliederung des Gedankens und seiner Neuschaffung in Wörtern.

Weil der Gedanke weder mit dem Wort noch mit den Bedeutungen, in denen er ausgedrückt ist, zusammenfällt, geht der Weg vom Gedanken zum Wort über die Bedeutung. In unserer Sprache gibt es immer einen Hintergedanken, einen verborgenen Untertext. Da ein direkter Übergang vom Gedanken zum Wort unmöglich ist, sondern immer einen komplizierten Weg durchläuft, entstehen Fragen über die Unvollkommenheit des Wortes und Lamentationen darüber, daß ein Gedanke nicht auszudrücken sei:
"Wie soll das Herz sich äußern,
Wie ein anderer dich versteh'n ..."
oder
"Oh, könnte man doch ohne Wort aus tiefstem Herzen sprechen!"
Der Gedanke wird nicht nur äußerlich durch Zeichen vermittelt, sondern auch innerlich durch Bedeutungen. Die unmittelbare Kommunikation zwischen einem Bewußtsein und einem anderen ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch unmöglich. Sie kann nur auf einem indirekten, vermittelten Weg, in der inneren Vermittlung des Gedankens erst durch Bedeutungen und dann durch Wörter erfolgen. Daher ist der Gedanke niemals gleich der direkten Bedeutung der Wörter. Die Bedeutung vermittelt den Gedanken auf seinem Weg zum verbalen Ausdruck, d.h. der Weg vom Gedanken zum Wort ist ein indirekter, innerlich vermittelter.

Uns bleibt noch ein letzter Schritt in unserer Analyse der inneren Ebenen des sprachlichen Denkens zu tun. Der Gedanke ist auch noch nicht die letzte Instanz in diesem ganzen Prozeß. Er entsteht selbst nicht aus einem anderen Gedanken, sondern aus dem motivierenden Bereich unseres Bewußtseins, der unsere Triebe und Bedürfnisse, unsere Interessen und Impulse, unsere Affekte und Emotionen umfaßt.

Hinter dem Gedanken stehen affektive und volitionale (umherschwirrende) Tendenzen. Nur sie können auf das letzte "Warum" in der Analyse des Denkens eine Antwort geben. Wenn wir den Gedanken mit einer hängenden Regenwolke verglichen haben, die sich in einem Regen von Wörtern ergießt, dann müßten wir die Motivierung des Gedankens, um im Bilde zu bleiben, dem Wind gleichsetzen, der die Wolken in Bewegung setzt. Einen fremden Gedanken können wir nur dann vollkommen verstehen, wenn wir seinen affektiven Hintergrund aufdecken.

Wenn man das, was ein anderer äußert, versteht, beruht dies nicht nur auf den Worten allein, sondern auch auf den Gedanken des Gesprächspartners. Aber auch das Verstehen der Gedanken wäre, ohne das Denkmotiv zu begreifen, unvollkommen. Bei der Analyse einer Äußerung stoßen wir dann bis zum Kern vor, wenn wir die letzte und verborgenste Ebene des sprachlichen Denkens aufdecken: seine Motivation.

Damit endet unsere Analyse. Versuchen wir, zu überschauen, wozu sie uns im Endergebnis geführt hat. Das sprachliche Denken ist ein kompliziertes dynamisches Ganzes, in dem sich die Beziehungen zwischen dem Gedanken und dem Wort als Bewegung innerhalb einer ganzen Reihe innerer Ebenen, als Übergang von einer Ebene zur anderen zu erkennen gab. Wir führten unsere Analyse von der äußersten zu innersten Ebene. Im lebendigen sprachlichen Denken geht die Bewegung den umgekehrten Weg - vom Motiv zur Gestaltung des Gedankens, zu seiner Vermittlung im inneren Wort, in den Bedeutungen der äußeren Wörter und schließlich in den Wörtern.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß sich in Wirklichkeit nur dieser Weg vom Gedanken zum Wort realisieren läßt. Im Gegenteil sind die verschiedensten, beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse kaum zu überschauenden direkten und umgekehrten Bewegungen möglich. Wir wissen auch ganz allgemein, daß eine Bewegung möglich ist, die an einem Punkt dieses Weges in dieser oder jener Richtung abbricht; vom Motiv über den Gedanken; von der inneren Sprache zur äußeren usw.

Doch es war nicht unsere Aufgabe, diese verschiedenen realen Bewegungen zu untersuchen. Uns interessierte hier nur die Beziehung zwischen dem Gedanken und dem Wort als dynamischer Prozess, als Weg vom Gedanken zum Wort, als Vollendung und Verkörperung des Gedankens im Wort.

Wir sind in unserer Untersuchung einen etwas ungewöhnlichen Weg gegangen. Wir haben versucht, die bisher genügend erforschte Wortbedeutung zu analysieren. Die innere und Sinnseite der Sprache blieb bis in die jüngste Zeit für die Psychologie ein unbekanntes Gebiet. Man untersuchte vorwiegend die äußere Seite der Sprache. Daher wurden die Beziehungen zwischen dem Gedanken und dem Wort trotz verschiedenartiger Deutungen als konstante, ein für allemal feststehende Beziehungen der Dinge aufgefaßt, und nicht als innere, dynamische und bewegliche Beziehungen von Prozessen.

Ein Hauptergebnis ist daher, daß die Prozesse, die als unbeweglich und gleichförmig miteinander verbunden vermutet wurden, tatsächlich beweglich verbunden sind. Unser Bestreben, die äußere und die Sinnseite der Sprache, das Wort und den Gedanken, gegeneinander abzugrenzen, zielt darauf ab, die Einheit, die das sprachliche Denken in Wirklichkeit darstellt, in einem subtilen Zusammenhang darzustellen. Der komplizierte Aufbau dieser Einheit, die verwickelten beweglichen Zusammenhänge und Übergänge zwischen den einzelnen Ebenen des sprachlichen Denkens entstehen nur in der Entwicklung. Die Trennung der Bedeutung vom Laut, des Wortes vom Ding, des Gedankens vom Wort sind notwendige Stufen in der Entwicklungsgeschichte der Begriffe.

Wir hatten nicht die Absicht, die ganze Kompliziertheit der Struktur und Dynamik des sprachlichen Denkens zu erschöpfen. Wir wollten lediglich eine erste Vorstellung von dieser dynamischen Struktur vermitteln, und zwar auf der Basis experimentell erarbeiteter Tatsachen, ihrer theoretischen Analyse und Verallgemeinerung.

Die Assoziationspsychologie stellt sich die Beziehung zwischen dem Gedanken und dem Wort als äußere Verbindung zweier Erscheinungen vor, die sich durch Wiederholung bildet und im Prinzip der beim paarweisen Auswendiglernen zwischen zwei sinnlosen Silben entstehenden assoziativen Verbindungen völlig entspricht. Die Strukturpsychologie ersetzte diese Verbindung durch einen strukturellen Zusammenhang zwischen dem Gedanken und dem Wort, ließ aber das Postulat vom unspezifischen Charakter dieses Zusammenhangs bestehen, indem sie ihn in eine Reihe anderer struktureller Verbindungen stellt, die zwischen zwei Dingen entstehen, z.B. zwischen einem Stock und einer Banane bei Schimpansenversuchen.

Die Theorien, die dieses Problem anders zu lösen versuchten, gruppierten sich um zwei entgegengesetzte Anschauungen. Den einen Pol bildet die behavioristische Auffassung über Denken und Sprache, die ihren Ausdruck in der Formel gefunden hat: der Gedanke ist Sprache minus Laut. Den anderen Pol bildet die von der Würzburger Schule und BERGSON entwickelte Auffassung von der völligen Unabhängigkeit des Gedankens vom Wort, von der Verzerrung, die das Wort in Gedanken trägt. Daraus entstand das Bestreben, das Bewußtsein von der Wirklichkeit zu trennen und, um mit BERGSON zu sprechen, nachdem der Rahmen der Sprache gesprengt ist, unsere Begriffe in ihrem natürlichen Zustand - frei von der Macht des Raumes - zu erfassen.

Diese Auffassungen haben eine Gemeinsamkeit: einen prinzipiellen Antihistorismus. Sie schwanken alle zwischen den Polen des reinen Naturalismus und des reinen Spiritualismus und betrachten das Denken und die Sprache außerhalb ihrer Geschichte.

Doch nur eine historische Psychologie,  nur eine historische Theorie der inneren Sprache kann uns zum richtigen Verständnis dieses komplizierten Problems führen. Wir sind in unserer Untersuchung gerade diesen Weg gegangen. Wir haben gesehen, daß die Beziehung zwischen Gedanke und Wort ein lebendiger Prozeß der Geburt des Gedankens im Wort ist. Das des Gedankens beraubte Wort ist ein totes Wort. Wie der Dichter sagt:
So schlecht
Wie Bienen im leeren Korb
Riechen tote Wörter.
Aber auch der nicht im Wort verkörperte Gedanke bleibt ein stygischer Schatten, "Schall und Rauch" wie ein anderer Dichter sagt. HEGEL betrachtete das Wort als ein vom Gedanken belebtes Sein. Dieses Sein ist für unsere Gedanken absolut notwendig.

Die Beziehungen zwischen dem Gedanken und dem Wort sind nicht ursprünglich, ein für allemal gegeben. Sie entstehen in der Entwicklung und entwickeln sich selbst. "Am Anfang war das Wort." Auf diese Bibelworte antwortete GOETHE durch den Mund des Faust: "Am Anfang war die Tat" um damit das Wort zu entwerten.

Aber, bemerkt GUZMAN, selbst wenn man mit GOETHE das gesprochene Wort nicht allzuhoch einschätzt, kann man es doch mit einer anderen Betonung lesen:  Am Anfang  war die Tat. Er will damit sagen, daß im Wort die höchste Entwicklungsstufe des Menschen zum Ausdruck kommt. Natürlich hat er damit recht, denn das Wort war nicht am Anfang. Am Anfang war die Tat. Das Wort steht eher am Ende als am Beginn der Entwicklung und krönt das Werk.

Wir müssen noch mit einigen Worten die Perspektive andeuten, die sich aus unserer Arbeit ergeben. Unsere Untersuchung führt uns dicht an ein noch umfassenderes und tiefgehendes Problem als das des Denkens heran, nämlich an das Problem des Bewußtseins. Wir haben versucht, die Beziehung des Wortes zum Gegenstand, zur Wirklichkeit und den dialektischen Übergang von der Empfindung zum Denken experimentell zu untersuchen und zu zeigen, daß die Wirklichkeit im Denken anders widergespiegelt wird als in der Empfindung; daß das grundlegende Unterscheidungsmerkmal des Wortes die verallgemeinerte Widerspiegelung der Wirklichkeit ist.

Damit berührten wir eine Seite in der Natur des Wortes, die nur im Zusammenhang mit dem allgemeineren Problem, des Wortes und des Bewußtseins untersucht werden kann. Wenn das Empfinden und Denken verschiedene Verfahren der Widerspiegelung sind, dann stellen sie auch verschiedene Bewußtseinstypen dar. Daher  eignen sich das Denken und die Sprache als Schlüssel zum Verständnis der Natur des menschlichen Bewußtseins.  Wenn die Sprache ebenso alt ist wie das Bewußtsein, wenn die Sprache das für die anderen Menschen und folglich auch für mich selbst existierende praktische Bewußtsein ist, wenn der Fluch der Materie, von Anfang an auf dem reinen Bewußtsein lastet, dann ist offensichtlich, daß nicht der Gedanke allein, sondern das ganze Bewußtsein in seiner Entwicklung mit der Entwicklung des Wortes im Zusammenhang steht.

Die Untersuchungen zeigen immer wieder, daß das Wort im Bewußtsein als Ganzes und nicht in seinen einzelnen Teilen eine wichtige Rolle spielt. Das Wort ist im Bewußtsein - wie FEUERBACH sagt - für einen einzelnen Menschen unmöglich und nur für zwei möglich. Es ist der unmittelbare Ausdruck der historischen Natur des menschlichen Bewußtseins.

Das Bewußtsein spiegelt sich im Wort ab, wie die Sonne in einem Wassertropfen. Das Wort verhält sich zum Bewußtsein wie die kleine Welt zur großen, wie die lebende Zelle zum Organismus, wie das Atom zum Kosmos. Das sinnvolle Wort ist der Mikrokosmos des menschlichen Bewußtseins.
LITERATUR - Lew S. Wygotski, Denken und Sprechen, Berlin 1906
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